Vergessen.

»Ich bin gekommen, weil ich bei quasi allem, was ich tue, an dich erinnert werde, weil jeder Gedanke an dich noch immer so schmerzt wie kurz danach. Ich könnte dich nicht einmal hassen, denn das würde bedeuten, dass ich diesen Sommer, den wir gemeinsam erlebt haben, vergessen müsste.«
Seine Stimme klang kratzig, als hätte er seit Stunden nichts getrunken. Dabei hatte er einen Moment davor kurz an seinem Tee genippt.

Er wollte nicht vergessen. Und gleichzeitig hatte er den Wunsch, eines Tages aufzuwachen und sich an nichts mehr zu erinnern, sie aus seiner persönlichen Geschichtsschreibung auszulöschen. Ein weißer Fleck auf der Landkarte in seinem Kopf. Aber das konnte nicht die Lösung sein. War es die Lösung gewesen, hierher zu kommen und ihr das alles zu erzählen?

Ina strich sich über die Arme. Hatte sie eine Gänsehaut? Sie sah ihn nicht an, während sie sprach, und ihre Haare verdeckten seine Sicht auf ihre Augen.

»Was aber willst du, dass ich dir sage? Was soll ich bitteschön tun? Wenn ich mich nach dir sehnen würde, hätte ich dir das gesagt, aber eigentlich war ich froh darüber, dass du aus meinem Leben verschwunden warst. Du warst weit weg, wie ein böser Alptraum am nächsten Tag, und das fühlte sich…«
Sie stockte einen Moment, strich sich wieder mit den Händen über die verschränkten Arme, holte Luft, ehe sie weiterfuhr: »Das fühlte sich richtig an.«

»Wieso?«
Die Frage kam aus ihm herausgeschossen, ohne dass er es wollte, scharf und mit naiver Wut und Unglauben.
Aber hatte er nicht bis vor letzter Nacht das gleiche gedacht und gefühlt? War er es nicht gewesen, der für sich entschieden hatte, keinen Kontakt mehr mit ihr zu haben?

Ina sah ihn verwundert an. Sie hatte sich wohl keinen so scharfen Ton erwartet. Die Anklage, die in seiner Stimme gelegen hatte, traf sie. Dann blickte sie wieder auf ihre Füße, weiter ihre Arme verschränkt, langsam mit ihren Zehen spielend.

cc by Meredith Greenwood

»Wahrscheinlich, weil ich nicht wollte, dass es weh tat, wenn ich an den Sommer dachte. Vielleicht wollte ich auch überhaupt nicht mehr daran denken, dass du je existiert hast, dass wir Zeit miteinander verbracht hatten, um keinen Schmerz zu spüren. Manchmal scheint es doch das Beste zu sein, alles zu vergessen.«

Vor unendlich langer Zeit hatte es eine Ina gegeben, die gesagt hatte, dass man nichts vergessen dürfe, auch nicht die schlechten Erfahrungen. Das war die Ina gewesen, in die er sich damals verliebt hatte. Eine Ina, die er noch nicht verletzt hatte.

Inas Freundin hatte sich bisher still verhalten, das Gespräch der beiden beobachtet und von Zeit zu Zeit geräuschlos einen Schluck Tee getrunken, vor allem während den Pausen, die dem ganzen etwas quälendes verliehen, als würde jeder den anderen mit einem Moment der Stille foltern wollen.
Doch jetzt sagte auch sie etwas, mit ruhiger, fast schon heiserer Stimme:
»Vergessen ist schlecht. Alte Menschen vergessen Teile ihres Lebens. Ihnen haftet eine Traurigkeit an, eine Melancholie des Nicht-Vergessen-Wollens. Auch wenn Erinnern Schmerz bedeutet, so ist es besser, als überhaupt nichts mehr zu wissen. Das, was wir erlebt haben, wird zu einem Teil von uns, und wenn wir es mit einem Menschen zusammen erlebt haben, wird dieser Mensch somit auch ein Teil von uns. Wie die Splitter eines Hologramms immer das ganze Bild enthalten, so enthält die Erinnerung immer ein Bild, eine Momentaufnahme dieses Menschen.«

Sie errötete leicht, weil Ina und er auf sie starrten und sie fragend ansahen. Sie wich den Blicken peinlich berührt aus und starrte weiter, wie beim Reden schon, aus dem Fenster, wo sich ein weißer Flaum vom Schneeregen auf die Welt legte, um dann wieder so schnell zu verschwinden, wie er gekommen war.

(Photo cc by Meredith Greenwood)

11 Kommentare “Vergessen.

  1. Gefällt mir inhaltlich auch sehr gut. (Detail am Rande, nicht dazu gedacht, den Autor zu verstimmen: Was die Form betrifft, vermisse ich allerdings ein Bild.)

  2. Mir hat auch ein Bild gefehlt, aber heute morgen war Flickr schlicht und einfach offline. Und leider sind die immer noch die besten, wenn es darum geht, cc-lizenziertes Bildmaterial zu finden.
    Ansonsten danke euch beiden. :)

  3. déck schéin :)
    An den Verglach mam Hologramm; di Parallel vun
    eigentlech Saach – Hologramm dervun – Splitter vum Hologramm
    zu
    Mensch – Erenerung vun em – Bild
    … einfach nemen herrlech!
    woah, an wann ech dat gesin fiillen ech mech sou happy dass ech dech konnt zum Ufank inspiréiren :) *freedeg op an of hops*

  4. Ob man wohl in zwischenmenschlichen Verstrickungen tatsächlich zu dritt zusammensitzt und einander große Sätze und ewige Wahrheiten sagt? Denken tut man sie in solchen Situationen schon, immerzu. Und sagt dann oft nur: “Öhm… ganz schön kalt draußen, was? Ja… also… dann mach ich nochmal Tee…”

    Doch. Manchmal sagt man das auch. Und der Vergleich mit den Hologrammsplittern ist viel zu schön, um ihn nicht allen zu erzählen.

  5. Mein Vorredner hat wohl Recht…dermassen ausgearbeitete Gedankengänge, in diesem Masse präzise und treffend, hört man nur selten in ähnlichen, realen Situationen. Aber gerade das verleiht dieser Geschichte diesen surrealen, romantischen Charme. Jeder schafft es, das was gerade in ihm vorgeht zu erkennen und eloquent in Worte zu fassen. Und obwohl man villeicht nicht das hört was man sich erwartet, so verleiht diese absolute Klarheit und Offenheit dem Ganzen doch eine gewisse Leichtigkeit, ein Gefühl der Freiheit, im Kontrast zu der üblichen Bedrücktheit und Unsicherheit in solchen Situationen. Solange der Geist frei und offen ist, ist nichts jemals verloren. Aber das ist nur meine Meinung ;).

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