Die grauen Hefte

Deckblatt des "Buch der Skizzen und Notizen Band III"
Ich bin gerade wieder auf Sommerfrische in Luxemburg. Ich finde es nie leicht, in mein Jugendzimmer zurückzukommen, weil hier natürlich sehr viele Erinnerungen wach werden an Zeiten, die nicht immer so leicht waren. Vieles davon ist auf dem Blog hier dokumentiert, manches nur angedeutet, einiges habe ich vielleicht auch nie aufgeschrieben. Mit ungefähr Vierzehn habe ich neben dem Blog auch angefangen, eine analoges Notizheft zu pflegen, um nicht auf eine Losblattsammlung angewiesen zu sein. Ich wollte ein schwarzes Heft, es gab aber nur ein graues. Ein graues Heft der Marke Atoma im NichtganzA4-Format wurde zu meinem Markenzeichen, und ich fand das besser als Moleskine, weil es mein eigenes Ding war. Mittlerweile besitze ich einige Moleskine, benutze die aber viel seltener als meine grauen Hefte zu Schulzeiten, die ich wirklich überall mit mir mitschleppte. Ich habe mich gestern zum ersten Mal seit Jahren getraut, diese Notizhefte wieder aufzuschlagen und habe ein paar Einträge abfotografiert.

Ich hielt damals sehr oft meine Gedankenströme fest und tippte die Texte später ab, um Blogeinträge daraus zu machen. Heute passiert das eher in 140 Zeichen auf twitter. Ich weiß immer noch nicht, ob ich das bewerten soll, ob es mir besser gefallen würde, wieder ständig ein großes Notizbuch dabei zu haben und alles mögliche da rein zu kritzeln. Oft habe ich auch während Schulstunden die Ränder verschönert und während Zugfahrten geschrieben. U-Bahn-Schach und Trampilates haben lange Zugfahrten ersetzt und arg so viele langweilige Schulstunden, in denen ich herum kritzeln könnte, gibt es in meinem Leben auch nicht mehr.

Skizze eines EVA-PilotenDer erste Band des „Buch der Skizzen und Notizen“ ist beinahe zur Gänze NEON ODED gewidmet, meiner Neon Genesis Evangelion-Fanfiction, die ich damals natürlich niemals als Fanfiction bezeichnet hätte. Genaueres über dieses Projekt habe ich unter „Zehn Jahre Schreiben“ aufgeschrieben, im Blog habe ich nie etwas davon veröffentlicht, weil ich es zuerst fertigschreiben wollte. Das hat natürlich nicht geklappt, dafür gibt es jede Menge Skizzen, Tabellen mit Synchronisationswerten der (N-)EVA-Pilot_innen und Pläne der Handlungsorte. So zum Beispiel auch eine Zeichnung des Helden. Neben mir kamen ganz viele Schulkameraden in der Handlung vor, teils als Mit-Helden, teils als Verräter. Die jungen weiblichen Charaktere/Pilotinnen übernahm ich aus Neon Genesis Evangelion oder erfand sie. Auch spannend. Lehrer_innen kamen sowohl als gute, weltrettende Mentor_innen, als auch als Widersacher vor.
das Finale von NEON ODED
Den Kunstlehrer, der in diesem Versuch des Finalkampfes (leider nicht zu Ende geschrieben, ich kann euch also nicht verraten wie es ausgeht) die wunderbare Zeile „Mein war das teuflische Hirn, das diesen Plan entwarf“ spricht, mochte ich eigentlich. Es kann aber gut sein, dass einige (ehemalige) Klassenkameraden, denen ich jeden Tag eine neue Manuskriptseite zum Lesen lieferte, ihn nicht so mochten und ich natürlich auch für mein Publikum schrieb. Oder der Mann hätte halt einfach einen guten Superbösewicht abgegeben.

Skript von "HATE ME"Ab dem zweiten Band (der als erstes einen Titel trägt) wurden die Notizen thematisch diverser und die an Cowboy Bebop angelehnte Weltraumoper rund um ein Kopfgeldjäger_innentrio ergänzte die Kampfroboteraction als zweites großes Projekt. Auch hier gibt es viele Skizzen, vor allem Raumschiffe, taxonomisch geordnet. Dazwischen finden sich immer wieder Fragmente: Gedichte, nicht reimende Songtexte oder kurze Satzfetzen, die wie Hilfeschreie wirken. Vieles von dem, was in den grauen Heften steht, ist melancholisch, verzweifelt, wütend, traurig. Der Versuch eines Drehbuchs, das es gerade mal auf eine Seite geschafft hat, zeigt auch das. Hintergrundgeschichte ist, dass ich bereits ein „Drehbuch“ geschrieben hatte, das aber in einem Festplattencrash verloren gegangen ist. Ich hielt das verlorene Dokument für brillant, konnte mich aber nicht mehr an die Details erinnern und trauerte dem Stück nach (TW für das Bild: Beschreibung von selbstverletzendem Verhalten).

