Erinnerung.

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Dies ist der vierzehnte Teil einer Geschichte um ein Mädchen namens Ina, ihren Exfreund, ihre Freundin, Zoë, und deren Exfreundin, Aline.
1. Teil: Hoffnung. 2. Teil: Entmut. 3. Teil: Überwindung. 4. Teil: Türschwelle 5. Teil: Ina. 6. Teil: Vergessen. 7. Teil: Mullbinde.
8. Teil: Entscheidungsfindung 9. Teil: Dachboden. 10. Teil: Cercidiphyllum japonicum 11. Teil: Meeresrauschen 12. Teil: Baumkuchen 13. Teil: Zimmerdecke

Seit Zoë sie verlassen hatte, wirkte alles grau. Es gab nichts Weißes mehr in ihrer Welt.
Wie hatte sie ihr so etwas antun können? Für Aline war ihre Beziehung zu Zoë immer perfekt gewirkt, ein Bilderbuchpärchen. Beide nur an Frauen interessiert und seit einiger Zeit auch nur an der jeweils anderen. Sie hatten sehr selten gestritten und wenn, dann hatte es auch nie lange gedauert, ehe eine von ihnen wieder mit einem Versöhnungsangebot zurück gekrochen kommen war.

Das Ende war für sie aus heiterem Himmel gekommen.
Im Nachhinein waren die Zeichen natürlich zu sehen gewesen.
Aber im Nachhinein war immer alles logisch und klar und man fragte sich, wieso man es nicht schon viel früher kommen gesehen hatte.Aber man lebte nun mal nicht im Nachhinein, sondern in der Gegenwart mit all seinen Träumen, Gedanken und vor allem lebte Aline in ihrer konstruierten Wirklichkeit, in der sie es blendend schaffte, alle möglichen Anzeichen und Probleme auszublenden und nur das sah, was sie sehen wollte. Zumindest im Bezug auf Zoë war es so gewesen.
Aber wie sollte man auch anders leben? Sollte man sich etwa den ganzen Tag Sorgen um Kleinigkeiten und Dummheiten machen, um später fest zu stellen, dass es sich bei diesen um genau das: also Kleinigkeiten und Dummheiten, die keinerlei Relevanz hatten, handelte? Sollte man etwa jede verdammte Andeutung ernst nehmen und sie bis zur letzten Silbe interpretieren?
Das war doch auch kein Leben.

Aline war gut darin, sich selbst zu täuschen. War ihr immer wieder gesagt worden. So oft, dass sie es selbst glaubte. Wahrscheinlich war es auch so. Also: Wahrscheinlich war Aline sehr gut darin, sich selbst zu täuschen.
Oder aber es war wirklich so gewesen, wie sie es erlebt hatte. Zoë hatte zwar ein wenig abwesend gewirkt, hatte sich nicht wie sonst alle 2 Stunden gemeldet, war aber in ihren gemeinsamen Momenter so wie immer gewesen. Und war es nicht normal, dass die euphorische Verliebtheit nach einer Zeit abschwang und man nicht mehr den Drang hatte, sich dauernd bei seiner Freundin zu melden?
Das war bei ihr immer so gewesen und sie hatte sich deswegen keine Sorgen gemacht. Keine Sorgen machen wollen. Sie hatte sich überhaupt keine Sorgen machen wollen, denn immer, wenn sie zusammen waren, war es so wie immer gewesen. Zoë war genauso liebenswürdig und zärtlich wie immer gewesen. Aber vielleicht war genau das der Fehler gewesen. Vielleicht hatte sich Zoë einfach nur gelangweilt, hatte etwas Neues gebraucht?

Das konnte und wollte sie nicht so Recht glauben. Hatte sie noch nie gekonnt. Sie war der festen Überzeugung, dass sie das gemerkt hätte. Dass Zoë, hätte sie den Drang nach was Neuem, was auch immer das gewesen wäre, mit ihr darüber gesprochen hatte. Aber sie hatte noch nicht einmal eine Anmerkung gemacht, die darauf hätte schließen lassen.

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Nein, sie glaubte – oder wollte lieber glauben, dass Zoë sich in einer Art kleiner Sinnkrise befunden hatte, einen Moment lang düstere Gedanken gehabt hatte und genau in dem Moment die falsche – bzw. die richtige Person getroffen hatte. Und das war eben diese Ina gewesen, von der sie ihr auch erzählt hatte, als habe es sie interessiert, mit wem ihre Zoë jetzt ein Bett teilte, als wolle sie wissen, wer anstatt ihrer jetzt Zoës Liebe bekam!
Natürlich hatte sie es wissen wollen. Natürlich hatte sie wissen wollen, was das für ein Mensch war, der Zoë verführt hatte. Von dem sie sich verführen hat lassen. Oder war es umgedreht gewesen? Das hatte sie nicht glauben wollen.
Das wollte sie immer noch nicht glauben.

