Das Überkochen

Als ich all meinen Mut zusammenfasste.

„Wo waren wir?“
Die Person, die wir einst Ruth nannten, schaut mich etwas verwundert an. Als habe unser Gespräch einfach eine Woche pausiert. Dabei stehen wir seit gefühlten Ewigkeiten in dieser nutzlosen Kälte unter diesem nutzlosen Himmel, im hohen Gras, das nicht sein sollte, bestückt mit Raureif, den ich nicht ausstehen kann, weil ich Angst davor habe, mich daran zu schneiden, so scharf wirkt er in meiner unterkühlten Hand, wenn ich sie gedankenverloren wie ich bin aus der Tasche ziehe und an einem Grashalm entlang reibe.

Ich muss zu einem Treffen und ärgere mich über die Menschen, die ebenfalls irgendwohin müssen. Ständig steht mir wer im Weg, schaut auf sein Telefon oder muss abrupt und ohne Vorwarnung stehen bleiben. Dabei sind die Gehsteige tückische Minenfelder, viel zu eng für alle die Menschen, so dass eine stetiger Gänsemarsch langsam vor sich hin watschelt. Wie die Autos, die daneben im Stau stehen. Gerne würde ich sagen „Entschleunigung, wie schön!“, aber ich bin nur genervt.

Es ist nicht einmal eine Woche her. Ich weiß das, mein Gegenüber weiß das, wir wissen es alle. Ich muss nicht so tun, ich hatte es einfach nur vergessen. Oder geschätzt. Es war an dem Tag, an dem ich die Kopfhörer im Büro vergessen hatte, als mein Telefon einfach so ausging und ich ohne jede Ablenkung Zug fahren musste. Auf der langen Strecke.
„Du vermischst die zwei Ebenen. Das tust du sonst nie. Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist.“
„Es ist eine gute Idee, wenn ich nicht will, dass du mit mir über die wahren Gründe dieser Zusammenkunft redest. Wenn ich Zeit schinden will, bis der Text an einen Punkt kommt, an dem kulminieren könnte, an dem er überkocht wie Milch und ich die verbrannten Reste vom Herd abkratze, um schlussendlich auf ‚Publish‘ zu drücken.“

Ich grinse. Ich bin stolz darauf, so wortgewandt zu sein. Eine Antwort zu haben, auch wenn sie eigentlich Kapitulation ist.

„Bist du jetzt nicht schon an dem Punkt?“, fragt mich die Person, die wir einst Ruth nannten. Ihr Ton ist spöttisch, noch mehr als er das sonst ohnehin schon ist. „Du hast ja gefragt, wo wir sind. Wo wir waren. Wir sind in der Kälte, in der dunkelsten Nacht des Jahres, am Ende des Kreises, der eigentlich eine Ellipse ist. Ich habe dir meine Rolle in diesem Zusammentreffen erklärt, und du hast wieder einmal beschlossen, dazu zu schweigen. Wie du immer schweigst, wenn ich dir die Wahrheit sage.“

Ich empfinde alles als unglaublich anstrengend, auch wenn ich viel weniger tue als in den Tagen zuvor. Die meisten Dinge sind getan, sie müssen nur noch fertig werden, in ein Produkt gegossen. Das Nichtstun ist anstrengender, vor allem das Herumsitzen und Zuhören, während andere Menschen das Wort ergreifen und ich wie automatisch auf Durchzug schalte, weil die Worte überhaupt keine Bedeutung mehr haben.

Manchmal habe ich Angst, dass die Person, die wir einst Ruth nannten, die vierte Wand vollends bricht und ich die Scherben aufsammeln muss. Aber das passiert nicht. Bisher ist es nicht passiert, es passiert gerade nicht und vermutlich wird es auch nicht passieren, bis das Universum den Kälte- oder Wärmetod stirbt.

Ich will ihren Namen aussprechen, bis mir einfällt, dass ich das nicht kann. Es ist sehr wirksam, Menschen beim Namen zu nennen, sie anzusprechen und dann ein Urteil über sie zu fällen. Die kurze Aufmerksamkeit, die sich dann in ein wortgewordenes Schwert verwandelt, in das die Person fällt. Der Person, die wir einst Ruth nannten, könnte ich sowas ohnehin nicht antun, dazu bin ich viel zu nett. Alles was ich könnte, wäre sie zu verstoßen, mich nicht mehr mit ihr zu unterhalten. Was ich will: Ihr zeigen, dass ich bereit bin, die Wahrheit zu hören.

„Na gut. Die Wahrheit willst du?“
Wieder dieser spöttische Tonfall, der sich anfühlt, als würde ich mich an Papier schneiden. Erst tut es überhaupt nicht weh, aber ich fühle die Schärfe. Und dann hört der Schmerz gar nicht mehr auf. Ich weiß, dass ich bluten werde, aber ich kann mir nicht vorstellen, wie viel.

Es ist so merkwürdig, wie sich die Tage am Ende des Jahres anfühlen, als müsste ich besonders müde sein. Vermutlich ist es nur die Dunkelheit, die selbst dann auf mein Alles drückt, wenn denn tatsächlich auch mal die Sonne scheint und es 15 verfickte Grad Celsius hat. Vielleicht ist es auch etwas anderes – das Gefühl, dass alles im Chaos enden wird, dass ich mit 50 über mein verschwendetes Leben weinen werde, dass ich ende wie der Charakter in dem Videospiel, das ich gerade so genieße. Aber so lange ich es auf die Dunkelheit schieben kann, werde ich das tun.

„Ich bin nicht P., wie du so richtig festgestellt hast. Du denkst viel an P., weil ihre Art, Hosen zu tragen, gerade wieder etwas mehr in Mode ist. Oder zumindest bildest du dir das ein. Du kannst nicht loslassen, weil es nie eine endgültige Aussprache gab. Und weil du deine eigene Rolle in dem ganzen nicht komplett akzeptieren kannst. Du weißt das auf einer intellektuellen Ebene zwar alles, aber es ist immer noch nicht in dich eingeschrieben. Du hast deinen Frieden damit noch nicht gemacht, auch wenn du es versucht hast.“

Die Musik schwillt an. Ich hatte überhaupt nicht bemerkt, dass Musik spielt, aber dem scheint so zu sein. Sie wird immer dramatischer, als hätten wir einen Höhepunkt erreicht. Die kälteste und dunkelste Nacht. Das Zentrum des Universums. Der Moment, in dem das Pendel genau über unseren Köpfen schwingt, erleuchtet nur vom Mondlicht. Noch eine Frage, noch eine Antwort – und alles wird vorbei sein, alles wird wieder warm und schön und gut sein, und ich werde endlich wieder schlafen können.

„Ist das alles?“
Es wird still.
„Nein. Das sind lediglich die Dinge, die ich dir bereits gesagt habe. Die du bereits geschrieben hast. Die du weißt. Du bist hier, um die Dinge zu erfahren, die noch im Dunkeln liegen.“

Ich spüre, wie es noch kälter wird. Erahnte ich irgendwann eine violette Färbung des Himmels, er ist wieder so dunkel und so sternlos, dass es mich ebenso erschreckt wie es mich wütend macht.

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