Zimmerdecke

Dies ist der dreizehnte Teil einer Geschichte um ein Mädchen namens Ina, ihren Exfreund und ihre Freundin.
1. Teil: Hoffnung. 2. Teil: Entmut. 3. Teil: Überwindung. 4. Teil: Türschwelle 5. Teil: Ina. 6. Teil: Vergessen. 7. Teil: Mullbinde.
8. Teil: Entscheidungsfindung 9. Teil: Dachboden. 10. Teil: Cercidiphyllum japonicum 11. Teil: Meeresrauschen 12. Teil: Baumkuchen

Zoë stoppte diesen Film. Ihr Stimme schaffte es ohne weiteres, den Projektor in seinem Kopf anzuhalten. Die geschlossene Tür vor seinem inneren Auge, die sich jeden Moment geöffnet hätte, wurde zu einem halb durchsichtigen Dia.
„Bleibst du eigentlich zum Mittagessen? Ihr beide habt euch doch sicher viel zu erzählen?“
Wieder dieser leicht aggressive Unterton in der Stimme, wieder dieser Blick zu Ina, der eigentlich gar keiner war, nur ein Flackern in den Augenwinkeln. Als wollte sie, dass Ina ihm alles von ihr erzählen würde, als hätte sie ihm am liebsten selbst die Geschichte ihrer Liebe erzählt.
Dabei war sie doch eigentlich überhaupt keine eifersüchtige Person. Zumindest hatte sie das immer geglaubt.

„Klar bleibt er. Erstens muss er erstmal ein wenig schlafen, um überhaupt wieder fahren zu können. Und zweitens …“
Sie stocke mitten im Satz.
Er hatte eine abrupte Bewegung gemacht, als wolle er ihr Angebot, bei ihr schlafen zu können, ausschlagen, als bräuchte er keine Ruhe, obwohl die Müdigkeit ihn, wenn er ganz ehrlich war, fest im Griff hatte, seit Zoë den Film in seinem Kopf gestoppt hatte. Das Gedicht hatte ihn vielleicht in einen kurzen Moment der verwirrten Klarheit versetzt, aber jetzt griff Hypnos wieder nach ihm. Oder war es Morpheus?
Und auch das war ein Zeichen seiner Müdigkeit, die auf ihm lag wie ein schweres Tuch, das seinen Verstand belastete und ihn griechische Götter mit japanischen Pokémon – und umgekehrt verwechseln ließ.

„Jetzt sag nicht, dass du SO fahren willst?“
In Inas Stimme, obwohl wütend, schwang Besorgnis mit. Er hatte das schon lange nicht mehr gehört. Und sie machte ihn, genau wie früher immer, kleinlaut:
„Nein. Natürlich nicht. Du hast Recht.“
Er sah sie nicht an, starrte auf die Oberfläche des Tisches.
„Ich werde mich wohl besser ein wenig hinlegen. Und ja, ich würde auch gerne hier zu Mittag essen. Wenn das euch nicht zu sehr stört.“

Ina hatte noch immer eine unglaubliche Macht über ihn. Nur ein Wort von ihr, und er war wieder der kleine, schüchterne Junge, der er mal gewesen war, vor Äonen in seiner persönlichen Zeitrechnung. Auch das war ein Teil der Magie, die in ihrer Stimme lag.

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„Nein, natürlich nicht. Zoë kocht eh immer so viel, dass wir für ein paar Tage davon haben, da ist es eigentlich sogar besser, wenn noch jemand mit isst.“
Sie grinste in Richtung Zoë.
Und Zoë lächelte zurück. Es wirkte ehrlich, nicht genervt, nicht wütend, sondern rein und verliebt. Auch sie war Ina verfallen, aber das schien auf Gegenseitigkeit zu beruhen. Ein merkwürdiges Gleichgewicht der Emotionen. Vielleicht war er aber auch zu müde, um sich noch über diese Dinge richtig Gedanken machen zu können. Oder aber es war überhaupt nicht möglich, aus einem halben Gespräch über Kochgewohnheiten eine Beziehung zu analysieren …
„Ich zeig dir das Gästezimmer, ja?“
Als wüsste er nicht genau, wo das Gästezimmer war. Als habe er früher nicht selbst Leuten den Weg dorthin gezeigt. Als sei er noch nie in diesem Haus gewesen.

