beaucoup de mousse

Ich träume so gut wie nie oder erinnere mich nie an meine Träume, deswegen denke ich mir selbst welche aus …
Ich fahre mit der Eisenbahn durch eine flache Graslandschaft, ein Meer aus Halmen. Ich sehe den Zug von oben. Imposante Außenaufnahme, die heranzoomt und mich durch das etwas fleckige Fenster zeigt, wie ich im Zug durch die Graslandschaft fahre. Ich sitze in einem dieser altmodischen Sechserabteile. Es ist, abgesehen von mir, leer. Ich suche eine_n Gesprächspartner_in und finde sie in einer alten Dame, die zwei Abteile weiter sitzt und strickt. Sie strickt einen unglaublich langen Schal, der ihr Sechserabteil schon zur Hälfte ausfüllt. Ich kann nicht erkennen, welche Farben der Schal hat – auch nicht, wie viel Wolle die Frau dabei hat.

meadow photoPhoto by Bill Ward’s Brickpile

Ich versuche sie zu fragen, hoffe, dass sie mir die Farbe ihres Schals beschreiben kann, denn ich kann es immer noch nicht herausfinden und werde langsam etwas unruhig, weil ich befürchte, plötzlich farbenblind geworden zu sein. „Darf ich dann noch Fahrradfahren?“, frage ich, ohne eine Antwort zu erwarten.
Die Dame stellt das Stricken kurz ein, kramt in ihrer Handtasche, aus der sich ein einzelner Wollfaden zu ihren Stricknadeln schlängelt und händigt mir einen runden Bierdeckel aus.
Er ist mit Werbung für ein Bier bedruckt, das ich nicht kenne. Ich drehe ihn um und sehe, dass die Unterseite eins dieser merkwürdigen Farbenblindheitstestsbilder ist. Ich erkenne die Zahlen und atme beruhigt aus.

Ich kann dennoch immer noch nicht erkennen, wie der Schal, der sich kilometerlang im Abteil windet, gefärbt ist. Mir fällt auf, dass die Dame noch kein Wort zu mir gesagt hat und ich mein Ticket nicht bei mir habe, was in diesem Zug eine schwere Straftat darstellt. Ich eile zurück in mein Abteil, um ein Ticket ZU JEDER ZEIT an meinem Körper tragen zu können. Mit schwarzem Gaffatape befestige ich das Ticket an meiner Seite, unter dem T-Shirt und mich sogleich sicherer vor den Kontrollen von Zugbegleitung, Polizei, Zoll, Bundespolizei, Europol, NSA, CIA, Interpol und den drei Fragezeichen.

Ich möchte Minitaturwälder aus Karfiol und Brokkoli streicheln und einen Romanesco in die Mitte meines Parks setzen. Es wäre schön, wenn es kleine Minitaturbäume und -wälder gäbe, die ich mir auf die Fensterbank stellen und zu gießen vergessen könnte. Noch viel schöner wäre es, wenn ich diese Wälder streicheln könnte wie Katzen.

Hinter der Fensterscheibe ist immer noch nur Grasland, es hört nicht auf und ich fürchte schon, dass der Zug niemals ankommen wird. Es stört mich nicht sonderlich, denn ich habe es nicht eilig, und das ist das beste Gefühl, das ich auf Reisen haben kann. Vorfreude oder Nervosität sind nicht die besten Reisebegleiterinnen, die Ruhe ist es. Die Ruhe lacht Verspätungen ins Gesicht, sie lässt mich Schienenersatzverkehr mit einem stoischen buddhahaften Grinsen ertragen.
Aber in Wahrheit habe ich keine Ruhe. Sie war nachgemacht, in geheimen Werkstätten in Kellergeschossen von verlassenen Fabriken nachgemacht und nachträglich gefälscht. Ich weiß das, genauso wie ich weiß, dass „die Behörden“ meine Fake-Ruhe beschlagnahmen werden, wenn sie sie bemerken.

romanesco photoPhoto by cyclonebill

Ich mache mich mit meinem an meine Seite getapten Ticket auf die Suche nach koffeinhaltigen Getränken und wandere den schmalen Gang an tausend Abteilen entlang, gegen die Zugrichtung, weil es sich gegen die Zugrichtung am Besten läuft. Gebirge von Koffern verstopfen den Gang, ich muss mühsam über sie klettern. Es ist nicht sehr anstrengend, aber nach einigen Kilometern hätte ich wirklich gerne endlich meinen Kaffee mit extra viel Schaum, denn der Schaum auf dem Kaffee macht nervös. Ich brauche etwas oberflächliche Nervosität, um „die Behörden“ an der Nase herumzuführen, sollten sie nach gefälschten oder nachgemachten Gefühlen suchen.

Meine Odyssee kommt auf ein Ende, als ich am Zugende auf den Zug-Starbucks stoße, in dem ich einen halben Liter Kaffee mit extra viel Schaum bestelle. Das versteht die Person hinter der Starbuckstheke natürlich nicht, weil in Starbucksfilalen einfach immer eine andere Sprache gesprochen wird. « Un demi litre de café avec beaucoup de mousse s’il vous plaît ! »« Et si ma ne plaît pas ? », fragt die Starbucksperson, die erstaunliche Ähnlichkeit mit einem Wolf in Battlestar Galactica-Uniform hat. Sie merkt, wie ruhig ich bin, wie ich ihr in die sehr hellbraunen Wolfsaugen starren kann, ohne zu blinzeln, fast ohne Puls, wie eine Bronzestatue, deren einziges Verlangen ein halber Liter Kaffee mit extra viel mousse ist.

