Nur ein Wort.

Als ich die Person, die ich einst Ruth nannte, wiedertraf.

Gemälde. Im Hintergrund sind Berge und ein, zwei kleine weiße Häuser zu sehen. Im Vordergrund stehen zwei Gestalten in der Kleidung antiker Soldat*innen

„Du bist nicht …?“
Meine Stimme ist nur halb so laut, wie ich mir es gewünscht hätte. Sie zittert, sofern das bei dem kurzen Satz überhaupt möglich ist. Ich weiß nicht einmal, ob sie weit genug trägt, um von der unbekannten Person – von der ich sicher war, wer es war – überhaupt gehört zu werden. Aber macht das jetzt noch einen Unterschied? Ich weiß weder, wo ich bin, noch mit wem ich rede. Und schon gar nicht, warum. Dies ist kein Höhepunkt, dies ist der Tiefpunkt der ganzen Geschichte.

„Nein. Das ist nicht mein Name. Mein Name ist dir viel länger bekannt.“
Es dämmert mir. Im wahrsten Sinne des Wortes, denn so wie die Erde sich in quälender Langsamkeit um ihre eigene Achse dreht und den Betrachter (in diesem Falle mein inneres Auge, das sich eine viel zu komplizierte Metapher ausdenkt) wieder in Richtung Sonne schiebt und dabei zuerst den Horizont in ein immer helleres Dunkelblau kleidet, um langsam – unter dem majestätischen Konzert von Vögeln und Grillen, das jede schlaflose Sommernacht spöttisch beendet – immer heller zu werden, bis endlich der glühende Feuerball auftaucht und die ersten Strahlen alles, was eben noch im Halbdunkel lag, hell erleuchtet.

Es dämmert mir also, dass ich nicht mit P. rede, wie ich befürchtet hatte. Befürchtet und gleichzeitig herbeigesehnt, wenn wir komplett ehrlich sind. Und ich bin nicht in den Brunnen gestiegen, um nicht ehrlich mit mir zu sein. Ich spreche mit der Person, die ich einst „Ruth“ nannte, bis ich einen neuen Namen für sie brauchte. „Die Person die wir einst Ruth nannten“ ist kein besonders griffiger Name, unpraktisch und leider popkulturell auch schon einmal benutzt. Die Person hat sich einen neuen Namen gegeben, der unaussprechlich für alle Menschen ist. Sie kann die Gestalt wechseln, warum sollte sie nicht einen Namen haben, dessen Aussprache die Generierung von Frequenzen verlangt, zu denen menschliche Stimmbänder nicht fähig sind?

„Du bist die, die wir Ruth nannten.“

Ich möchte hinzufügen: „Die, mit denen wir die besten Nächte erlebten.“, aber so weit komme ich nicht. Meine Stimme ist ruhiger, weniger hoch, aber immer noch leicht zitternd. Wie um mich selbst darin zu bestätigen, dass ich laut und kraftvoll reden kann, sage ich den Satz noch einmal, diesmal lauter, mit Nachdruck, als wolle ich, dass die Betonkathedrale unter meinem Satz erzittert: „Du bist die, die wir einst Ruth nannten.“

Die Person lächelt. Ich weiß das, obwohl ich sie nicht sehe, obwohl ich nichts höre. Es ist auch keine Vermutung, die aus langer Bekanntheit entstanden ist. Es ist auch kein „Ich fühle das“, es ist glasklar: Ich weiß es.

„Richtig.“, sagt die Person. Ihre Stimme ist genauso ruhig wie meine. Nein; ruhiger. Sie ist nicht laut, nicht angespannt, aber dennoch bestimmt. Ich denke „Aber sprich nur ein Wort …“ und vermute das erste Mal, die Tragweite dieses Satzes erkannt zu haben.

„Ich dachte, du hättest den Zeppelin verlassen? Ich dachte, ich wäre tief unter der Erde, im Brunnen, auf der Suche nach …“

„Nach was?“
Wieder weiß ich, dass die Person grinst. Ich fühle mich, als hätte ich eine Marienerscheinung, nur mit einer sehr viel erotischeren Beziehung zu Maria, als vermutlich die meisten Menschen, die eine Marienerscheinung hatten, je hatten. Es gibt nur eine Möglichkeit, damit umzugehen. Mit der ganzen Situation. Und vor allem mit der Person, die ich früher Ruth nannte. Ich kann nicht vor ihr niederknien und sie anbeten, als sei sie ein übersinnliches Wesen mit übergroßen weißen Taubenflügeln am Rücken.

„Nach mir selbst. Das weißt du doch wohl selbst am besten. Aber warum bist du hier?“

Die gleiche banale Frage.

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