Manchmal schrieb ich auch Blogeinträge mit dem vollen Wissen, gerade Blogeinträge zu schreiben:
graues Heft - Überschrift eines Manual Weblog Eintrages
Das war einer meiner letzten Familienurlaube. Da es noch keine mobilen Endgeräte zum Bloggen gab, musste ich die Blogeinträge per Hand verfassen und habe sie danach natürlich brav abgetippt. Das ist alles sehr unsensibel geschrieben, Familienurlaub fand ich mit Fünfzehn wohl sehr ätzend.

grauehefte_pendelDie ersten Seiten der frühesten Hefte habe ich ziemlich aufwändig gestaltet, druckte Bilder und Zitate aus, unter anderem den Anfang meines Lieblingsbuches. Viele Zettel, die ich aufbewahren wollte und musste, stecke ich ebenfalls in die Hefte, immer an den Anfang. Das macht es schwieriger, sie chronologisch einzuordnen (das Anfangs- und Enddatum der meisten Hefte sind darin notiert). Da finden sich Stundenpläne, ausgedruckte Emails (ja, anders konnte ich damals Informationen, die mir per Mail geschickt wurden, nicht mitnehmen!), Flyer für Friedensdemos und Magazinreleases und am PC geschriebene Dinge, die ich zum Schreiben brauchte, Charakterbeschreibungen zum Beispiel. Ein Band fängt mit gleich drei sinnstiftenden Zitaten an, um dann auf den nächsten Seiten sowohl „in Erinnerung an meine Sterblichkeit“ die Geografie der Hölle (Neun Kreise) als auch „in Erinnerung an meinen Unglauben“ das Zeroistische Manifest eingeklebt zu sehen. Widersprüchlich war mein zweiter Vorname.
Sinnsprüche

Comic gab es auch, in den meisten kamen Lehrer_innen vor, die mit Klonarmeen die Weltherrschaft an sich reißen wollten und von den Powerpuffgirls gestoppt wurden. Da ich nicht weiß, wie akkurat ich die Person gezeichnet und benannt habe, fotografiere ich das lieber nicht ab. Einen kurzen Abstecher in das Zombie-Genre machte ich jedoch auch:
ZOMBIE ATTACK Comic

Eine eigene Rock/Punkband zeichnete ich mir auch. Die habe ich damals eingescannt, aber die Scans waren in den Originalpostings per flickr eingebunden und sind nicht mehr zu sehen.
Punkband.
Wer eine Punkband hat, kann auch ein Punk-Modelabel brauchen:
DIE! a punk-fashion label
Mit Model:
grauehefte_punklabel02

In späteren Heften schrieb ich mir den (zumindest zu dem Zeitpunkt akuten) Frust mit der luxemburgischen Linken vom Hals:
Textauschnitt "livin la vida loca"
Textauschnitt "livin la vida loca"
Den Anfang dieses Textes steht hier online, allerdings habe ich den zweiten Teil wohl nie abgetippt. Ich weiß nicht, ob ich das schade finden soll oder nicht (Der verlinkte Text ist an vielen Stellen kackscheissig).

Manche Seiten blieben unbeabsichtigt weiß, andere beabsichtigt nicht:
this page was intentionally not left blank

Ich fand gestern beim Blättern dann noch ein paar Dinge, die mir immer noch sehr gut gefallen, wie diese Gedichte:
blub blub blub
die Tränen eines explodierten Wales
Der explodierte Wal schaffte es ins Blog – und wenn ich mich richtig entsinne, sogar auf meine allererste Lesung.

Wer sich gefragt hat, wieso dieses Blog so heißt, wie es heißt: Auch darauf findet sich sich eine Antwort in den grauen Heften.
Ein Plädoyer für die post-apokalypse

Mit Band Neun endet das Buch der Skizzen und Notizen am (das Datum habe ich noch pflichtbewusst eingetragen) 4.11.2007. Warum ich danach kein neues Heft mehr angefangen habe, weiß ich nicht. Ich habe gestern schon spekuliert, dass twitter und facebook Schuld sein könnten, vielleicht war es aber auch ganz was anderes.
Und ein klein wenig kribbelt es mir in den Fingern, wieder ein Heft zu kaufen. Oder zumindest in die vorhandenen Notizbücher zu schreiben, zu kritzeln und Dinge einzukleben.

Ein Kommentar zu “Die grauen Hefte

  1. Famos! Ich hab leider aus ein paar Photos, Gedichten in Word-for-Windows-Format keine größeren Aufzeichnungen aus meiner Jugend mehr. Sehr grandios, dass das bei Dir noch vorhanden ist.

    Was ich auch sagen muss ist: “Ein Pädoyer für die Post-Apokalypse” gefällt mir als Bloguntertitel sogar noch besser als “Enjoying the Postapocalypse.”

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