Sie reicht mit den Kaffeebecher, auf dem mein Name falsch geschrieben ist. „Jöel“ steht da. Viele Menschen schreiben meinen Namen so. Besser irgendwo Punkte als überhaupt keine. Als wollten sie sagen: „Hey, ich hab dein Geschenk in das Zeitungspapier eingewickelt, in dem mein Fisch eingepackt war, aber besser als überhaupt kein Geschenkpapier, oder?“
Ich verstehe nicht, warum sie „Jöel“ geschrieben hat, immerhin habe ich ihr meinen Namen doch mündlich mitgeteilt. Vielleicht liegt es an der Starbuckssprache, die zu sprechen die Wolfsperson gezwungen ist? Ich leere den Becher auf einen Zug, mit sehr lauten Schluckgeräuschen, die im ganzen Zug zu hören sind. Bei meinem letzten Schluck springt der Zug kurz aus den Gleisen, fasst sie aber wieder, so laut die GLUCK GLUCK GLUCK-Laute, mit denen ich den Schaum meinen inneren Organgen zur Weiterverarbeitung übergebe.

Gerade noch rechtzeitig, denn in diesem Moment betritt eine Gruppe großer Männer in schlecht sitzenden Uniformen den Starbucks. Ich gebe mich ganz cool und wippe leicht mit dem Fuß, als wäre ich überhaupt nicht ruhig. Ich stehe vor der Vitrine mit Kuchen, Brownies Cupcakes, Keksen, Cookies und Würsten und sehe mir jedes Stück sehr interessiert an, während mein Fuß gegen den Takt der Musik wippt und ich meine Finger bewege, als würde ich insgeheim etwas zählen.

Die Wirkung der mousse setzt ein.

Die uniformierten Männer bestellen alle klaren Kaffee. Eine Weltneuheit, die in kleinen Schnapsgläsern serviert wird. Es handelt sich um vollkommen durchsichtigen Kaffee, der nicht zu wach macht. Mit genau diesem Slogan wird er verkauft: „macht nicht zu wach!„. Die Zielgruppe besteht aus Menschen, die in ihrem Beruf physisch präsent und aufmerksam sein müssen, geistig jedoch nicht gebraucht werden. Sie können vor sich hindämmern, während ihr Körper ihre Arbeit erledigt. Bisher konnte sich noch keine gesetzgebende Instanz dazu durchringen, die Substanz zu reglementieren oder gar zu verbieten. Politikwissenschaftler_innen sehen einen Zusammenhang zwischen dem Konsum in Parlamenten und der völligen Deregulierung des klaren Kaffees.

Ich muss dennoch auf der Hut sein, denn ich bin mittlerweile sehr nervös. Das könnte die schläfrige Aufmerksamkeit der Uniformierten aufwecken. Sie würden mich sicher untersuchen wollen und mein an meine Seite getaptes Ticket für suspekt erklären. An meinem kleinen Finger finde ich einen Faden, der mir den Weg zurück zu dem Abteil der strickenden Dame zeigt. Es geht die ganze Zeit nur geradeaus, denn ich befinde mich in einem Zug mit einem sehr schmalen Gang.

Zurück in ihrem Abteil bedanke ich mich bei der Dame, sie sich als Ariadne vorstellt, was eine unglaublich große Überraschung für mich ist. Mir fallen tatsächlich Schuppen von den Augen, die sogleich in dem Schal versteckte Katzenbabys aufklauben und verspeisen.

Ich bin ein nervöses Wrack, kann Ariadne nur mit Mühen ihren Wollfaden zurückgeben und kehre in mein Abteil zurück. Die Schiebetür lässt sich nicht schließen, ein Finger steckt drin. Sie gehört einem der Uniformierten, die mein Ticket kontrollieren wollen. Ich hebe mein T-Shirt und erkläre, dass ich Angst hatte, gegen die geltenden Regeln zu verstoßen. Die beiden Uniformierten, es sind wohl Zugbegleiter, betreten mein Abteil, bücken sich und betrachten das Ticket, das nach wie vor an meinem Körper klebt. Sie bewundern die filigrane Schrift, das moderne Design und den Stempel der luxemburgischen Eisenbahngesellschaft, der einen roten Löwen zeigt (obwohl die Stempeltinte blau ist).

Der Zug fährt in den Bahnhof ein. Er sieht aus wie alle anderen Bahnhöfe und steht irgendwo im Nirgendwo. Genau hier muss ich aussteigen, auf einen Bahnsteig aus Beton, mit leichtem Flimmern im linken Herzen.deserted train station photoPhoto by Comefilm


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Kommentare

2 Antworten zu „beaucoup de mousse“

  1. Eine ganz wunderbare Geschichte, danke für den inneren Kurzurlaub!

  2. […] aus Prinzip nicht. Ich möchte wieder endlos mit einem Zug durch die Landschaft fahren und durchsichtigen Kaffee trinken. Ich weiß, dass ich das heute nicht mehr schaffe, aber es ist ein Ziel, das ich mir stecken kann, […]

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