Ich überlege mir, was ich anziehen soll und komme zum Schluss, dass ich einfach das anziehe, wonach mir ist. Ich bin 31 Jahre alt, warum sollte ich mich vor irgendwem rechtfertigen? Das ist seit einigen Monaten mein Motto, ich mag es sehr. Trotzdem hätte ich vielleicht doch eine Jacke anziehen sollen. Das würde die Regengüsse vielleicht nicht weniger unangenehm machen, denn immerhin trage ich nur eine Shorts, aber ich hätte das Gefühl, immerhin unzureichend statt überhaupt nicht vor Wind und Regen geschützt zu sein.
Als ich mich fragte, warum ich eigentlich so fröhlich war
Manchmal sind die Tage auch einfach gut. Ich hatte heute bei mehreren Dingen, mit denen ich mich beschäftige, das Gefühl, einen Durchblick zu haben. Und auch der Schneehagelregen, der beizeiten fiel, konnte diese Stimmung nicht trüben. Es fällt mir immer noch schwer, das zu akzeptieren.
„Aber dieser Brunnen ist überhaupt kein Brunnen!“ Die Stimme der Person, die ich einst Ruth nannte, klingt ungewohnt. Wüsste ich es nicht besser, würde ich ihr Panik unterstellen. „Und wenn das hier nicht der Maschinenraum des Großen Seelenzeppelins ist? Warum sollte ich mir einbilden, in die Tiefe zu fahren, durch Wasser zu waten, um schlussendlich irgendwo zu landen, mit ich mehr als vertraut bin? Ich hätte diesen Ort doch gleich erkennen müssen!“ Meine Stimme hingegen zittert nicht mehr. Ich fühle mich sicher. Als wüsste ich, was ich tue.
Fun fact: Ich weiß
so gut wie nie, was ich tue. Also, natürlich weiß ich in den
meisten Fällen so halbwegs, was ich tun muss, um so zu wirken, als
wüsste ich ungefähr, was ich tue. Ich glaube auch, dass es den
allermeisten Leuten so geht. „Fake it till you make it“ halt. Das
ist vermutlich die größte Erkenntnis des Erwachsenwerdens: Niemand
weiß, wie die Dinge eigentlich gehen, alle tun nur so als ob und in
Wirklichkeit ist alles nur Theater. Ein Grund, weshalb ich mich so
weit wie möglich aus dem motorisierten Individualverkehr heraus
halte.
Als ich die Person, die ich einst Ruth nannte, wiedertraf.
„Du bist nicht …?“ Meine Stimme ist nur halb so laut, wie ich mir es gewünscht hätte. Sie zittert, sofern das bei dem kurzen Satz überhaupt möglich ist. Ich weiß nicht einmal, ob sie weit genug trägt, um von der unbekannten Person – von der ich sicher war, wer es war – überhaupt gehört zu werden. Aber macht das jetzt noch einen Unterschied? Ich weiß weder, wo ich bin, noch mit wem ich rede. Und schon gar nicht, warum. Dies ist kein Höhepunkt, dies ist der Tiefpunkt der ganzen Geschichte.
Sobald die Wörter
meinen Mund verlassen haben, wird mir klar, was für eine banale
Frage das war, die ich da gestellt habe. Das sollte jedoch niemanden
überraschen, am allerwenigsten mich. Ich war noch nie sonderlich
schlagfertig, und im Moment kann ich einfach nicht anders, als mich
wundern, was das alles zu bedeuten hat. Wo bin ich? Tief unter der
Erde, im Brunnen, in einer Kathedrale aus Beton, die aus mysteriösen
Gründen hier angelegt wurde? Oder doch immer noch im Großen
Seelenzeppelin, das über der stürmischen See stur seinen Kurs hält
– und ich in seinem Maschinenraum, den ich nur selten betrete?
Egal, wo ich mich
wirklich befinde: Die Person, der diese Stimme gehört, sollte nicht
hier sein.
