Wieder ein Zeitbombenpost. Fire ist weg und vergnügt euch mit der überarbeiteten und erweiterten Version von EVA
Kapitel 1 – Angriff der Engel
Ich errinere mich noch genau an den ersten Tag nach den Bomben. L. Kannte ich damals bereits, aber sie lebte noch nicht in E., sondern im südlichen Teil des ohnehin kleinen Landes. Und wir hatten noch keinen Sex, was aber in dem Moment nicht weiter wichtig war. Jeder von uns hatte seine eigenen Geschichte, die bei ihr wohl konkreter – oder bloss häufiger, waren als bei mir.
Ich mochte es, sie zu besuchen, mit ihr DVDs anzusehen bis spät in die Nacht und danach über die Filme oder Serien zu diskutieren. An einen dieser Abende errinere ich mich besonders gut. Wir saßen unter einer Decke, tranken Kaffee um nicht einzuschlafen und assen aus ihrer Schokoladenkiste.
Sie besaß einen große Schuhkarton, gefüllt mit Schokolade und anderen Leckereien, den sie argwöhnisch hütete und meist in ihrem Zimmer versteckte – so dass niemand ihn entdecken und auf die Idee kommen könne, sich an ihrer Schokolade zu vergreifen. Ähnlich misstrauisch gegenüber ihrer Umwelt war sie in Bezug auf Alkohol, besonders bei ihrem geliebtem Rum und Martini.
Die Kiste war größer als alle Schuhkartons, die ich bisher gesehen hatte. Zuerst dachte ich, sie müsse ja riesige Füße haben. Ein Blick gen Boden vernichtete diesen Gedanken, der angesichts der Tatsache, dass sie kleiner war als ich, sowieso ein recht dummer gewesen war. Es war ganz einfach ein Schuhkarton für Stiefel.
Und ich hatte nie Stiefel besessen, oder mir jedenfalls nie die Kartons, in denen man sie kaufen konnte, angeschaut. Wenn ich Schuhe kaufte, dann, weil ich sie anziehen wollte (oder musste), nicht, um mir die Kartons anzuschauen oder gar irgendetwas darin aufzubewaren.
Andere Menschen bewarten ihre Postkarten ind Schuhkartons auf. Ich hatte sie immer klassiert, in Klarsichthüllen, damit ich mir einerseits das Motiv und anderseits den Text ansehen konnte. Ich fand diesen nämlich oft sehr viel interessanter als das eigentliche Motiv. Ausserdem sind Postkartenmotive halt Postkartenmotive und nicht wirklich die Realität.
Das Wetter ist jeden Tag anders und der Himmel an den meisten Orten selten wirklich strahlend blau und wolkenlos. Ich frage mich, wieviele Postkarten eigentlich am Computer manipuliert wurden, um das sprichwörtliche Postkartenwetter zu generieren. Oder gibt – oder gab? – es Urlaubsorte, die tatsächlich so paradiesisch aussehen (oder aussahen?), wie die Postkarten, auf denen sie abgebildet sind.
Frage: Was ist mit den Postkarten von New York passiert, nach dem 11. September 2001?
Hat man die Zwillingstürme von den bestehenden Fotos gelöscht, oder hat man neue Fotos gemacht? Dass man die bereits gedruckten Karten vernichtete, ist mir relativ klar, aber wieso sollten Postkartenhersteller neue Fotos machen lassen, wenn sie nur auf dem Computer die beiden verschwundenen Türme herausschneiden lassen mussten?
Gab es je Postkarten mit den zerstörten Städten des beginnenden 21. Jahrhunderts, das Jahrhundert, in dem die Welt, wie ich und viele andere sie kannten, unterging? Gab es jemanden, der Fotos von den brennenden und ausgebrannten Ruinen, den umherstreundenden Banden, den plünderenden Massen der ersten Tage und den hungerenden Menschen der Wochen danach machte und sie dann auf Postkarten drucken liess?
Wieso eigentlich nicht? Immerhin hat die Menschheit mit diesem Krieg, der noch immer nicht richtig vorbei ist, bewiesen, dass sie zu allem fähig ist, dass die Schrecken des zweiten Weltkrieges nicht genügten, dass es immer noch Menschen gab – und vermutlich auch nocht gibt, die Hitler, Stalin, Mussolini, Mao, Hussein, usw. übertreffen konnten.
Wieso also nicht auch Postkarten von Orten der Zerstörung aus senden?
„Hallo Mami!
Hier ist alles kaputt. (Wie im Reisekatalog!)
Das Wetter ist allerdings toll. 28°C im Schatten und dort, wo es noch brennt, ist es sehr viel wärmer. Ausserdem bekommt man hier billig Elektrogeräte. Habe uns einen Mikrowellenherd gekauft. Hoffe du freust dich!
Viele liebe Grüße und Sonnenschein,
deine Tochter Klara,“
Zum Kotzen. Aber der Krieg ist zum Kotzen, immer und überall. Aber die meisten benügen sich damit, sich zu empören, vielleicht auch noch laut aufzuschreien. Niemand rennt zum Klo oder auf die Straße und kotzt das halb verdaute Mittagessen auf den Bürgersteig. Vielleicht hätte das etwas gebracht. 100 Liter Kotze vor den amerikanischen Botschaften und Konsulaten in aller Welt, und der Irakkrieg wäre vielleicht nie zu Stande gekommen.
