In weniger als zwei Wochen ist es soweit: am 7. Juni stimmt Luxemburg per Referendum über drei Vorschläge ab, die dann in eine neue Verfassung fließen sollen. Dazu gibt es viel zu sagen, und dazu habe ich auch schon einiges gesagt: Manches über die aktionistische Facebookseite Villverspriechend Volleksvirbereedung (Vielversprechende Volksvorbereitung), anderes in meinem Podcast/meiner Radioserie Angscht a Schrecken zu Lëtzebuerg (über die gestrichene vierte Frage, die Rolle des Staatsrats, die vorgesehene Sprachenregelung der neuen Verfassung, dem Mitmach-Nationbranding, das Partizipation in der Verfassungsreform ersetzt, die gestrichenen Bürger_innenforen und die merkwürdigen Argumente des „Nee“ gegen das Ausländer_innenwahlrecht) und die üblichen Kommentar über Twitter und Facebook. Heute werde ich hingegen das Wahlalter und die Mandatsbegrenzung unter die Lupe nehmen.
Im Mittelpunkt der Debatte steht das Ausländer_innenwahlrecht, oder genauer: das Wahlrecht für Menschen ohne luxemburgische Staatsangehörigkeit, die mindestens zehn Jahre im Großherzogtum leben und schon einmal an einer EU- oder Gemeinderatswahl (beides bereits seit Jahren für alle, die sich auf Wähler_innenlisten eintragen lassen, möglich) teilgenommen haben. „Natürlich“ wird die Debatte hauptsächlich mit mehr oder weniger offen rassistischen Argumenten geführt. Bei den Gegner_innen dominiert angeblich die Angst, die luxemburgische Sprache würde durch die Ausweitung des Wahlrechts verschwinden. Auch die Tatsache, dass es sich um ein „Wahlrecht“ (und nicht wie bei Luxemburger_innen um eine Wahlpflicht) handelt, wird gerne als Pseudoargument benutzt, obwohl es überhaupt nichts mit der Realität – weder mit der tatsächlich durch die einmalige Ausübung des Wahlrechtes eintretende Wahlpflicht für Ausländer_innen, noch mit der seit den 1960ern nicht mehr praktizierten Ahndung von Nichtwähler_innen – zu tun hat. Ich will aber heute nicht über diese Frage schreiben, die Antwort darauf sollte, sofern das System der parlamentarischen Demokratie nicht grundsätzlich zur Debatte stehen soll – klar sein: in Luxemburg darf aktuell nur ungefähr die Hälfte der Bevölkerung wählen, Nationen halten scheinbar nur noch durch Fußball und den Songcontest zusammen; das Wahlrecht an den Wohnort zu binden scheint nur logisch.
Unreife Journalist_innen.
Die Debatte um die Herabsetzung des Wahlalters, bzw. die Schaffung der Möglichkeit von 16– 18-Jährigen, sich freiwillig ins Wähler_innenverzeichnis eintragen zu lassen und damit frühzeitig die Wahlpflicht anzunehmen (Nein, dieses Referendum hat es nicht geschafft, die Thematik auf drei einfache Ja/Nein-Fragen runterzubrechen), wird kaum geführt. In der Wahlempfehlung der größten luxemburgischen Tageszeitung werden dem Thema nur knapp 250 Wörter geschenkt: weniger als den beiden anderen Referendumsfragen. Ebensowenig wurden die angeblich ach-so-unreifen und unpolitischen Jugendlichen auch nur ansatzweise in die Debatte eingebunden. Vielleicht wollte einfach kein Medium Politiker_innen zumuten, interessierten Jugendlichen ins Gesicht sagen zu müssen „Ihr seid zu unreif zum Wählen, weil ihr noch nicht lange genug lebt“. Oder aber, wie das Wort es tut: „Es werden vermutlich nicht so viele von euch Lust haben, von dem Recht Gebrauch zu machen, daher haben wir auch keine Lust, es euch zu geben“.
Unpolitische Erwachsene.
Aber was ist eigentlich mit „Erwachsenen“? Wann gab es in Luxemburg zuletzt eine Demonstration mit über 15.000 Teilnehmer_innen, die sich mit Politikfeldern, die besonders für Menschen zwischen … sagen wir mal 30 und 50 Jahren (etwa zum Thema „Cheques services“) interessant sind? Wenn diese Menschen – wie es scheint – alle so uninteressiert an Politik sind, sollten wir ihre Mitbestimmungsmöglichkeiten nicht auch in Frage stellen? „Natürlich“ tut das niemand, weil es einen gesellschaftlichen Konsens darüber gibt, wer in der Lage ist, Wahlentscheidungen zu treffen. Nicht alle 16jährigen sind politisch interessiert oder gar informiert. Das gilt aber genauso für alle 26-, 36-, 46-, 56-, 66-Jährigen (die 76-Jährigen müssen nicht mehr wählen gehen, die Wahlpflicht gilt bis 75 Jahre). Und Luxemburg hat irgendwann entschlossen, dass nicht-interessierte Menschen nicht selbst entscheiden dürfen, ob sie wählen gehen oder nicht, sondern eine Wahlpflicht eingeführt. Umso absurder, interessierte Jugendliche mit „Eigentlich ist es mir Wurscht, aber wenn ich Nein stimme sieht es nicht so aus als würde ich die Liberal-Sozialdemokratisch-Grüne Koalition gut finden“-Argumenten das Recht auf die Wahlpflicht zu verweigern.
