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Nora Wagener – Menschenliebe und Vogel, schrei

Disclaimer: Nora Wagener hat mir mal eine Email geschrieben, dass ihr mein Blog gefällt. Wir haben daraufhin mehrmals gemeinsam alkoholische Getränke getrunken. Ihr Buch ist beim gleichen Verlag wie Write Out Loud erschienen.

Elke, eine junge Frau, hat die Trennung von ihrem Freund noch nicht ganz verdaut. Und wird von ihrer Mutter, die findet, dass „das“ nicht mehr so weitergehen kann, in Urlaub geschickt. Mit der kleinen Schwester Alela zur Großmutter, die auf dem Dorf lebt. Alea redet nur, wenn sie Lust dazu hat. Lust dazu hat sie so selten, dass die auf die meisten Menschen stumm wirkt. Die Großmutter hat eine geheimnisvolle Vergangenheit, an die sie sich scheinbar nicht erinnert. Das ist mehr oder weniger die Ausgangssituation für den ersten Roman von Nora Wagener, Menschenliebe und Vogel, schrei.

Die Stimmung des Buches hat mich von Anfang an gefesselt. Der Tonfall der Erzählerin ist schwankt zwischen melancholisch und verzweifelt, aber sie hat Biss. Ich habe jetzt lange versucht, eine treffende Formulierung zu finden und habe keine andere als „jugendliche Rotzigkeit“ gefunden. Das passt natürlich nicht so ganz, aber vielleicht wird damit klar, was ich meine: sarkastische Betrachtung des Umfeldes und der eigenen Situation.

Ich bin ein paar Mal über Formulierungen gestolpert. Ich weiß aber nicht, ob das an mir liegt oder an der Autorin. Ich glaubte auch, ein paar „luxemburgische“ Sätze rausgelesen zu haben. Im Deutschunterricht in Luxemburg gibt es ja offensichtlich nichts schlimmeres als ein Lokalkolorit in selbst geschriebenen Texten. Ich glaube, meine 0/30 Punkte auf der Passiv-Grammatikprüfung wurden weniger abschätzig kommentiert als „Luxemburgismen“. Insofern: Scheiß drauf. Falls es denn überhaupt welche gibt. Denn meine Wahrnehmung ist ja auch die von jemanden, der die Autorin kennt und in all das, was da passiert, Luxemburg reinliest. So wie die meisten Leser_innen fälschlicherweise autobiografische Details in Texten vermuten, die dort gar nicht vorhanden sind.

Sehr gefreut habe ich mich über die Beschreibung der Dorfdisko, die das Flying Dutchman zum Vorbild hat. Eigentlich war es längst überfällig, dass dem Fly ein literarisches Denkmal gesetzt wurde. Und spannend, wie sehr Elkes Wahrnehmung mit meiner eigenen Erfahrung bricht. Und realistisch, dass sie nicht auf einmal ausflippt und es toll dort findet.

Ich mochte Menschenliebe und Vogel, schrei. Ich kann es euch nur sehr ans Herz legen. Und das nicht, weil ich Nora sehr sympathisch finde und junge Autor_innen aus Luxemburg doch Aufmerksamkeit gebrauchen können, sondern weil es wirklich ein gutes kleines Stück Literatur ist, das da auf euch wartet.

Nora Wagener
Menschenliebe und Vogel, schrei
Op der Lay 166 2011
144 Seiten, Paperback
ISBN 978-2-87967-177-2 11,90 €

Das Buch beim Verlag. Copyright für das Bild liegt beim Verlag.

Wanderungen (II)


Samstag, irgendwann am frühen Vormittag im späten Februar.
Ich trage rosa Plüschhasenohren und eine Jogginghose. Ich genieße die verwirrten Blicke der Menschen im Supermarkt, die mich in der Schlange vor sich lassen, weil ich nur eine Packung Eier und ein Glas Oliven kaufe. Es scheint sich niemand zu trauen, mich zu fragen, warum ich diesen dann doch etwas eigenwilligen Kopfschmuck trage. Vielleicht interessiert es auch niemanden. Ich werde auch sonst merkwürdig angeschaut, wenn ich merkwürdige Zusammenstellungen auf das Kassenband lege. Muss an meinem allgemeinen Erscheinungsbild liegen, ob mit oder ohne Hasenohren.

Die Nacht, die hinter mir liegt, ist voller Verwirrungen, die mit einer Flasche Aperol angefangen haben. Die Tragweite der Ereignisse werde ich erst viel später begreifen, falls ich sie überhaupt je begreifen werde.

