Runde Teller


Es war eine ruhige Nacht. Es war die ruhigste aller Nächte.
Niemand war in der Wohnung. Niemand außer mir, heißt das. Die Nacht kam durch die offene Tür herein, stand auf dem Balkon. Ich wusste nicht, ob sie neblig war, sterneglitzernd oder wolkenverhangen. Ich spürte nur ihre Kälte, die sich in mein Zimmer schlich. Ich genoss die Einsamkeit und dachte drüber nach, ob an runden Tellern Ecken fehlen können. Zumindest bildete ich mir das ein. Oder eher: Ich redete mir ein, dass ich die Einsamkeit genoss.

Niemand genießt Einsamkeit. Nicht für lange. Eine einsame Nacht, eine einsame Woche, ja, das ist kein Problem. Das nennen manche sogar Urlaub. Aber eine Ewigkeit Einsamkeit? Ich war nicht gemacht für Elfenbeintürme. Nicht nur, dass ich es ethisch bedenklich fand, aus den Hörnern und Zähnen aussterbender Tierarten einen Architektur zu machen. Es machte mir auch zu schaffen, dass ich in diesem großartigen Phallussymbol so verdammt einsam war. Und dennoch schaffte ich es nicht, diesen Turm zu verlassen. Zu laut waren meine Gedanken, die sich immer nur um diese eine Frage drehten. Drehten wie die Teller im Zirkus, hoch oben auf einer Stange, während nervöse Musik die Zuschauerinnen zum Klatschen animierte.
Ich kann nicht im Takt klatschen, vor allem nicht im Zirkus.

Runde Teller, Ecken. In einem runden Kopf kann ich nicht um die Ecke denken. Ist mein Kopf rund? Er ist kopfförmig und ich habe eine lustige Frisur. Meine Augen sind heller als die meisten anderen braunen Augen. Gelb ist keine Augenfarbe, sondern eine Krankheit. Als Neugeborenes hatte ich Gelbsucht. Oder war das mein Bruder? Wie die Hühnereier im Kindergarten lag er unter einer Rotlichtlampe, damit niemand sah, wie gelb er war. Oder wie gelb ich da lag, falls ich auch die Gelbsucht gehabt hatte, was ich nicht mehr weiß, was nicht weiter erstaunlich ist, denn nach meiner Geburt hatte ich anderes zu denken als an die Gelbsucht. Konnte ich überhaupt schon denken?

Meine frühste Erinnerung: in einem Wäschekorb sitzen und mit Spielzeug spielen, für das ich zu alt war. Das kann nicht stimmen, denn ich erinnere mich an Dinge, die sich davor abgespielt haben müssen. Aber Zeit ist keine gerade Linie, auch wenn wir sie so wahrnehmen. Oder: Auch wenn ich sie so wahrnehme. Ich weiß nicht, wie andere Menschen die Zeit wahrnehmen. Ich bin mir ja selbst nicht einmal klar, wie ich sie wahrnehme. Ich erinnere mich: ein „Was Ist Was“-Buch zum Thema Zeit, mit einer Sanduhr und einem Auge auf dem Buchdeckel. Ich habe mich gefürchtet vor dem Buch. Aber vielleicht war ich nicht alleine mit meiner Angst.

Heute bin ich alleine. Damals, als ich mit dem Zeppelin abgehoben bin in die stürmischste aller Nächte, in die dunkelste aller Nächte, habe ich mein Schicksal besiegelt. Ich bin nicht wieder gelandet. Bin ich immer noch hoch oben im Wolkennebel, der alle Sinne betäubt und nur gedämpften Schmerz durchlässt?
Ich war mir sicher, gelandet zu sein. Vielleicht werde ich erst landen, vielleicht ist auf der Erde erst eine Sekunde vergangen, ich kann all meine Gedanken, jahrzehntealt mit hinab nehmen und sie verteilen wie der Nikolaus Geschenke. Aber der Nikolaus hat keine gelben Augen, die habe nur ich und daran werden mich alle erkennen.

„Ich bin nicht Stiller!“ ist der lauteste Satz der Literaturgeschichte, völlig umsonst. Ich möchte einen Satz schreiben können, der so lange nachhallt.

Ich bin nicht einsam!
Glaubte Stiller eigentlich sich selbst?

Photo: Some rights reserved by Bernard McManus

Ein Kommentar zu “Runde Teller

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