Auffrischungskurs Politische Bildung.
Oft wird fehlende politische Bildung, beziehungsweise die Lehrpläne, die politische Bildung erst sehr spät im Leben der Schüler_innen einführen, als Argument gegen das Recht auf die Wahlpflicht angeführt. Das ist natürlich Blödsinn. Einerseits zeigt es sehr, wie undurchlässig class als soziale Kategorie in Luxemburg ist: in technischen Lyzeen gibt es das Fach „education civique“ ab der 10. Klasse, also weit unter dem aktuellen Wahlalter. Andererseits ändert sich durch eine frühere Einführung von politischer Bildung als Schulfach natürlich nichts daran, dass in luxemburgischen Schulen kaum über politische Inhalte diskutiert wird. Wenn ich verstehe, wie Großherzog, Staatsrat, Parlament und Regierung als System funktionieren, kann ich dennoch nicht unbedingt eine informiertere Entscheidung in der Wahlkabine treffen. Vielleicht könnten luxemburgische Lehrer_innen ihre Besinnungsaufsätze zum Thema „Pro/Contra Todesstrafe“ abschaffen und die Aufgaben zu … aktuellen, politischen Themen, die die Lebenswirklichkeit ihrer Schüler_innen betreffen, stellen.
Und selbst wenn es überhaupt keine politische Bildung in den Schulen gäbe: Das ist immer noch kein Argument, interessierten Menschen das Recht auf die Wahlpflicht zu verweigern. Sonst gäbe es ja es obligatorische Auffrischungskurse für alle, die die Schule schon etwas länger verlassen haben, oder? Und wenn wir alles, was wir im Leben bräuchten, ausschließlich in der Schule lernen könnten, würde keine_r von uns Auto fahren.
Die Juncker-Klausel.
Und da wäre dann noch die Juncker-Klausel, oder offiziel: die Mandatsbegrenzung für Minister_innen auf zehn aufeinanderfolgende Jahre. Die Frage wird zurecht kritisiert, weil sie Symptombekämpfung für ein Problem ist, das ganz andere Wurzeln hat: in Luxemburg sind Politiker_innen oft sehr lange an der Macht und haben es dann aufgrund des stark personenzentrierten Wahlsystems einfach, sich dort zu halten. Das könnte durch Änderungen im Wahlsystem (ein Wahlbezirk statt vier regionale Bezirke, Abschaffen des „Panaschierens„, usw.) wohl auch erreicht werden. Für solche Änderungen gibt es offensichtlich keinen verfassungsänderungsfähigen Konsens, also: Mandatsbegrenzung für Minister_innen auf zehn Jahre. Ich halte die Idee, dass Minister_innen nach zehn Jahren keine neuen Ideen mehr hätten, für kompletten Quatsch. Ich halte Führer_innenkult und „Das haben wir immer schon so gemacht“-Phänomene für viel gefährlicher. Außerdem: Je länger sich Minister_innen halten, umso schwieriger wird es für jüngere Generationen (und spezifischer: alle, die nicht weiß, cis, männlich, Mittelklasse+ und „mittelalt“ sind), ihre politischen Ideen, Probleme und Anliegen „in die Politik“ (auf welcher Ebene auch immer) zu tragen.
Zusammenspiel.
Je mehr Argumente ich gegen die Mandatsbegrenzung gelesen habe und je mehr ich darüber nachgedacht habe, umso stärker bin ich der Überzeugung, dass die Herabsetzung des Wahlalters und die Mandatsbegrenzung sich gut ergänzen könnten: Junge Menschen fangen durch das herabgesetzte Wahlalter früher an, sich für Politik zu interessieren – und zu einem gewissen Teil sicherlich auch in der Parteipolitik zu engagieren, durch die Mandatsbegrenzung müssen die Parteien sich besser um ihren Nachwuchs kümmern und – plop! – das vorher beschriebene Problem löst sich zumindest zum Teil. Wenn die Parteien nicht das „zehn Jahre Minister_in, fünf Jahre Parlament, zehn Jahre Minister_in“-Spiel spielen und die restlichen Listenplätze in der Hoffnung auf ein paar übriggebliebene Panaschage-Stimmen mit Sportler_innen und Promis füllen. Letzten Endes entscheiden natürlich die Wähler_innen, wer ins Parlament kommt, aber die Wahlvorschläge werden von Parteien zusammengestellt. Insofern kann die Mandatsbegrenzung ein Instrument sein, diese zur Selbsterneuerung zu bewegen.
Aktuell ist das luxemburgische Wahlsystem darauf ausgelegt, ewig „more of the same“ zu reproduzieren. Auch die aktuelle Koalition hat daran noch nichts geändert (nicht, dass sie es ernsthaft versucht hätte). Vielleicht könnten zumindest diese minimalen Änderungen des Wahlrechts innerhalb der Verfassung auf lange Sicht für frischen Wind sorgen. Es ist auf jeden Fall besser, es zu versuchen als schulterzuckend „Ja eh, aber dann doch lieber nicht“ zu sagen und am 7. Juni „Nee“ zu stimmen.
Ceterum censeo es hätte eine richtige Debatte mit Mitbestimmungsmöglichkeiten über die gesamte Verfassungsreform gebraucht.
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