Mein erster Gedanke war also die Flucht. Zurückblickend ist das wenig verwunderlich, aber jetzt weiß ich das noch nicht, jetzt stehe ich an der Supermarktkasse und krame nach Münzen, um den Betrag gleich richtig zu zahlen und nicht noch mehr Kleingeld mit mir herumschleppen zu müssen. Und ich stehe hier, weil ich Eier und Oliven kaufen will. Denke ich auf jeden Fall. Warum ich wirklich aus meiner eigenen Wohnung geflohen bin, daran wage ich nicht zu denken. Deshalb denke ich nur an die Eier und das Glas Oliven, nicht an die Gründe meiner Flucht, die sich in kalten Betten herumwälzen, in denen ich keinen Schlaf mehr finde.

Als ich den Supermarkt verlasse und die nächste Person mich merkwürdig anschaut, frage ich mich, ob ich nicht etwas vergessen habe. Vielleicht noch eine Flasche Alkohol, die wieder alles egal macht, die Mattheit in Müdigkeit verwandelt und traumlose Alpträume beschert.

Als ob es am Alkohol gelegen hätte.

Ich gehe zurück zu meiner Wohnung – aber nur, weil ich nicht weiß, wohin ich sonst soll, mit den Eiern und dem Glas Oliven unter dem Arm. Ein Gefühl, das ich noch viel zu oft erleben werde. Aber das weiß ich jetzt noch nicht und gehe deshalb frohen Mutes nach Hause, ohne mich über den bitteren Geschmack, der mir im Rachen sitzt, zu kümmern. Ich kümmere mich nicht. Noch schauen mich alle nur so an, weil ich Hasenohren trage.

photo cc by D‘Arcy Norman

Wolfgang Herrndorf – Tschick

In Österreich und besonders in Wien heißt „Tschick“ Zigarette. Das hat mich anfangs ein klein wenig verwirrt, aber was für Büchercover und die Bewertung des Inhaltes gilt, gilt wahrscheinlich genau so für die Titel und regionale Sprachverwirrung. Tschick, einer der beiden Protagonisten, die einen Lada klauen und damit durch Ostdeutschland fahren, raucht aber ein paar Mal in dem Roman. Könnte also sein, dass sein Spitzname auch ein netter Seitenhieb darauf ist. Diese Interpretation lässt sich zumindest fabelhaft da rein lesen.

Zwei Vierzehnjährige fahren mit einem Lada durch Ostdeutschland. Maik erzählt wie ein Vierzehnjähriger. Oder wie Vierzehnjährige aus Berlin in meiner Vorstellung reden könnten. Der Roman erfüllt die Erwartung, denn Vierzehnjährige schreiben keine Romane, und wenn sie es tun, dann in einer anderen Sprache als Herrndorf. Gut gefallen haben mir auch die Seitenhiebe auf die mediale Welt von Personen, die 2010 Vierzehn waren: Die Frage, ob Steppenwolf nun ein Buch oder eine Band ist kommt genauso vor wie Wikipedia, Facebook und Rihanna.

Maik ist zwar verliebt, aber das spielt nicht die Hauptrolle in dem Buch. Ich weiß nicht, ob das in „Jugendbüchern“ immer so ist, aber in meiner Erinnerung ging es immer entweder um Drogen oder um Liebe. Oder um beides. Maik und Tschick ziehen nicht einmal an einem Joint, werden aber von einer merkwürdigen Familie irgendwo in Brandenburg zum Essen eingeladen und denken über außerirdische Rieseninsekten nach.

Ein Jugendbuch, das ich – jetzt, nachträglich – gerne mit Vierzehn oder Fünfzehn gelesen hätte. Und heute auch allen Erwachsenen nur ausdrücklich ans Herz legen kann.

Tschick bei rowohlt (mit Leseprobe)
Wolfgang Herrndorfer hat ein Blog.
Das Buchcover unterliegt dem Copyright des Verlages.

Bücher 2011

2010 ärgerte ich mich über meine schlechte Listenführung, 2011 fing ich an, meine Bücher ordentlich aufzuschreiben und bei goodreads einzutragen. Dort gibt es auch jedes Jahr eine reading challenge, ich habe gleich mal großkotzig 40 Bücher eingetragen. Natürlich habe ich keine 40 geschafft, sondern, auf goodreads immerhin 23. Da stehen auch ein paar Mangas und Comics, mit denen ich im September noch hoffte, die Challenge haarscharf gewinnen zu können. Aber: 2010 habe ich knappe 1600 Buchseiten gelesen, 2011 waren es 7080. „Buchseite“ ist nicht der genaueste Maßstab, aber es freut mich, dass dieser Vorsatz, mehr zu lesen, Früchte getragen hat. Ich genieße das wohlige Gefühl, im Bett zu liegen und zu lesen, mich viel ruhiger in eine Geschichte einfinden zu können als z.B. bei einer Fernsehserie. Erstaunlich, dass ich das Gefühl nicht viel mehr vermisst habe!

Es folgt die Besprechung der fünfzehn zu Ende gelesenen Büchern von 2011.

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