Als ich endlich merkte, dass ich gar nicht tief unter der Erde war
Das Summen klingt
mechanisch und dennoch melodiös. Immer wieder wandert mein Blick
nach oben, an den Betonstrukturen entlang, bis ich meinen Kopf so
sehr in den Nacken legen muss, dass es schmerzt. Ich versuche, meine
Augen weiter nach oben zu rollen, so dass ich vielleicht endlich den
unsichtbaren Chor, den ich vermute, im Augenwinkel erhaschen kann.
Aber da ist nichts. Egal wie lange ich versuche, sämtliche Ecken,
Nischen und Alkoven in dieser merkwürdigsten aller Kathedralen zu
untersuchen, ich sehe keine robentragenden kapuzenbedeckten
Gestalten, die dieses Geräusch, das ich immer noch als Gesang
missverstehe, verursachen könnten. Ich stehe immer noch vor einer
Konsole, meine Hände bewegen sich unwillkürlich darüber, ich
drücke Knöpfe, die ich nicht sehen kann, mechanisch, muscle memory,
als würde ich ein Passwort eingeben, das ich seit Ewigkeiten kenne.
Als ich (sehr müde) über meine Müdigkeit sinnierte
Das Summen wird noch
lauter. Es fühlt sich an, als würde die gesamte Halle vibrieren.
Mir bereitet das keine Sorgen. Ich trete vor die Konsolen aus Beton
und berühre instinktiv eine der kleinen Leuchten. Sie fühlt sich
nach Beton an, der sich in der warmen Sommersonne aufgewärmt hat.
Absolut glatt, keine Erhebung oder ein anderes Material. Mich stört
das nicht, auch wenn es mich vermutlich sogar verstören sollte. Ich
weiß immer noch nicht, warum ich hier bin, aber es fühlt sich
richtig an.
Ich kann schlecht
mit meinem Energiehaushalt umgehen. Ich gebe natürlich gerne der
Dunkelheit, die seit gefühlten Monaten anhält, die Schuld.
Vielleicht liegt es aber auch daran, dass ich jeden Tag viel zu lange
warte, bis ich anfange, Texte zu schreiben und dadurch immer länger
wach bin, als ich es eigentlich sein wollte. Ich kann mich natürlich
nicht mehr erinnern, wie genau das 2018 war, als ich nicht jeden Tag
bloggte – vermutlich schaffte ich es auch durch irgendeine
Prokastinationsmagie, um etwa die gleiche Zeit ins Bett zu gehen und
mich dann zu wundern, warum ich müde bin.
Als mir alles vertraut und dennoch so falsch erschien.
Ich betrete die
Kathedrale aus Beton. Das Surren, das ertönt, sobald der Raum –
oder etwas in dem Raum – erkannt hat, dass ich mich in ihm
aufhalte, wirkt keinesfalls bedrohlich. Die Lichter werden ebenfalls
heller, als wolle mir ein System zu verstehen geben, dass ich hier
zuhause bin. Noch erkenne ich keine Struktur, keine Geräte, mit
denen ich kommunizieren könnte. Obwohl ich keine Ahnung habe, was
das hier soll, fühlt sich alles vertraut an. Ich verstehe meine
eigene Reaktion nicht – eigentlich müsste ich zittern, schreien,
eine Gänsehaut haben oder zumindest müssten sich meine Nackenhaare
aufstellen. Aber nichts dergleichen.
Der Raum fühlt sich
merkwürdig, beinahe schon unheimlich vertraut an. Also eigentlich
nicht unheimlich, sondern heimlich. Oder heimisch. Die
Betonstrukturen bilden einen Halbkreis. Teilweise sind es lediglich
Klötze, in denen Lichter eingesetzt sind, teilweise sind es
Skulpturen, die meterhoch in die Höhle ragen, deren Decke ich nicht
erkennen kann. Denn noch andere der Betonstrukturen scheinen Pfeiler
zu seinen, oder dekorative Elemente, die sich verästeln, einander
überkreuzen, sich gegenseitig stützen, ohne dass ich wirklich einen
Sinn erkennen kann. Ich finde sie ästhetisch ansprechend. Eigentlich
sollte mich das alles schwindelig machen. So viel weiß ich. Aber das
tut es nicht.