Ihr Bett ächzte bei jeder noch so kleinen Bewegung. Früher hatte es das nicht getan, oder es war ihr nie aufgefallen. Vielleicht achtete man nicht auf solche Kleinigkeiten, wenn die Welt in den Wattebausch einer funktionierenden Beziehung, also einer größeren Sache gepackt war? Vielleicht waren dann solche Nebensächlichkeiten wie ächzende Betten, die ihr jetzt den letzten Nerv raubten, ganz egal und fielen einem nicht einmal mehr unterbewusst auf?

Sich einfach überhaupt nicht mehr bewegen. Einfach für immer in diesem Bett liegen bleiben und die graue Zimmerdecke anstarren. Vielleicht war das die beste Lösung für alle. Für sie, für Zoë und damit auch für diese Ina.

Wieder diese Armbewegung. Wieder der Schmerz. Es war wie ein Reflex, alle paar Minuten auf das Handy zu schauen, obwohl sie ganz genau wusste, dass sie es mitkriegen würde, wenn eine Nachricht kommen würde. Sie würde es hören, denn sie hatte ihr Handy am Abend zuvor auf die größtmögliche Lautstärke gestellt, um von Zoës Antwort, sollte sie denn je kommen, geweckt zu werden. Aber trotzdem schaute sie auf ihr Handy, nur um zu sehen, dass sich außer der Uhrzeit auf dem Display nichts geändert hatte.

Es gab nichts Farbiges mehr in ihrer Welt.

~

Ina wusste nicht, wie ihr geschah. Sie hatte sich plötzlich zwischen zwei Fronten wiedergefunden. Im Kriegsgebiet der Gefühle, im Schützengraben, ununterbrochen unter Feuer von ihm und von Zoë. Zwei Geschlechter, wie zwei Nationen im Kampf um ein Land, das Ina hieß. Ein kalter Krieg, ausgetragen mit Nettigkeiten und ausweichenden Blicken.
Was war das überhaupt, Geschlecht?
Oder Gender, wie man wohl besser sagte? Sie war „weiblich“, denn sie hatte eine Vagina und eine Gebärmutter und Brüste. Aber sie mochte weder rosa noch hohe Schuhe. Konnte man nicht einfach ein Mensch sein, ohne Etikettierung mit Vorurteilsetiketten? Was machte es aus, ob ein Mensch einen Penis oder eine Vagina hatte? Letzten Endes waren andere Dinge doch viel wichtiger und machten einen Menschen mehr aus als seine Biologie. Und auch die Biologie war veränderbar. Niemand musste sich dem Diktat seiner Gene unterwerfen. Traurig genug, dass sich jeder dem Diktat der Gesellschaft unterwerfen musste. Wobei es „die Gesellschaft“ als Gebilde oder Wesen mit eigenem Willen auch nicht gab. Den Druck, den sie verspürte, war ja nur gefühlt, geradezu eingebildet, weil sie glaubte, aus den vielen Einzelmeinungen und den Medienberichten eine generelle, gesellschaftliche Stimmung ausmachen zu können.

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Wobei es dennoch auch feste Anzeichen dafür gab, dass „die Gesellschaft“ nicht gut auf homosexuelle Lebensweisen zu sprechen war. Sie würde Zoë nicht heiraten können. Und wenn, dann würde es trotzdem etwas besonderes, etwas ungewöhnliches, in den Augen von Vielen wohl etwas verbotenes sein. Aber vielleicht war das einfach noch so. Wie lange hatte die Menschheit gebraucht, um zumindest in einigen Ländern Monarchien und Diktaturen zu stürzen? Und wie lange würde es wohl noch dauern, bis wirklich alle Menschen gleich waren und sich gleich fühlten? Gleich im Sinne von gleichberechtigt, nicht „gleich geschaltet“.

