Eigentlich hätte ich selbst was zu dem neusten Produkt der Kategorie »Papier, dass man besser als Klopapier hätte verwenden können« geschrieben, aber dann ist mir das hier in die Hände gefallen. Der Text stammt von afurnishedsoul/Jeff Hemmer und unterliegt seinem Copyright. Der Text steht also nicht unter der hier üblichen cc-Lizenz.
Von essentiellen Unterrichtsunterwanderungsmitteln und punktgenau rationierter Papierverschwendung…
Seit einigen Wochen entlädt sich ein wahrhaftiges Nachrichtengewitter über unserer friedlichen kleinen Heimat. Die Demokratisierung der Information schreitet wie auf Stelzen voran. Nach den jüngst erfolgten, durchaus rührenden Bemühungen einiger ReVisionäre um eine vertikale Demokratisierung elektronisch erfasster, persönlicher Daten bei unseren nahöstlichen Nachbarn (auch in der Hoffnung um eine langfristige Steigerung des seit Web 2.0 stark angeschlagenen Briefmarkenabsatzes durch die geschätzten 1.3 Millionen in Deutschland lebenden Terroristen sowie die, vom Bundesverfassungsschutz auf zirka 5000 bezifferten, sogenannten „Autonomen“) schicken sich nun hierzulande zwei konkurrierende Verlagshäuser an, die Demokratisierung der Information auch auf horizontaler Ebene – und vor allem, buchstäblich flächendeckend – voranzutreiben.
Dank L‘essentiel und Point24 kommen spätestens seit heute morgen auch arbeitswütige, nimmer-ruhende Zeitgenossen in den Genuss des gefühlten Weltbürgertums – ein Privileg, das bisher nur höheren Funktionären, bekifften Studenten, bei Regen im geschlossenen Fahrzeug wartenden Busfahrern und klischeebewussten Lehrern vorbehalten war. Beide Zeitungen, gratis erhältlich an Hunderten von Abnahmestellen im ganzen Land, versprechen ein maximal gekürztes, dabei jedoch maximal breitgefächertes und reichhaltiges Angebot an News und Meldungen.
Die langfristigen Vorteile dieses neuen, selbst für progressiv-katholische Verhältnisse ausgesprochen revolutionären Service werden sich wohl erst in einigen Jahren in vollendeter Pracht offenbaren. Eine kurzfristige, überaus positive Bilanz lässt sich allerdings schon jetzt, anhand eines kurzen Besuchs im Lehrerzimmer einer x-beliebigen Bildungsanstalt unserer Nation, ziehen.
Besonders das bereits seit einigen Wochen erscheinende L‘Essentiel erfreut sich bei Schülern und Lehrpersonal höchster Beliebtheit. Während Schüler insbesondere die Aerodynamik des handlichen Infozettels zu schätzen wissen, zeigen sich vor allem Civique- und Geschichtslehrer erfreut über das plötzliche Interesse ihrer Zöglinge am Weltgeschehen.
Die Selbstmordrate unter den Mathematiklehrern hat drastisch abgenommen. Das Sudoku des L‘essentiel führt Schüler auf spielerische Art und Weise selbst an kompliziertere Zahlen wie 5, 8 oder 9 nahezu mühelos heran. So mancher Klimaschützer erliegt gar der voreiligen Hoffnung, in einigen Jahren könnten selbst die bei Eltern und Kindern gleichermassen verpönten Tafelrechungen eine Renaissance erleben und als wertvolle Waffe im Kampf gegen die in manchen Kreisen als äusserst CO2-intensiv und volksverblödend gewerteten Taschenrechner fungieren.
Selbst Sprachprofessoren, viele von ihnen seit der Geburt des SMS-Lingo zu geschätzten Kunden von Thymoleptika-Herstellern verkommen, sind verzückt angesichts des neuen Lernmaterials, welches im Gegensatz zu den traditionellen Schulbüchern auch für minderbemittelte Schüler durchaus erschwinglich ist, und zudem aktueller als so manches Schulprogramm.