Problem: Zum Kotzen ist es meist erst, wenn die Sache bis am Laufen ist, und dann ist es zum Aufhören meist jedoch zu spät.
Vor dem Kaffee, der hauptsächlich dem Durchhalten diente, hatte sie uns beiden ein großes Glas mit Cuba Libre serviert. Sie verstand es, Cola und Rum so zu mischen, dass keins von Beiden zu sehr nach dem Anderem schmeckte. Ich genoss jeden Schluck, den Geschmack des alten Rums im Mund und das Kribbeln der Cola auf der Zunge, noch lange nachdem ich geschluckt hatte.
Der Rum errinerte mich an eine andere Geschichte, die ich mit ihr zusammen erlebt hatte, aber auf die ich erst später eingehen werde, da ich sonst zu sehr abschweife – was ich sowieso schon die ganze Zeit über tue, aber ich versuche, es in Grenzen zu halten. Soweit man den wirren Strom von Gedanken, den ich zu ordnen und auf Papier zu bringen versuche, überhaupt irgendwie bändigen kann. Ein Mann alleine kann keinen Staudamm bauen – ein weiterer Grund, wieso ich dies hier aufschreibe.
Ich errinnere mich, wie sie mir von ihrem Traum erzählte, 12 Jahre alten Rum zu trinken, den sie immer und immer wieder in ihrer Lieblingskneipe auf der Karte hat stehen sehen und sich nie getraut hatte, diesen fantastischen Preis für das alte, aber sicherlich leckere Getränk zu bezahlen. Ich habe mir diese Kneipe immer relativ dunkel vorgestellt, länglich und schmall, mit alten Holzstühlen und Tischen und einem Tresen, der nur von einer Seite mit Tageslicht beleuchtet wird, wenn die Tür aufgeht. Sie hat mir den Ort nie beschrieben, und so vermischen sich Vorstellungen und gesehene Bars miteinander, Pilades Schuppen in Umberto Ecos Foucaultschem Pendel hatte ich mir recht ähnlich vorstellt, da allerdings gab es in der Tat eine genauere Beschreibung.
Für mich sah diese Bar, die jetzt wahrscheinlich sowieso nicht mehr existiert, so aus.
Ich sehe sie vor meinem geistigen Auge, wie sie, nach ihrem geschafften Abitur, die Tür aufstösst und mit dem Lächeln derer, die endlich fertig sind mit der Schule, den dunkelen, verrauchten Raum betritt und einen 12 Jahre alten Rum bestellt, um zu feiren, um sich nach Monaten voller Plackerei den gerechten Lohn für ihre Arbeit abzuholen
Aber es kommt, wie es kommen musste: Der Rum ist nicht mehr da. Alle, die Flasche ist geleert und es gibt keine Zweite. Der Barkeeper meint dann noch, dass sei auch für ihn der beste Rum gewesen, den er je getrunken hätte. Aber was ist das für ein Trost für sie, die so lange und so innig auf diesen erlösenden Trank gewartet hatte?
Vielleicht deshalb des öfteren Rum, wenn auch mit mehr oder weniger Cola gemischt.
Wir sassen nahe beieinander -das Sofa war einfach nur für zwei Personen gedacht, und was sollte und konnte man da anders tun, als nahe beieinander zu sitzen, vor allem war das ja noch nichts anzügliches, und starrten auf das Fernsehgerät. Ich kannte die Serie, sie ebenfalls, aber bei uns beiden war es länger her, dass wir sie gesehen hatten. Trotzdem hatte ich das Gefühl, dass es etwas Neues war, alleine schon deshalb, weil wir beide diese Serie, diese gezeichnete philosophische Depression, zum ersten Mal mit einem anderem sahen und so unsere Kommentare abgeben konnten. Lachen, Ärgern, Mitfühlen, Rätseln, Verraten, gegenseitiges Erklären. Theoretisieren.
Je länger der Abend und je müder wir wurden, desto näher kamen wir einander. Das hatte nicht unbedingt etwas mit Absicht zu tun, sondern war eher dadurch zu erklären, dass wir beide uns immer mehr in eine liegende Position begaben und sie mich mit unter ihre Decke nahm, was Körperkontakt erzwang.
Wir lagen, unschuldig, mit den Beinen gegeneinander. Einen Moment lang überlegte ich, ob ich ihre Hand suchen sollte, mit dem Zeigefinger über ihren Handrücken streicheln, so eine intimere Nähe aufkeimen lassen, bis das Fernsehen egal wird, um dann erst unsere Münder, dann unsere gesamten Körper miteinander verschmelzen zu lassen.
Hastig verscheuchte ich diesen Gedanken, ebenso wie die Idee, ihr vorzuschlagen, sich gemeinsam in eine Richtung zu legen, was ebenfalls noch mehr Körperkontakt erzwungen hätte. Ich weiß bis heute nicht, was passiert wäre, wenn ich es gewagt hätte. Wahrscheinlich jedoch nichts. Sie war damals verliebt, und zwar nicht in mich, was sie heute auch noch nicht ist. Verbunden nur im Kopf und an der Hüfte.
Danach immer für ein paar Sekunden ein schlechtes Gefühl. postkoitoale Depression, sekundenweise, dann wieder Euphorie, schmutziges Aneinanderreiben. So lange, bis jemand aufsteht, um sich Duschen zu gehen.
Meistens Sie.