Yogaübung


Auf meiner Teepackung ist die Anleitung zu einer Yogaübung aufgedruckt. Man sitzt dabei im Schneidersitz und steckt sich abwechselnd Finger in die Nasenlöcher. Klein und kursiv gedruckt steht am Rand der Packung, ich solle seinen Arzt fragen, ob die Übung für mich geeignet sei. Ich gehe also mit der Teepackung zu meinem Arzt und frage ihn, ob ich im Schneidersitz sitzen und mir abwechselnd Finger in die Nasenlöcher stecken darf. Er sieht mich nur irritiert an und antwortet nicht, bis ich aus lauter Verlegenheit fluchtartig seine Praxis verlasse und beschließe, nie wieder zu diesem Arzt zu gehen. Im Treppenhaus bedauere ich dies kurz, denn der Arzt war stets freundlich und wirkt kompetent.

Ich werde nie wieder zu ihm gehen können. Nicht nur aus Scham, sondern vielmehr, weil das Haus, in dem sich seine Praxis befindet, einstürzt, als ich es verlasse. Vor mir versinkt ein ganzer Häuserblock in den Boden. Ich ziehe meine Thermokanne aus meiner Tasche. Der Teebeutel schwimmt noch drin. Ein grauer, mit Kräutern gefüllter Schwamm. An der kleinen Papierfahne ist kein Logo zu sehen, sondern es steht ein Spruch drauf. Der Tee ist nämlich, wie bei Tees auf deren Packungen Yogaübungen drauf gedruckt sind zu erwarten, ein ausgesprochener Hippietee. Drauf steht: „Liebe ist ohne Schmerzen. Sie ist Blühen. Sie ist Segen.“

Wie gut, dass ich niemanden liebe und mich nur unglücklich, voller schmerzen und weder sehr segens- noch blütenreich durch die Weltgeschichte ficke. Während der Häuserblock vor mir einstürzt und/oder im Boden versinkt, das kann ich durch meine beschlagene Brille nicht erkennen, trinke ich meinen esoterischen Hippietee und höre James Blunt auf meinem iPod. Und ich habe nur noch so wenig Schamgefühl, dass einfach nicht mehr genug davon da ist, um mich dafür zu schämen. Nicht für den iPod, der von suizidgefährdeten chinesischen Arbeitern in lagerähnlichen Montagewerken zusammengeschraubt wurde und schon gar nicht für James Blunt, der schmalzig von Kindern im Kosovo plärrt. Zumindest scheint sein Schmerz, oder den Schmerz den er von den traurig dreinschauenden Kindern im Kosovo antizipiert hat, größer zu sein als meiner. Denn bei mir ist eigentlich alles Okay. Gut, ich habe mich gerade vor meinem Arzt, zu dem ich jetzt nicht mehr gehen kann, weil sein Haus eingestürzt ist, hochgradig lächerlich gemacht, aber …

„Aber …“ denke ich und weiß nicht mehr weiter. Dort wo der Häuserblock war, ist jetzt der Blick auf ein rotes Meer. Ich kenne dieses Meer. Ich hasse dieses Meer. Nicht wegen dem Sand, der sich an meinen Körper klebt oder sich in alle möglichen und unmöglichen Körperöffnungen presst, sondern weil es halt dieses rote Meer des Verderbens ist, an dem ich schon so oft stand, an dem ich schon viel zu oft stand.

Und ich bin alleine hier. In der Ferne glaube ich Ruth über der See schweben zu sehen. Als sei sie ein mythologisches Wesen, als könne sie schweben! Ich bin alleine mit meinen Gedanken und wäre gerne alleiner.
Die Einsamkeit hingegen halte ich kaum aus. Ich weiß nicht, was ich will.
Ich weiß nicht einmal, ob ich gerne etwas wollen würde. Was würde Kazuyoshi Funaki in dieser Situation tun?

Ich möchte schreien, vor allem Leute an. Ich habe etwas Tee verschüttet. Es ist ziemlich schwer, mit dieser alten Thermokanne so zu schütten, dass der Tee nur in die Tasse kommt. Normalerweise fließt er nämlich überall hin, allem voran natürlich glühend heiß über die Finger, nur nicht in die Tasse. Ich habe übrigens eine Tasse aus Porzellan bei mir. Falls moderne Tassen überhaupt noch aus Porzellan sind. Vielleicht ist das längst irgendein Kunststoff, der sich bloß so anfühlt wie Porzellan. Auf jeden Fall ist sie schwer und lässt sich gut in der Hand halten, während ich vor dem Abgrund stehe, wo vor einigen Minuten ein Häuserblock eingestürzt ist und unter dem sich jetzt ein tosendes, rotes Meer steht. Der heiße Tee auf meiner Hand brennt und versichert mich, nicht zu träumen. Das wäre ja noch schlimmer. So eine tolle Geschichte und dann müsste ich nach der Erzählung immer sagen: „Und dann bin ich aufgewacht.“

Ich will mich in das Meer stürzen und in meiner Verzweiflung ertrinken. Eine Stimme hält mich davon ab. Buchstaben werden zu Menschen, das Meer aber nicht wieder zu einem Häuserblock. Wäre dies hier ein Traum, was wäre das alles für eine wunderbare Metapher! Freud, der alte perverse Sack hätte seine helle Freude daran und würde sich wohl erst die Unterhose wechseln müssen, bevor ich weitererzählen könnte.

