Als ich den Kern traf.

Unter Beobachtung schreiben ist immer merkwürdig. Meistens können die Menschen gar nicht auf mein Display sehen, oder nicht in mein Notizbuch. Das ist gut, denn mit Schreiben verhält es sich wie mit dieser merkwürdigen Theorie aus der Physik, dass sich Dinge verändern, sobald sie beobachtet werden. Ich weiß nicht, ob das nicht einfach auf alles zutrifft, was beobachtet wird. Verändere ich mein Verhalten, wenn ich mich selbst beobachte? Ich beobachte mich seit 96 Tagen selbst. In einer Form, die ich so noch nie praktiziert habe. Es ist ein Experiment.
„Das ganze scheiß Leben ist ein Experiment“, sagt die
Stimme, die zu der Person, die wir einst Ruth nannten, gehört.
Sie
ahmt mich nach, es ist nicht ihr eigener Satz, es ist nur etwas, was
sie von sich gibt, um mich möglichst nachhaltig zu ärgern. Ich bin
nicht einmal wütend, weil ich mich ganz ernsthaft darüber freue,
die Stimme zu hören. Sie war eine ganze Zeit lang abwesend gewesen.
Oder vielmehr: Ich war nicht dort, wo sie zu finden gewesen
wäre.
„Wo sind wir?“, frage ich.
Mir
fallen immer die besten Fragen ein.
Ich erwarte mir ohnehin
keine Antwort. Oder keine, die nicht so kryptisch wäre, als dass ich
mir die Frage nicht auch hätte sparen können. Seit Anfang des
Jahres irre ich herum, ohne genau zu wissen, wohin ich eigentlich
anfangs wollte und frage mich dann auch noch, warum ich noch nicht am
Ziel bin.
„Wir sind immer genau dort, wo du uns haben
willst. Du bist immer genau dort, wo du sein willst. Hast du nicht
eben selbst etwas von einem Experiment gesagt? Du könntest dich
wieder in den Maschinenraum wünschen, sogar in den dunklen Tunnel,
wo du durch das Wasser gewatet bist, einsam und alleine und ohne jede
Chance auf Rettung. Wenn du es willst, sind wir in einem Augenblick
dort. Den Raum, den wir bewohnen, schaffst alleine du durch deine
Worte.“, lautet die Antwort.
Ich runzele die Stirn, so fest
und tief wie es geht.
„War dir das konkret genug?“,
lächelt die Person, die ich einst Ruth nannte.
„Es war
überraschend klar.“, antworte ich. Ich frage mich, wo die
Pfirsiche hin sind. Ich weiß nicht, ob ich noch einen essen möchte,
oder ob ich ihn einfach in meiner Hand zerquetschen will, bis meine
Hände klebrig sind von dem ganzen Saft, der aus der Frucht tropft.
Und dann erhöhe ich den Druck noch weiter, und weiter, bis ich mir
mit dem Kern in mein eigenes Fleisch schneide und sich mein Blut mit
dem Fruchtfleisch und dem ganzen klebrigen, süßen Saft vermischt,
bis der Kern schlussendlich unter dem Druck meiner Hand nachgibt und
zerberstet.
Der Kern fällt, in Form von dreitausend holzigen Splittern zu Boden. Ich sehe den Splittern dabei zu, es wirkt wie in Zeitlupe.
Ich habe mein Schema verloren. Das ist vermutlich eine gute Sache. Ebenfalls verloren habe ich die Motivation, die Disziplin und den eisernen Willen, mich in fünf Jahren nicht selbst zu enttäuschen. Stattdessen lese ich meine Gedanken von vor drei Jahren nach und verstehe nicht, warum ich mich selbst belogen habe.
„Hast du das?“, fragt die Stimme, vermutlich ehrlich verwundert.
„Liegt das nicht in der Natur des Menschen?“
Ich hatte eine andere Sicht auf Dinge. Keine Ahnung, ob das wirklich eine Lüge war, oder ob es eher darum ging, mich selbst in dem zu bekräftigen, was ich glauben wollte, was ich für richtig hielt.
Es erstaunt mich, wie wenig ich über all das geschrieben habe. Vielleicht kommt das Thema deswegen gerade so oft auf, weil ich eben so wenig darüber geschrieben habe, weil es kaum Aufzeichnungen gibt, weil ich eine Chronik brauche.
„Oder es ist einfach nur ein gutes Thema, um sich selbst in dramatische Stimmung zu versetzen und darüber zu schreiben?“, fragt die Person, die ich einst Ruth nannte.
Die Splitter des Pfirsichkerns sind am Boden gelandet. Aus meiner Hand, immer noch zur Faust geballt, tropft die Mischung aus Blut, Fruchtsaft und Schweiß und segnet den Marmorboden.