Sternennacht

StoffIch sah sie an und dachte, ohne vorher je einen solchen Definitionsversuch unternommen zu haben: „Das ewig weibliche ist die Kurve von ihren Oberschenkeln über ihr Becken bis zu ihrem Bauch.“ Sie lag auf der Seite, langgestreckt, und dennoch ließ sie eine gewisse Kauerhaltung durchblicken.

Ich saß hinter ihr und fand den Anblick wunderschön. Es lag eine Atmosphäre von Geborgenheit in der Luft wie kunstvolle Falten werfende Vorhänge aus orangem Samt, die horizontal im Raum schweben. Sie strahlte eine innere Ruhe aus.

Ich denke, das war es: zur Ruhe kommen. Alle Gedanken, Ängste, beunruhigende Gespenster im Kopf hatten wir auf kleiner Flamme geköchelt, reduziert bis auf einen kleinen Quader, den wir mit den warmen Dämpfen, die metaphorisch aus unserer gefühlten Geborgenheit emporstiegen, einhüllten und ihn zumindest für diesen Abend vergaßen.

Gerne hätte ich die Kurve beschrieben. Wäre ich mathematisch dazu in der Lage gewesen, so, davon war ich fest überzeugt, wäre die Formel für das ewig weibliche dabei herausgekommen. Die Beschreibung anders, also mit der Hand auszuführen, traute ich mich nicht. Ich war noch nie gleichzeitig so zurückhaltend und begierig gewesen, einen Körper, ihren Körper, zu spüren. Vor allem: Sie zu umarmen. Als würde diese symbolische Verbindung eine immerwährende sein, eine Symbiose, ohne die das Leben trüb und grau wäre.

So schien es mir, und je mehr ich darüber nachdachte, umso größer wurde auch mein Wunsch, ihren Körper, ihre Wärme, ihre Atmung, ihren Herzschlag zu spüren und der Kauerstellung, die sie mittlerweile angenommen hatte, ein Bett zu geben. Männlicher Beschützerinstinkt par excellence.

Aber war es wirklich bloß das? War es nicht eher ein sexuelles Verlangen? Ich wollte dieser Frage keinen Platz geben. Ich nahm ihre Hand und setzte mich so neben sie, dass mein Rücken vor ihrem Becken war. Sie streichelte, als wäre dies ein Reflex, meinen Handrücken. Die Atmosphäre verdichtete sich. Jede Berührung von ihr löste in mir gleichzeitig Befriedigung und Verlangen nach mehr aus. Vielleicht brauchte ich nur jemanden, um den ich mir Sorgen machen konnte, ich allein und sonst niemand. Männliche Besitzergreifung delux.

Ich war mir nicht mehr sicher, ob ich das Richtige tat. Gleichzeitig fühlte es sich einfach wunderbar an, so dass ich nicht über diese unangenehme Frage nachdenken wollte. Ich packte sie zu dem Quader mit Unangenehmen und ließ mir nichts anmerken.
Sie rückte näher, so dass ihr Becken meinen Rücken berührte. Ich fing an, ihre Hand und wenige Momente später auch ihren Arm zu streicheln, nur mit Mittel- und Ringfinger. Ich spüre regelrecht, wie die kleinen Häarchen auf ihrem Arm sich aufrichteten und unsere gefühlte Nähe sich damit ebenfalls erhöhte.
Sie lächelte.

Ein organger Schleier aus Intimität legte sich über uns, grobmaschig und trotzdem fein gewebt. Es schien wie eine natürliche Entwicklung, sich zu küssen. Und trotzdem war es merkwürdig, sie meinen unrasierten Hals küssen zu spüren. War ich es nicht, der sie begehrte?
Wieso drehte sie den Spieß um, anstatt sich erobern zu lassen?
Ich umarmte sie, und hatte Mühe, loszulassen. Es war deutlich zu spüren, dass wir beide diese Nähe brauchten. Ich fuhr mit der Hand über ihren Rücken, während ich den anderen Arm um sie geschlungen hatte. Sie hielt mich bloß fest, und ich hatte meinen Kopf auf ihre Schulter gelegt. Eine warme, dunkelrote Blase entstand um uns herum und langsam verschwand jeder Kontrast.

Die innere Wärme, die ich verspürte, beeinflusste mein Sehvermögen wie eine merkwürdige Droge, und mein inneres Auge überlappte sich mit den Dingen, die ich tatsächlich sah. Ich gewisser Weise war ich blind. Ich sah weiße Blutkörperchen in der roten Blase schwimmen, als wir uns küssten, unsere Zungen sich berührten und einander umspielten wie konjugierende Einzeller.
Stoff
Alles drehte sich um uns. Es schien für einen kristallklaren Moment so, als wäre der Punkt, an dem unsere Zungen sich berührten, das Zentrum des Universums, der einzige Fixpunkt in einem unendlich expandierendem und drehendem Kosmos, der Obelisk der Ordnung in der geleeartigen Masse des Chaos, und gleichzeitig drehte ich mich in dieser Vision der Klarheit, die bereits jetzt das geistige Pendant zu einem Orgasmus darstelle. Und ich wusste: Sie war meine Sofia, der verloren gegangene Teil von mir, nach dem ich seit ich denken konnte so schmerzlich gesucht hatte.

Jede Berührung von ihr machte mich blinder, rief eine tiefrote oder orange Luftblase auf der betreffenden Körperstelle hervor, die ich wirklich zu sehen schien, so sehr ließ sie mein reales mit mit meinem inneren Sehvermögen verschmelzen.

Wir küssten uns innig, ohne wild zu werden. Alle Bewegungen liefen mit einer zärtlichen Ruhe ab, die die Transparenz der Blase, die uns umschloss überhaupt erst möglich machte. Sie streichelte meinen Rücken, während ich meine Hand auf ihrem Bauch hatte, in immer dem gleichen Rhythmus, für einen ewigen Moment lang.
Wie minutenlanges Luftholen.

War ihr Streicheln das Einatmen, so waren die Küsse, die da folgten, das Ausatmen.
Ich konnte kaum mehr klar denken. Die Welt bestand nur noch aus Sinneseindrücken auf meiner Haut und Küssen.

Auf einmal waren wir beide nackt. Wir lagen auf ihrer Matratze und ich streichele ihren Rücken, während sie auf mir lag. Ich wusste, dass wir kurz davor waren, Sex miteinander zu haben, obwohl ich mich nicht erinnern konnte, sie ausgezogen zu haben. Wieder kam die Frage in mir hoch, ob das, was ich tun würde, das Richtige war. Und die undefinierbare Klarheit, dass sie die Eine war, die Sofia, nach der ich mein Leben lang gesucht hatte, kam zu mir zurück.
Ich lächelte, als sie sich auf mich setzte und sich auf meinen Schultern aufstützte.
Wieder wurde die Welt dunkelrot und bestand bloß noch aus großen, monotolithartigen Gefühlen, die sich in wilder Reihenfolge abwechselten und durch meinen Körper flossen.

Ich erwachte nackt neben ihr.

Images copyright by Dave Sackville and Wojciech Wolak.

5 Kommentare “Sternennacht

  1. Fühlt sich an als häte ich es selbst erlebt. Gut geschrieben!

    Ich habe nur einen einzigen Satz, der mich etwas irritiert: "Sex miteinander zu haben". Ich hätte "miteinander zu schlafen" geschrieben – nicht weil ich was gegen das Wort Sex habe, aber weil "schlafen" mehr nach der Ruhe klingt die sich durch den Rest des Textes zieht. Ist aber nur ein Detail und ansonsten finde ich den Text toll so wie er ist. :)

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