Dies ist der elfte Teil einer Geschichte um ein Mädchen mit dem Namen Ina, ihren Exfreund und ihre Freundin.
1. Teil: Hoffnung. 2. Teil: Entmut. 3. Teil: Überwindung. 4. Teil: Türschwelle 5. Teil: Ina. 6. Teil: Vergessen. 7. Teil: Mullbinde. 8. Teil: Entscheidungsfindung 9. Teil: Dachboden. 10. Teil: Cercidiphyllum japonicum
Die plötzliche Wärme der Küche stach in seinen Fingerspitzen.
Ina hatte ihm irgendwann mal erzählt, dass ihr Mutter ein spezielles Wort dafür gewusst hatte, aber er konnte sich nicht mehr daran erinnern. Vielleicht war es auch nur ein Ausdruck gewesen, der nur in ihrer Familie entstanden war.
Zoës Gesicht war leicht gerötet und sie grinste Ina und ihn an. Leise, aber mit einem deutlichen Lächeln in der Stimme verkündete sie:
„Ich habe es gefunden. Wollen wir es lesen?“
Das war es jetzt. Der Moment der Wahrheit, sozusagen. Er wusste, dass das Gedicht wahrscheinlich nicht zu den Besten gehörte, die er je geschrieben hatte. Aber war es nur romantisch verklärter Kitsch oder hing mehr daran?
Vor allem aber beschäftigte ihn die Frage, wie das Gedicht wohl auf ihn wirken würde. Und wie auf Ina.
Vielleicht war es ein Fehler gewesen, nach dem Gedicht zu fragen. Aber vielleicht war es auch ein Fehler gewesen, überhaupt zu Ina zu fahren. Aber es war nun einmal so passiert und jetzt konnte er nichts mehr daran ändern.
Zoë schlug den Ordner auf dem Küchentisch auf.
Trotz ihrer offensichtlichen Vorsicht wirbelte eine beachtliche Menge Staub auf. Wie eine Art Nebel versperrte er einen Moment lang die Sicht auf das Papier und kitzelte unangenehm in seiner Nase.
Er beugte sich über den Küchentisch und spürte wie Ina und Zoë das gleiche taten. Es war ihm irgendwie peinlich, zu dritt über dieses Blatt gebeugt zu stehen, aber seine Neugier, sein Durst nach Erinnerungen war stärker. Und so las er:
Sanfter Sommerwind wispert einsame Botschaften der Sterne
in die Ohren engumschlugener Körper, stöhnend und nassgeschwitzt
Sprache nur aus Bassnoten lässt Trommelfelle vibrieren
gemeinsamer Takt verbindet über Körpergrenzen
das, was zusammengehört in dunkler Nacht
an der Küste, Grenze zur Unendlichkeit des Ozeans
an der Küste, Ziel der mystischen Reise
an der Küste, voll der Liebe und des Schweisses
an der Küste, Anfang, nicht Ende der Reise
an der Küste, wo nur Sand ein Bett bildet
an der Küste, Ursprung der gemeinsamen Gedanken
Körper nur aus Zungen und Fingern und Löchern
Alles hier ist Liebe und Zärtlichkeit und Sex und Extase
Alles hier ist Inpiration und Idee
Alles hier ist Schwermut und Euphorie und Melancholie und Sinnlichkeit
Alles hier vibriert im Lied der Sterne
Kein Brunnen, in den man hinabsteigen muss
alles liegt offen, alles Geheimnisse gelüftet
kein Fluss, der die Geschlechter trennt
alle Teile fügen sich nahtlos zusammen
kein Käfig, die Vögel zu bewahren
alle Geister fliegen hoch unter diesem Himmel
Dieser Moment gehört den Verbundenen
auf ewig festgehalten auf Papier und im Geiste
Geheimniss für alle Uneingeweihten
verschlossen im Herzen des vereinten Körpers
Alles zerfliesst in Sinneseindrücken
Geist und Körper zu oranger Masse
lieblicher Stoff der Extase
erstarrt zum Denkmal für diesen Moment
Eine Zeit lang sagte niemand was und er hatte das Gefühl, als würden beide Mädchen seinen Blicken ausweichen.
„Also es ist ja schon ein wenig kitschig, wenn man das so als Außenstehende liest.“, meinte Zoë und schaute fragend in die Runde.
Ina lächelte. Sie hatte ein Knie angewinkelt und strich mit ihrem Kinn darüber, während das andere ausgestreckt unter dem Küchentisch lag.
„Ich mag verschiedene Zeilen. Klar ist es romantisch und verklärt, aber ist das nicht auch normal in der Situation? Ich finde, man sollte das Recht haben, auch manchmal kitschig sein zu dürfen!“
Ina erinnerte sich jetzt wieder ganz genau.
Sie sah die kleine Bucht vor ihrem inneren Auge. Jene Bucht, in der sie das Gedicht zusammen geschrieben hatten.
Sie waren den ganzen Tag unterwegs gewesen und hatten gegen Abend, als es eigentlich schon fast zu spät gewesen war, um noch irgendwo stehen zu bleiben, das Auto an einer einsamen Bucht geparkt.
Keine Menschenseele war an diesem Ort gewesen, was Ina wie ein Wunder erschienen war und die ohnehin schon mystische Aura der Bucht noch verstärkt hatte.
Wenn aus dem nahe gelegenen Wald Einhörner galoppiert wären, so hätte das Ina bei diesem nicht gestört, im Gegenteil, es wäre ihr völlig logisch und stimmig vorgekommen, sie hatte es sich schon fast erwartet.
Ein niedriger Rasen, der nach Kräutern geduftet hatte war über gegangen in einen schmalen Strand aus weißlichem Sand, an der das tiefblaue Meer gebrandet hatte. Scharfe, grauweiße Felsen, mit rotbraunen Flechten bewachsen, hatten die Bucht, die nur etwa 100 Meter breit gewesen war, abgetrennt. Hinter der Grasfläche, die wohl manchmal als Liegewiese benutzt worden war, hatte ein junger Birkenwald gestanden, durch den sie gefahren waren.
Die Sonne hatte schon ziemlich tief am Himmel gestanden, aber trotzdem hatten sie der Versuchung, in dieser Bucht auszusteigen, nicht widerstehen können.
Sie wusste nicht mehr, wer von ihnen Beiden das Wort „Nacktbaden“ zuerst gesagt hatte, dieses Konzept, das irgendetwas Verbotenes, Verruchtes hatte. Natürlich hatten sie Beide Badesachen dabei gehabt, aber das war egal gewesen, nachdem diese Idee ausgesprochen gewesen war, durch die Wortwerdung beinahe schon verstofflicht.
Und so waren sie nackt in das doch schon ziemlich kalte Wasser gestiegen – und das Eine hatte zum Anderem geführt.
Merkwürdig wie hell und klar die Erinnerungen an diese eine Nacht wieder waren, wie dieses Gedicht dies alles zurückgebracht hatte. Ina war, als könnte sie sich an jedes Detail erinnern, an den Sex, an die schier endlosen Streicheleinheiten, an die Decke, in der sie beide ihre nackten Körper eingewickelt und dann gedichtet hatten, an das Gespräch, das erst ein Ende gefunden hatte, als sie eingeschlafen war.
Sie fragte sich, ob es ihm genauso ging, ob er die gleichen Bilder vor seinem geistigen Auge hatte und vor allem wie sie sich für ihn anfühlten.
Sie selbst sah die Sache zwiespältig: Einerseits hatte er ihr weh getan – und sie ihm wahrscheinlich auch, und sie wollte nicht unbedingt viel an diese Zeit denken, auch wegen Zoë nicht. Anderseits waren die Bilder in ihrem Kopf schön, fühlten sich gut an und jagten ihr einen wohligen Schauer über den Rücken.
Sie brauchte einen Moment, um ihren Blick zu fixieren, sie hatte in die weiße Leere außerhalb des Küchenfensters gestarrt, ohne Fokus.
Zoë sah ihr direkt in die Augen, hob dabei eine Braue, als sie bemerkte, dass Ina den Mund öffnete, sich leiste räusperte und dann mit trockener Kehle in den Raum warf:
„Ich sehe diese Nacht wieder genau vor mir, obwohl ich das eigentlich vergessen hatte. Vielleicht ist das eins der schönsten Dinge, die Poesie mit uns anstellt: Sie zaubert uns Bilder in den Kopf und wenn wir selbst geschrieben haben, sind es sogar Erinnerungen, so klar wie nur selten.“
„Ich sehe sie auch“, meinte er mit belegter Stimme, „und ich weiß nicht, welches Gefühl überwiegt. Vielleicht ist es tatsächlich der Schmerz.“
Ina bemerkte wie seine Hand leicht zitterte.
(Picture cc by Will Palmer)
man that place looks amazing!!! looks very mystical!
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