Leise ging sie die Treppe wieder hinunter. Nicht nur, dass er Fragen auf warf, die sie gerne in der Einsamkeit ihres Hauses vergaß, weil sie das tägliche Leben zu unangenehm machten, er wirbelte zusätzlich auch noch sämtliche Erinnerungen an diesen Sommer auf, den sie bisher wie an ein Märchen, an das man nur durch den dichten Nebel der Kindheitserinnerungen erinnerte, gesehen hatte. Nicht umsonst hatte der Ordner hoch oben auf dem dunklen Dachboden gestanden. Sie konnte sich noch ganz genau daran erinnern, wie sie ihn hastig zwischen die Steuerordner ins Regel gesteckt hatte. Fest hatte sie ihn geschoben, bis das Regal leise gestöhnt hatte unter dem Druck, der so plötzlich auf es einwirkte. Hastig, und ohne Licht an zumachen war sie durch das Dickicht der Erinnerungen und des Staubs gestolpert. Den schweren Schlüssel hatte sie so oft in der Tür umgedreht, wie es nur ging, um den Ordner und damit den Sommer, der in seiner süßen Schwere wie ein zu dick aufgetragenes Parfum durch die Ritzen der Tür drang, so heftig und symbolisch wie möglich einzusperren.

Und jetzt war er hier und hatte sie irgendwie dazu gebracht, Zoë zu bitten, den Ordner holen zu gehen. Und jetzt lag der Sommer und damit ihre Beziehung auf dem Küchentisch. Sie wollte nicht, dass Zoë zu viel davon sah. Gewisse Dinge sollte ein Geheimnis bleiben. Sie hatte das Gefühl, dass ein Einblick in diese Intensität ihre Freundin verletzten könnte. Und das, ohne dass sie es selbst merken würde. Was ihre Beziehung unweigerlich verändern würde.
Und Ina wollte keine Veränderung. Alles war gut so, wie es war. Eine ruhige, heile Welt zu zweit, die niemand stören sollte.

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Unten, in der Küche, öffnete jemand mit Wucht eine Schublade. Ein lautes Quietschen, Knarren und wenig später ein lautes Scheppern.

Nur leise knarrte die erste Stufe der Treppe unter Inas Füßen.

drawer photo cc by baronsquirrel. folder photo cc by Nicholas Jackson. Bed photo cc by Ciaran McGuiggan. Sky photo cc by Timothy Vollmer

4 Kommentare “Erinnerung.

  1. Sehr schön. Hätte (wie immer) am liebsten weiter gelesen.

    Besonders gefallen hat mir:
    “… den Sommer, der in seiner süßen Schwere wie ein zu dick aufgetragenes Parfum durch die Ritzen der Tür drang, so heftig und symbolisch wie möglich einzusperren.”

  2. Wunderschön. Gefällt mir sehr.
    Der Kontrast zwischen der einsamen Aline und Ina, der hart umlagerten, wobei Ina ja nicht die ist, an die Aline denkt, was mir wiederrum gefällt, weil es bisher primär um die Reize von Ina ging und nun auf einmal jemand um Zoë, die ja bisher “nur” die neue Freundin von Ina war, trauert.

    Der Exkurs über Inas sexuelle Identität fiel mir ein bisschen als Stilbruch auf. Die ganze Geschichte ist so poetisch erzählt und dann denkt sie auf einmal in nüchterner Sprache über eher politisch relevante Themen nach. Ob ich das gut finde, weiß ich nicht. Aber im Grunde glaub schon, nur ich weiß nicht, ob das überhaupt nötig is.

  3. Endlich wieder ein Teil des Ina/Zoë Epos. Irgendwann muss daraus ein Roman werden!

    (Ich mags, wenn mein iTunes zufällig ein passendes Lied spielt. Fyrsta ferð von Sigur Rós.)

  4. Schön, dass es weitergeht :-)
    Toll, dass Zoë nun auch eine Vergangenheit bekommt.
    Der Stilbruch ist mir auch aufgefallen. Ich bin da ein wenig hin- und her gerissen. Auf der einen Seite passt es irgendwie nicht so richtig rein. Auf der anderen Seite finde ich das Thema halt wichtig – und es lässt sich eben auch nicht so recht von – ach so – romantischen Beziehungen trennen. Das Private ist halt politisch, das wird es nicht erst dadurch dass Ina explizit drüber nachdenkt. Vielleicht ist es aber auch gerade gut, dass es so wie ein Bruch wirkt – da merkt man erst, wie wenig diese starre Geschlechtereinteilung überhaupt das reale Leben trifft. Aber es wäre auch wiederum schön, wenn Inas Überlegungen etwas mehr mit der Geschichte verknüpft wären. Ich finde, es wird nicht richtig klar, wieso Ina sich diese Fragen jetzt gerade stellt.
    So viel Kritisches wollte ich eigentlich garnicht schreiben, finde nämlich ansonsten den Teil sehr gelungen.

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