Als ich mir einmal mehr bewusst machte, dass nicht alles schlecht
ist.
Ich sehe das Licht
am Ende des Tunnels. „Wie unglaublich lächerlich“, denke ich.
Manchmal unterbreche ich meinen Gedankenstrom, um einen einzigen Satz
laut und klar zu denken, so als würde ich ihn aussprechen. Ich
schüttele ungläubig den Kopf, um meinen Gedanken zu verdeutlichen.
Obwohl hier niemand ist, der das sehen könnte, obwohl ich ganz
alleine hunderte Meter unter der Erde knöcheltief im lauwarmen
Wasser stehe und Licht mit meinem Telefon mache. So, als wäre das
eine ganz normale Sache. Vorsichtig gehe ich weiter. Das Wasser macht
laute Geräusche bei jedem Schritt.
Ich fühle mich wohl
bei der Arbeit. Es ist ja nicht so, als würde ich in die Tiefe
vordringen, um lediglich die negativen Dinge zu herauszubohren. Oder
zumindest sollte ich das nicht. Ich habe das Gefühl, dass das, was
ich tue, geschätzt wird, dass ich die Aufgaben, die ich zu erledigen
habe, gut erfülle. Und meistens ist es nicht allzu stressig.
Natürlich ist das stets das Bestreben, mehr zu tun, mehr zu
erreichen, aber dafür müsste vermutlich alles etwas größer sein.
Manchmal bin ich auch müde, oder das scheinbare Verharren im Status
Quo nervt mich, aber im Großen und Ganzen läuft alles.
Als ich versuchte, mich wieder mit der Dunkelheit anzufreunden
Gefühlt wird es
immer dunkler in dem Tunnel. Ich kann das rational überhaupt nicht
erklären, denn ich bin unter der Erde, und es war von Anfang an
stockfinster hier, das einzige Licht kommt von der
Taschenlampenfunktion meines Telefons. Ich weigere mich immer noch,
„Smartphone“ zu sagen, weil ich es für so ein merkwürdiges Wort
halte. „Telefon“ bezeichnet allerdings auch nicht wirklich das,
wofür ich das Gerät benutze – es fehlt also, wie so oft, eine
gute Vokabel. Das Wasser ist immer noch lauwarm, worüber ich
möglichst nicht nachzudenken versuche.
Ich vermisse den
Balkon. Meinen Balkon, auch wenn ich nie wirklich einen
Besitzanspruch hatte. Die Tür war in meinem Zimmer, andere Menschen
mussten bei mir klopfen, wenn sie drauf wollten. Ich hatte einen
Sitzsack und einen kleinen Tisch, für eine gemütlichere
Sitzunterlage hat es nie gereicht. Ich saß oft darauf und
telefoniere oder träumte in den Tag, in den Abend, in die Nacht
hinein. Das wunderbare Gefühl, „draußen“ zu sein, ohne die
eigenen vier Wände verlassen zu müssen. Hier gibt es einen Garten.
Eigentlich besser, uneigentlich halt nicht so privat und halt kein
Balkon.
Natürlich vermisse
ich nicht den kleinen, engen, oft staubigen Balkon, auf dem nicht
einmal eine einzige gemütliche Sitzgelegenheit stand. Ich vermisse
das Gefühl, das ich damit verbinde. Die Abende, wenn ich mit
speziellen Leuten darauf saß und wir rauchten und uns vorfreudig in
die Augen schauten. Ich vermisse, darauf zu stehen und in den grauen
Himmel zu schauen und mich ganz gut eingepackt zu fühlen in einem
kleinen gemütlichen Schuhkarton, bestehend aus dem Innenhof, den
Mauern der Häuser, die ihn bildeten, und eben den Wolken über der
Stadt.