Als Nakia sich mit einer Krähe anfreundete

Krähe oder Rabe? Das ist eine Frage, die sich moderne Stadtmenschen immer wieder stellen. Sie versuchen dann, sich Dinge zu merken, wie die Schnabelfarbe oder die Farbe der Füße. Die aber nichts darüber aussagen, ob eins es mit einer Krähe oder einem Raben zu tun hat. Im Wesentlichen gibt es auf die Frage eine gute Antwort: Wenn du einen Raben siehst, wirst du es merken, weil die Viecher verdammt groß sind.
Das auf dem Balkongeländer war also eine Krähe. Vielleicht ein etwas größeres, dickeres Exemplar, aber definitiv kein Rabe. Sie stecke ihren Schnabel in den Sichtschutz aus Bast und stocherte darin herum. Hätte Nakia es nicht besser gewusst, wäre sie der Überzeugung gewesen, die Krähe hätte ihren Sichtschutz zerstören wollen. Aber sie kannte Krähen. Nicht diese spezielle Krähe, aber insgesamt hatte sie eine ganze gute Beziehung zu Rabenvögeln.
Als sie die kühle Wintermorgenluft des Balkons betrat und sich ihr die Nackenhaare aufstellten, gab sie entgegen jedes Instinktes ihre Kapuze runter. Ihre Hände steckten beiden sogleich wieder in der Bauchtasche, wo sie eine Erdnuss aus der Schale befreite. Die Krähe sah sie an, stocherte dann aber gleich wieder an dem Sichtschutz heran, als sei sie überhaupt nicht an Nakia interessiert und als habe sie kaum bemerkt, dass sie nicht mehr alleine auf dem Balkon saß. Nakia kränkte das ein wenig. Sie ließ sich nichts anmerken, blinzelte und grinste die Krähe an.
„Guten Morgen!“, sagte sie mit so viel Enthusiasmus wie sie vor dem ersten Morgenkaffee aufbringen konnte. Ihr Atem verwandelte sich in frostige kleine Wölkchen, die langsam in Richtung der Krähe bewegten.
Die blickte verwirrt auf – und antwortete nicht. Der Vogel steckte den Schnabel wieder mit Inbrunst in den Sichtschutz, so dass Nakia sich schon fragte, was denn eigentlich so schlimm an einem Sichtschutz auf einem Balkon sein könnte. Eigentlich hielt er sie auch mehr davon ab, vom Balkon zu stützen, als dass er sonderlich dazu diente, die Sicht von irgendwem zu schützen. Nakia streckte die Hand aus: In ihr lagen Erdnüsse. Frische, geschälte, duftende Erdnüsse. Der Wintermorgen biss fies in ihre Fingerspitzen.
Sie ließ eine Erdnuss auf den Liegestuhl, für den der Balkon eigentlich viel zu schmal war, fallen. Die Krähe blickte verwirrt auf, als sie das Geräusch wahrnahm. Sie machte einen Satz, manövrierte auf die Stuhllehne, beugte sich runter und fraß – sichtlich zufrieden – die Erdnuss.
„Miau“, sagte die Krähe.
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