Der Tee schmeckt nicht. Oder zumindest nicht so, wie er schmecken sollte. Ich gehe auf und ab, setze mich an den Rand der Klippe, stehe wieder auf, gehe wieder zwei, drei Meter, fühle mich wie an der belgischen Küste, drehe wieder um, setze mich auf den Asphalt, stehe wieder auf, gehe zu meinem Ausgangspunkt zurück. Der Tee schmeckt nicht so wie früher. Ich frage mich, ob das alles real ist, an was ich mich da zu erinnern glaube. Oder ob ich nicht einfach seit Anbeginn der Zeit vor diesem Bildschirm vor der weißen Wand saß und getippt habe. Ich traue mich nicht, nachzuschauen, wie lang der Text schon ist. Auch in meinen Augen würde James Blunt, der übrigens immer noch singt, keinen Mut entdecken.

Was ich mit diesem Text sagen will? Allgemeine Ratlosigkeit unter Germanist_innen in hundert Jahren. Die Orientierungslosigkeit im anfangenden einundzwanzigsten Jahrhundert. Wie immer! Als habe ich nur ein Thema, über das ich schreiben würde! Jetzt, wo ich mich noch aufregen kann, rege ich mich auf, als Nachhall durch die vierte Wand, die längst abgerissen wurde, genauso untergegangen mit dem Häuserblock, in dem einst mein Arzt wohnte. Ich knie nieder und bete, als mir einfällt, dass es keinen Gott gibt, an den ich glaube.

Ich blicke gen Himmel.


Über mir schwebt ein Zeppelin.


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Kommentare

7 Antworten zu „Yogaübung“

  1. Anne Spann

    Et kommenteiert also keng sau deng menschlech, gut ausgedreckten, organiseiert Wirr-warr-Gedanken leiwen Joel?
    (ech fannen keen trema op deem scheiss laptop hei…)

    Wees de waat? Soll ech der mol eppes soen?
    Ech lauschtren nach emmer deck gäer dei Cd do, mat dengen saachen drop, daas sou genial :)

    An wees de waat nach?
    Ech fannen mech deck oft selwer rem an dengen Texter…

    Vleicht ass et normal, vleicht ass et och nemmen normal bei deenen leit dei den tumor an den error an hierem kapp kennen..

    Maach weider! :)

  2. […] This post was mentioned on Twitter by Jøël A., Jøël A.. Jøël A. said: Was würde Kazuyoshi Funaki in dieser Situation tun? http://soulzeppel.in/2010/11/09/yogaubung/ […]

  3. Hi Feuerball, schön, dass es Dich noch gibt.
    Kann man ja fast nicht glauben, wenn man für bare Münze nimmt, was Du so schrei(b)st.
    Vielleicht solltest Du es aber trotzdem mal mit einer Therapie versuchen. Selbst wenn Sie nur gegen Rechtschreibfehler hilft.

  4. Anne: Villmols merci!
    Laetitia: <3 u too!

    "Google":Du bist ja lustig. Natürlich ist natürlich alles autobiographisch (wie immer, wenn ein_e Autor_in "Ich" schreibt!) und ich muss offenbar komplett wahnsinnig sein! Danke dass du mich endlich darauf hinweist!
    Rechtschreibefehler würden mich interessieren, ich hab leider keine gefunden, die Rechtschreibeprüfung allerdings auch nicht. Vielleicht bin ich aber auch nur "textblind".

  5. […] Oktober denken als ich in Gersthof auf die Straßenbahn wartete, an den düsteren November, in dem nicht einmal mehr Tee half, an die Hoffnungsschimmer, an die ich mich den ganzen Winter hindurch geklammert habe wie an […]

  6. […] Hätte ich die Idee, Knoblauch in Honig zu fermentieren, letzten Winter umgesetzt, wäre das jetzt vermutlich meine Wunderwaffe. Da ich auch dies prokrastiniert habe, bleibt mir lediglich der Griff zu einem Tee mit esoterischen Sprüchen und Yogaübungen (das ist schon einmal gründlich schiefgegangen). […]

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