Langsam ging sie vor ihm die Holztreppe hoch. Er versuchte nicht mehr, einen klaren Kopf zu bekommen, denn das einzige, was ihm jetzt noch helfen würde, war Schlaf. Tiefer, dunkler Schlaf in Inas Gästezimmer. Dort, wo sonst immer nur andere geschlafen hatte, während er in Inas Zimmer gelegen hatte, mit ihren Kopf auf seiner Brust.

„Hier ist es.“
Ina flüsterte nur noch. Als schliefe schon jemand im Haus, den man nicht wecken dürfte.
Behutsam öffnete sie die Zimmertür. Geräuschlos. Ohne zu warten, ob er ebenfalls das Zimmer betrat, schritt sie zum Fenster, zog die langen Vorhänge zu, was den kleinen Raum in ein gedämpftes, hellgelbes Licht tauchte. Sie drehte an der Heizung.
Ein leises Knacken war zu hören, dann ein wenig Blubbern.

Es war frisch in dem Zimmer, aber nicht zu kalt. Trotzdem fühlte sich die Bettdecke geradezu eisig an. Ina öffnete den großen, alten Eichenschrank, der am anderen Ende des kleinen Raums stand.
Er zog seinen Pullover aus, kroch in das gemachte Bett und öffnete seine Hose erst unter der Decke. Sorgfältig stopfte er seine Socken in seine Schuhe. Sie waren leicht feucht.

Er strecke seine Beine aus. Ein gutes Gefühl, so flach in einem Bett zu liegen. Obwohl es ein wenig zu kalt war, aber das würde die Heizung ja bald regeln.
Ina brachte ihm eine zweite Decke. Eine Wolldecke. Behutsam deckte sie ihn damit zu, zog sie fast über sein Kinn, wo sie in seinen Bartstoppeln kratze. Sie lag schwer auf ihm, was leicht unangenehm war, aber immerhin wurde ihm wärmer. Er hatte auch keine Kraft, noch etwas an seiner Situation zu ändern.

Müde starrte er an die fremde Zimmerdecke.

~

Aline wachte auf. Die bekannte, immer gleiche Zimmerdecke.
Sie wirkte grau, obwohl sie eigentlich weiß war.
Irgendwie wirkte seit einiger Zeit alles grau. Als wäre Schimmel über die Welt gewachsen, oder zumindest über ihre Welt, denn außer ihr schien niemand mitbekommen zu haben, wie düster und eklig alles aussah. Andere freuten sich über den Schnee, während sie nur den dreckigen Matsch sah, den er auf den Straßen hinterließ. Sie kannte Menschen, die sich jeden Tag über eine Kleinigkeit freuten. Sie selbst hatte Schwierigkeiten, einmal in der Woche etwas zu finden, was ihr Herz erwärmte.

Ihr Arm fühlte sich schwer an. So, als sei sie eben einen Marathon auf den Händen gelaufen. Aber das war nichts Neues. So fühlte sich ihr Körper seit viel zu langer Zeit an. Sie strecke ihn trotzdem auf seine volle Länge aus, um ihren Nachttisch zu erreichen. Ohne den Blick von ihrer Zimmerdecke zu wenden tastete sie nach ihrem Handy. Als sie es gefunden hatte, ob sie es vor sich, entsperrte es während der Bewegung und sah auf es.
Nichts. Nur die Uhrzeit, Netzbetreiber, Batteriestatus und Empfangsanzeige. Aber keine neue Nachricht, kein Anruf in Abwesenheit, nichts.
Als wüsste niemand, dass sie lebte.

Sie wusste, dass das Quatsch war. Natürlich gab es genug Menschen, die wussten, dass sie noch lebte. Natürlich hatte sie Freunde und Familie, die sich auch mehr oder weniger regelmäßig bei ihr meldeten. Aber um die ging es nicht. Es ging um eine ganz spezielle Person.
Und die meldete sich nicht mehr, antwortete ihr nicht mehr, rief nie zurück und … ja, sie tat so, als gäbe es Aline nicht und jede ihrer Botschaften sei nichts als ein Irrtum, eine falsch gewählte Nummer, als gehe sie nichts von alledem, was Aline ihr schrieb, etwas an.

