wir werden gegoren worden sein

A Typical British Trench Raid On 8th April 1917
Ich bin unglaublich müde und ich gebe dem Albtraum, der mich vorgestern kurz nach dem Einschlafen (was soll das eigentlich?) weckte, die Schuld. Es ging, wie so oft in den letzten Wochen und Monaten um „den Konflikt“, den wir mangels eines besseren Begriffes immer nur „der Konflikt“ nennen. Ich träume so gut wie nie, weshalb ich ja auch Träume erfinde. Albträume sind noch seltener, aber es wundert mich nicht, dass ich nun davon träume, dass ich nach einem Tag voller Sitzungen und verpasster Termine erwürgt werde.

Ich glaube, ich habe unbeabsichtigt mit dem Rauchen aufgehört, außerdem wache ich jeden Tag vor 8 Uhr in der Früh auf und freue mich insgeheim ein wenig darüber. Die wilden Jahre sind vorbei, ich habe sie auf der Couch verbracht. Von der Pubertät in die Quarterfifecrisis in die Bald-Dreissig-Sinnkrise in die Midlifecrisis in die nächste Sinnkrise, usw. Das fühlt sich als Lebensplanung richtig und gut an, denn es kann nur Krisen geben, und immer wenn du denkst, Ah, jetzt habe ich etwas geschafft und habe den Sommer nur für mich und vielleicht einen Text, den ich schreiben möchte, explodiert etwas und du bist Monate damit beschäftigt, die Scherben aufzuklauben und sie mühsam mit viel zu schnell klebenden Superkleber zu kitten. Dabei kommt natürlich etwas von dem superschnellklebenden und noch viel schneller trocknenden Superkleber an meine Fingerkuppen, die ich daraufhin dreitausend Mal in der Sekunde, das ist eine Frequenz von 3000 Hz oder drei Kilohertz, auseinander und wieder zusammen bewegen muss, um so zu prüfen, ob sie zusammenkleben.

Los, nimm dir einen Stock und piekse das tote Tier damit, denn nur so wirst du erfahren, ob es wirklich tot ist oder nur so tut als ob. Auf der Autobahn zählen wir die überfahrenen Tiere, ich vergesse aber ganz, sie in diese App einzutragen, die „meine“ Universität nicht entwickelt hat, aber verwendet, um überfahrene Tiere zu zählen. Manche Dinge sollte ich sein lassen, es ist nicht immer gut, auch noch mit einem Stock zu prüfen, ob die Dinge wirklich so sind, wie sie aussehen. Kleben meine Fingerkuppe aneinander? Nein? Jetzt? Immer noch nicht? Und wenn ich sie ein bisschen länger zusammengedrückt lasse?

„Vergiss das ganze, schalt ab, genieß‘ die Ferien, mach Urlaub!“, sagen sie, als wären sie ein Anti-Stress Ratgeber eines schlechten Lifestylemagazins, das sich für meine Probleme überhaupt nicht interessiert. Ich schlafe jeden Abend im Schatten der großen Maschine und träume den großen goldenen Atombombentraum, ich kann mich nicht entspannen, ich werde mich nie entspannen können, höchstens für einen Augenblick. Ich habe noch nie gesagt: „Ich will nicht darüber reden“, denn ich will ja darüber reden. Ich will den ganzen Abend darüber reden, die ganze Nacht, bis die Dämmerung kommt und der Morgenstern als letzter verblasst. Und dann will ich nochmal von Vorne anfangen und reden und spekulieren und dann nochmal, drei Tage und drei Nächte will ich reden, bis es nichts mehr zu reden gibt, und dann will ich noch einmal von vorne anfangen und wieder und wieder und wieder und dann will ich NOCHAMAL rufen. Auch wenn es nichts bringt und ich manche Details nie herausfinden werde und ich lernen muss, mit dieser Gewissheit zu leben.

Alles ist klebrig. In der nächsten Nacht träume ich wieder, von E., in dem ich momentan halt lebe und durch das ich durchlaufen muss. Eine neue Autobrücke wird gebaut und ich muss ständig die Straßenseite wechseln. Im Traum gibt es diese Baustelle noch nicht und ich stehe dort, wo in Wirklichkeit gerade ein Bauzaun steht und rede mit meiner Schwester über Beziehungsprobleme. Es ist übrigens gerade Halbmond, falls ihr Parallelen von meinem Traumverhalten zu unserem natürlichen Satelliten ziehen wollt. An mehr kann ich mich nicht erinnern, aber der Traum war länger und hatte auch etwas mit Zelten und Camping und Dinge sammeln zu tun. Immerhin hat mich diesmal niemand erwürgt, aber mitten in der Nacht (oder was das auch heute Morgen?) bin ich schon einmal aufgewacht, weil ich (im Traum) eine unsichtbare Person neben mir liegen spürte, die mich beengte, erdrückte. Im Halbschlaf unfähig zur Bewegung, nach einer gefühlten Ewigkeit finde ich heraus, welche Glieder wo liegen und wie ich meine Muskeln so zusammenziehe, dass der Arm nach der vermeintlichen Unsichtbaren fühlen kann. Natürlich lag da außer mir niemand in meinem Bett. Ich deute das alles sehr genau: „Es geht mir nicht gut mit der aktuellen Situation“. Brillant, Doktor Freud, sie haben mich geheilt!

Hilflosigkeit ist dann am schlimmsten, wenn nicht einmal die Aussicht auf ein „Ich habe es euch doch gesagt!“ ein kleines Stückchen Genugtuung bringen würde.
Der Text wird wohl nicht besser.

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2 Antworten zu „wir werden gegoren worden sein“

  1. […] reicht es nicht. Es ist ungeklärt. Als ich damals gegoren wurde, ahnte ich: Es gibt von nun an Ereignisse in meinem Leben, die sich niemals ganz klären […]

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