Als ich eine Einsicht hatte.

„Aber dieser Brunnen ist überhaupt kein Brunnen!“
Die Stimme der Person, die ich einst Ruth nannte, klingt ungewohnt. Wüsste ich es nicht besser, würde ich ihr Panik unterstellen.
„Und wenn das hier nicht der Maschinenraum des Großen Seelenzeppelins ist? Warum sollte ich mir einbilden, in die Tiefe zu fahren, durch Wasser zu waten, um schlussendlich irgendwo zu landen, mit ich mehr als vertraut bin? Ich hätte diesen Ort doch gleich erkennen müssen!“
Meine Stimme hingegen zittert nicht mehr. Ich fühle mich sicher. Als wüsste ich, was ich tue.
Fun fact: Ich weiß so gut wie nie, was ich tue. Also, natürlich weiß ich in den meisten Fällen so halbwegs, was ich tun muss, um so zu wirken, als wüsste ich ungefähr, was ich tue. Ich glaube auch, dass es den allermeisten Leuten so geht. „Fake it till you make it“ halt. Das ist vermutlich die größte Erkenntnis des Erwachsenwerdens: Niemand weiß, wie die Dinge eigentlich gehen, alle tun nur so als ob und in Wirklichkeit ist alles nur Theater. Ein Grund, weshalb ich mich so weit wie möglich aus dem motorisierten Individualverkehr heraus halte.
Langsam steigt das
Wasser in der Betonkathedrale an. Vielleicht ist es nur die Flut, die
alle paar Stunden kommt, vielleicht ist das hier aber wirklich
lediglich ein Brunnen, der eine sehr merkwürdige Ähnlichkeit mit
dem Maschinenraum meines Zeppelins hat. Meine Socken sind ohnehin
noch nass, ich muss mir also keine Sorgen machen. Die Person, die ich
einst Ruth nannte, nimmt das Ganze nicht so locker.
„Was soll
das?“
„Manchmal ist ein Brunnen nur ein Brunnen. Und Brunnen
sind gemeinhin mit Wasser gefüllt, nicht mit Betonkathedralen.“
Ich
grinse unwillkürlich.
Das Wasser steigt schneller.
Heute fand ich das kalte Schneewetter nicht so schlimm, denn ich habe einen Bus so gerade noch erwischt und musste nicht auf den nächsten warten, das war sehr angenehm. Das Rennen-und-dabei-versuchen-möglichst-nicht-zu-fallen ist auch eine Methode, um nicht zu sehr zu frieren. Heute morgen war das ganz anders, da fuhr der Bus mir nämlich vor der Nase davon und ich stand viel zu lange in der Kälte des Schneemorgens, die ich am liebsten überhaupt nicht betreten hätte.
„Du bist doch nicht deswegen hergekommen. Bist du in den Brunnen gestiegen, um darüber nachzudenken, wie unangenehm es ist, in der Kälte auf den Bus zu warten? Oder wolltest du wirklich etwas über dich herausfinden?“
Die Person, die ich einst Ruth nannte, steht bis zu den Knöcheln im lauwarmen Wasser. Ihre Augen funkeln wütend. Ich weiß, dass sie mich auch mit grell leuchtenden Sternen statt Augen anstarren könnte, so dass ich völlig geblendet wäre. Ich weiß, dass sie nicht tatenlos zusehen müsste, wie das Wasser steigt und steigt.
Sie hat Recht.
Auch das weiß ich.