Ich wollte neulich jemanden erklären, wieso ich Fototapete, also solche Tapeten, die ein wandfüllendes Panorama auf ein Bergmassiv oder eine kanadische Waldlandschaft in das Wohn- oder Schlafzimmer bringt, nicht schön finde. Auf das Argument „Es verleiht dem Raum aber sehr viel Tiefe“ hin geriet ich in Erklärungsnot.
Ich mag Fototapeten einerseits wegen den kitschigen Motiven, über deren Ästhetik man streiten kann, nicht, anderseits, und das finde ich viel wichtiger, lässt es einen die Perspektive verlieren.
Was soll ich mit den Alpen im Wohnzimmer? Ich brauche das Alltägliche. Raufasertapete, wegen mir auch Stuck an den Wänden. Dreckige Teetassen oder Kaffeebecher finde ich sehr viel poetischer als einen Postkartenblick auf die Berge. Ich brauche solche Kleinigkeiten, die mich an das Hier und Jetzt erinnern. In meinem Kopf kann ich die größten und fantastischsten Reisen unternehmen, mit dem Segelboot durch die Karibik oder ähnliches, aber letztendlich sind das alles nur Träume, Flucht vor dem Alltag. Auch in der Karibik muss man aufs Klo gehen, man schwitzt und auch der weiße Sand klebt einem an den Füßen.
Die Poesie des Alltags ist eine ganz andere. Der Regen, der in den letzten Tagen fast täglich auf mein Dachfenster trommelt, ist nicht idealisiert. Manchmal beruhigt er mich, weil ich gerne beim Einschlafen dem Regen lausche, aber oft bemerke ich ihn überhaupt nicht, er wird zu einem Nebengeräusch.
Es ist nicht wirklich von Belang. Aber unser Leben besteht nun einmal nicht aus den „großartigen Tagen“, die wir in Fotoalben (wegen mir auch auf Myspace) festhalten.
Leben, das sind die vielen kleinen Momente, unabhängig davon, ob sie schön oder tottraurig sind. Busfahren. Die Regentropfen hören, wie sie gegen das Fenster prasseln. In Hundescheisse treten. Zeitung lesen. Sich die Finger an der Herdplatte verbrennen.
Und während ich dies schreibe, sehe ich die Bilder in meinem Kopf, wie ein Schwarzweißfilm mit trauriger Musik im Hintergrund.
Die Realität ist nicht einmal schwarz-weiß. Und sie hat auch nie einen anderen Soundtrack als die Musik, die wir gerade hören.
Mich verzaubern solche Alltagsmomente, insbesondere wenn ich sie als schön und wohltuend empfinde, sehr viel mehr als ein Alpenpanorama oder ein strahlend weißer Sandstrand mit türkisblauem Wasser. Oder, um es anders auszudrücken:
Sie haben ihre ganz eigene Poesie. Ich könnte es auch so ausdrücke: Was wäre das Meer ohne die Sehnsucht danach?
Und die Sehnsucht, die erleben wir nicht am Meer selbst, sondern im Alltag.
Vielleicht liegt das Geheimnis des Lebens einfach darin, die Sehnsucht selbst zu genießen.
Und das gilt nicht nur für Fernweh, sondern auch für alles andere, das wir „jeden Tag“ erleben.
Wir leben nur im Jetzt. Wer die Poesie des Alltags nicht zu schätzen oder erkennen vermag, verpasst in meinen Augen einen Teil des Lebens.
Jeden Augenblick, und sei er noch so schmerzhaft, in vollen Zügen genießen, das scheint auf den ersten Blick eine widersprüchliche Maxime zu sein, aber letztendlich wohl nicht mehr und nicht weniger als ein Weg, das Leben nicht wie ein Film an sich vorbeirattern zu lassen.
Die Poesie von schmutzigen Teetassen ist eine andere als die von Bergpanoramen. Ich spreche letzterem nicht seinen Reiz ab, aber auch die „einfachen“ Dinge sind oft sehr poetisch.
Was oft unterschätzt wird.
Schön gesagt!
Thierry nimmt mir die Worte aus dem Mund.
Naru
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