Gebirge I

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Ich stehe in einem unmöglichen Gebirge. Die Felsen sind grün, wie geschliffener Speckstein und haben viel zu perfekte Formen. Zumindest scheinbar, denn bei näherem Hinsehen offenbart sich, dass die Pyramide abgeflachte Spitzen oder der Quader eingedellte Kanten hat. Ich fühle mich sofort unwohl, denn ich erkenne an den kleinen Gipfeln am Horizont, dass ich mich sehr hoch oben befinden muss. Ich habe noch keinen Anfall von Höhenangst, aber da ist etwas in meinem Bauch, das sich nicht gut anfühlt. Ich betrachte die skurrilen Formen der Felsen, die am Rand des Weges stehen, wie Skulpturen einer nicht sehr gut besuchten Ausstellung.

Es ist still. Der Wind pfeift nicht bedrohlich und keine Adler oder Rabenvögel krächzen ihr Standardtonbandgekrächze. Ich atme tief ein und aus. Der Himmel ist wolkenlos, ein tiefes, bedrohliches Blau, so rein wie die Luft in dieser Höhe, die außerdem meine Haare vom Schmutz der Stadt reinigt und mein Sehvermögen verbessert. Ich weiß nicht, in welche Richtung in den Weg gehen soll, aber ich vermute, dass ich nach oben soll. In mir gibt es einen merkwürdigen Drang, weiter nach oben zu gehen und zu überprüfen, ob der Himmel tatsächlich aus blauem Glas besteht, wie es von hier aus aussieht.

Ich komme an einem Mann vorbei, der mit verbundenen Augen zwei weiße Handtücher anfasst. Er will herausfinden, welches mit dem teueren Waschmittel gewaschen wurde und deswegen extra flauschig ist. Ich verrate ihm das Geheimnis flauschiger Wäsche: Im Trockner trocknen! Er streicht sich durch seinen langen weißen Bart und murmelt etwas von Metaanspielungen in Träumen und dem Urheber_innenrecht. Ich kann das alles nicht ernst nehmen und sage nichts mehr, auch dann nicht, als sich ein seltsam lautloses Vogelpaar sein Nest auf einem der beiden Handtücher baut.

An meinem Gürtel baumeln lustig kleine Gegenstände, deren Funktion und Name ich nicht benennen kann, nur die schwarze Sphäre, die ganz links an meiner Hüfte hängt und jedem Schritt nach vorne wie ein Gegengewicht nach hinten pendelt, kommt mir bekannt vor. Ich nenne sie Kompass, obwohl sie keine Nadel hat und ich keine Karte besitze und mir relativ sicher bin, dass es meiner Lage nicht weiterhilft, wenn ich weiß, wo Norden oder ein ausreichend großes Depot an magnetischem Gestein ist. Der Weg, mit feinem Kies markiert, hört plötzlich auf. Stattdessen gibt es gigantische Treppe mit Stufen, die über einen halben Meter hoch sind, die ich erklettern könnte. Zögernd greife ich nach dem Kompass, der praktisch an einem ausfahrbaren elastischem Band an meinem Gürtel hängt, und halte ihn in die Luft.

Er zeigt nach Norden. Ich muss weiter nach oben, um zu sehen, ob der Himmel tatsächlich undsoweiter. Kühn strecke ich den Hals in die Höhe und spüre die Verzweiflung, die meine Wirbelsäule erklettert. Am Rücken trage ich ein Rund, das sich durch pures Hinwerfen in ein Zelt verwandelt. Ich werfe es und beschließe, für den Rest des Tages alles zu schmeißen. Morgen werde ich weitergehen, Morgen!

photo by Blake Richard Verdoorn

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