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Aufstehen? Gab es denn einen Grund dazu? Es gab seit Wochen keinen Grund mehr dazu. Trotzdem raffte sie sich immer wieder auf, gab die Hoffnung nie ganz auf. Vielleicht war die Hoffnung in der Nacht gestorben, als sie geschlafen hatte. Jeden Tag wurde es etwas schwieriger, aufzustehen und sich klar zu machen, dass, auch wenn man es nicht sofort sah, es immer irgendetwas gab, für das es sich aufzustehen lohnte.

Sie sah wieder auf ihr Handy, öffnete den Ordner mit den gesendeten Nachrichten. Ja, sie hatte ihr gestern Abend noch eine Nachricht geschickt und sie war auch angekommen. Das tötete wieder ein wenig Hoffnung in ihr. Hätte sie die Nachricht aus Versehen nicht abgeschickt, hätte sie sie nochmal schicken können und auf eine Antwort warten können. So wusste sie, dass wahrscheinlich keine kommen würde.

Wieder diese Armbewegung. Wieder dieser Schmerz. Nichts half dagegen. Sie wusste das ganz genau, auch wenn sie noch überhaupt nichts probiert hatte. Ihr Körper benahm sich in emotional belastenden Situationen so. Und bisher hatte sie noch immer damit umgehen können. Die Schmerzen, die sie spürte, waren psychosomatisch. Nichts ungewöhnliches. Bisher hatte es nur noch nie so lange angehalten, aber bald würde es weniger werden, immer weniger, bis sie nichts mehr spüren würde, ohne es recht zu merken.
Mit einem leichten Klacken des Plastikgehäuses legte sie das Handy zurück auf den Nachtisch.
Langsam drehte sie ihren Kopf und sah die Wand an.

Auch sie wirkte grau.

(Photo cc by Dan Taylor)

2 Kommentare “Zimmerdecke

  1. Endlich habe ich Zeit gefunden, es in aller Ruhe zu lesen. :)

    Ich mag die Szene mit dem Gästezimmer sehr, zumal wie Ina ihn in das Zimmer führt, als wäre er ein Fremder in dem Haus – es unterstreicht sehr schön das Gefühl des Exfreundes, das sich durch die bisherigen Texte zog, wie wenig Inas Welt seine Welt noch ist. Show, don’t tell, wie es so schön heißt.
    Ich hätte mir allerdings mehr Beschreibungen gewünscht, während sie durch das Haus gehen – gibt es irgendwo Fotos an der Wand (möglicherweise sogar ein gemeinsames von ihnen?), erinnern ihn andere Details an bestimmte Momente, die er in diesem Haus verlebt hat? Ich will mehr Flashbacks – es muss ja nicht in ein ganzes Kapitel ausarten, aber es könnte die eine oder andere Erinnerung über ein, zwei Abschnitte erwähnt werden (gerne auch eine längere Erinnerung, aber ich will dich ja nicht unter Druck setzen ;)).
    Wie fühlt sich das an, *Gast* in einem Haus zu sein in dem man einmal lebte? Bis zu diesem Moment war er ja “nur” ein Exfreund, der sie besuchte.
    Mit dem Bild der Zimmerdecke ließe sich auch noch mehr machen: sieht/sah die Zimmerdecke über Inas Bett gleich/anders aus? Wie fühlt sich das an, wenn sie ihn zudeckt? (Emotional, das physische Gefühl der Decke beschreibst du ja.)

    Ich will mehr von Aline. Die ist mir gerade erschreckend ähnlich. In sämtlichen Hinsichten. Also, ich warte gerade auch auf eine Textnachricht, und ich werde morgen früh sofort auf mein Handy schauen wenn ich aufwache. Wie jeden Morgen, eigentlich. Meine Arme tun mir weh, und ich starre auch manchmal morgens ewig lange an die Wand – auch wenn sie beige ist, nicht grau.
    Ich bin gespannt, wohin uns dieser Charakter in den nächsten Teilen führen wird. :)

    Jetzt heißt es also wieder warten… Man sagt zwar, Vorfreude sei die schönste Freude, aber das ist Quatsch. Ich freu mich viel mehr, wenn ein neuer Teil in meinem Feedreader auftaucht, als in der Zeit zwischen zwei Teilen. :)

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