Die allgemeine Euphorie angesichts des neuen Gratisangebots wird auch vom Reinigungspersonal der Schulen geteilt. In einer wahrhaft solidarischen Geste, welche herzerwärmende Erinnerungen an das traute 1968er Miteinander von Studenten und Arbeitern wachruft, überlassen viele Schüler ihre gelesenen Gratiszeitungen den von ihnen hoch geschätzten „Botzfraen“ bevor sie nach Hause ziehen. Einige knüllen sie sogar noch taschengerecht zusammen und legen ein Kaugummi hinzu. Fast wie der Kleeschen.
Das von ISP veröffentlichte Point24 wird dem L‘Essentiel wohl kaum lange hinterherhinken. Mit einer gleichwertigen Zusammensetzung aus 50% Weltgeschehen und 50% Kaufundservicerauschmitteilungen trifft es den konsumorientierten Nerv der Zeit wie eine Halloweenpostkarte aus Macy‘s in New York. Jeweils links mit Text anödend, rechts mit ganzseitigen Werbeanzeigen aufgemotzt, ist Point24 nahezu fetter als die ebenfalls von ISP gedruckte Wort-Wochenbeilage JobSearch, und eignet sich vorzüglich zum Unter-dem-Arm-tragen auf dem Bürgersteig, dem Laufsteg intellektuell-geschäftig tuender Zeitgenossen.
Zyniker und hoffnungslos sarkastische, bösartige Menschen versuchen zur Zeit noch zu argumentieren, jeder halbwegs normal funktionierende Geist wäre imstande, auch aus einer „herkömmlichen“ Zeitung das Wichtigste – sozusagen das Essentielle – durch simples Überfliegen der Zeilen und Titel herauszufiltern. Grüne Dauernörgler und Miesmacher – als hätte ihnen die UN in letzter Zeit nicht mehr als genug Aufmerksamkeit geschenkt – lästern über den „scheusslichen Papiermissbrauch“ und ketten sich erneut an unschuldige Bäume im Stadtpark, während linke Chaoten ohnmächtig behaupten, dass diese Projekte auf nichts anderes als künstliche Nachfrageerzeugung auf dem Anzeigen- und Pressemarkt abzielten.
„Production for production‘s sake“, meinte dazu jüngst ein einheimischer Künstler, und zeigte sich angesichts der angeblichen Popularität der neuen Zeitungen verwundert über den öffentlichen Aufschrei gegen Wim Delvoye‘s Cloaca Maschinen, die doch „auf ihre Art und Weise ebenfalls nur das essentiellste über den Menschen und seine Welt aussagen“ würden.
Den fulminanten Siegeszug der Fast Food Zeitungen werden solch ewig Gestrige allerdings – allein schon aufgrund ihrer beispiellosen Flüssigkeit – glücklicherweise nicht mehr zu stoppen vermögen. Experten sagen jetzt bereits die vollständige Einmottung sämtlicher Druckpressen voraus. Rezente Forschungsprojekte kamen unabhängig voneinander zur Schlussfolgerung, dass jede Art von geschriebener Information (inklusive Literatur und Sachbücher) in absehbarer Zukunft nur noch in Form von Myspace Comments oder SMS überliefert und verbreitet werden wird – vielleicht schon Ende 2008!
Affaire à suivre…
© by afurnishedsoul / Jeff Hemmer
Ich wollte auch ueber dieses Thema bloggen, aber da ich das Thema schon 2x angesprochen habe, hab ich es dann doch sein gelassen.
Es gibt für mich nur zwei Methoden, auf diese Produkte zu reagieren: Ignorieren oder Satire. Da ich für letzteres im Moment keine Zeit habe, ignoriere ich sie halt. Beiträge wie diesen lese ich aber immer wieder gerne, da Ignorieren mich im Gegensatz zu gebloggter Medienkritik eher selten zum Schmunzeln bringt.
Ich bin für Ignorieren. Indem man dem ganzen mit Satire begegnet gesteht man dem Ganzen eine Wichtigkeit zu das es nicht verdient.
Witzig ist der Text ist trotzdem. :)
Worum geht’s? Um eine neue, aber doofe Zeitung?
Mag ja sein, dass die doof ist. Dieser Text jedenfalls ist böse das, was man auf Englisch “overwritten” nennt.
Sehr guter Text.