Schlagloch

schlagloch

Früher habe ich Texte über mein kompliziertes Gefühlsleben geschrieben, heute habe ich kein kompliziertes Gefühlsleben mehr. Tag as: Lieber nicht daran denken. Das ist komfortabel, aber es funktioniert natürlich nur so lange, bis es irgendwann nicht mehr funktioniert. Ich könnte über meine Wut und meinen Frust in diversen Projekten schreiben, aber ich weiß nicht, ob das wirklich Wut und Frust ist. Oder nur der Cynar (Artischockenlikör, wie gut ist das eigentlich?) in meinem Magen. Oder ich könnte über alles das schreiben, was heraus kommt, wenn ich tief in mich rein schaue. Angst vor der Zukunft, dem Tod, Einsamkeit, Zweisamkeit, von allen Menschen lächerlich gehalten zu werden. Heute schreibe ich also Texte über die Texte, die schreiben könnte, wenn ich denn wollen würde. Oder wollen könnte.

Ich starre in einen Abgrund, der überhaupt keiner ist. Es ist mehr ein Schlagloch. Ich könnte meine Tasse Tee ausleeren, der Tee würde einen kleinen See darin bilden. Eher eine Pfütze. Ich faltete ein kleines Papierschiff aus einem hellgrünen Notizzettel und es schwimme langsam auf dem rotbraunen milchigem Teesee. Ich schiebe eine Hand in die Tasche (die andere bräuchte ich ja, um die Teetasse festzuhalten), blickte abwechselnd konzentriert auf das Papierschiff und mit abwesendem Blick in den grauen Himmel, in dem sich unterschiedliche Wolkenschiffe vor- und hintereinander schieben, ein troposphärisches Ballett von unbestimmter Bedrohlichkeit. Eine schöne Beschäftigung, die mich beruhigte und meinen Wunsch nach einem Abgrund langsam auflöste.

Aber ich will meinen Tee nicht in das Schlagloch ausleeren. Viel lieber möchte ich mit der Spitze meines Schuhs darin herumwühlen, bis ein Steinchen locker wird. Das lasse ich dann im hohen Bogen herausspringen, um es dann auf den Gehsteig zu kicken. Vielleicht ist noch ein Steinchen locker, vielleicht kann ich einen Abgrund graben, der sich durch noch so viel Tee nicht auffüllen lässt.

In der Ferne ist ein Zug zu hören. Das ist banal, aber es ist eine Konstante in meinem Leben. Mir fällt das jetzt erst auf. Es beruhigt mich. Kein weiteres Steinchen ist locker. Zumindest nicht heute.

Photo by Daquella manera

Ein Kommentar zu “Schlagloch

  1. Pingback: Lesestoff • Ausgabe #1/2016 - Neon|Wilderness

Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *