Als ich die Hand hielt.

Ich wusste eigentlich schon von Anfang, dass ich die Hand halten wollen würde. Es handelt sich um die linke Hand der Person, die wir einst Ruth nannten. Genau wie ich verschwindet sich langsam in dieser dichten Nebelzuckerwatte, von der ich das Gefühl habe, dass sie mich verschlucken wird. Bis vor wenigen Sekunden hielt ich das noch für eine gute Idee. Ich würde ins Nirwana eingehen, würde eine Grungeband gründen, würde irgendwann nichts mehr fühlen. Das wäre eine gute Entwicklung, weil das viele Fühlen so anstrengend ist und ich es kaum aushalte.
Je mehr ich darüber nachdachte, fand ich diese Entwicklung, diese Auflösung in das völlige Nichts, dann doch nicht mehr so gut. In meiner persönlichen Mythologie war das Ende eher ein Zusammenschmelzen der gesamten Menschheit (was eigentlich auch niemand wollen kann, wenn wir uns ehrlich sind!) als ein sehr persönliches Mich-Auflösen. Deswegen also die Hand. Die ich halte. So fest es geht. Nur aus der Angst, mich aufzulösen. Nicht aus irgendwelchen anderen Gründen. Ich meine, was sollen das auch für andere Gründe sein?
Da liegen wieder Mandarinen, die ich essen sollte. Ich biete sie anderen Menschen an, die jedoch eigene haben. Auf der Arbeit, wo ich sie gut gebrauchen könnte, sind keine mehr. Die habe ich gegessen, weil ich ein schlechtes Gewissen hatte. Die Aubergine schiebe ich voller Vorfreude in den Ofen, sie ist das beste Gemüse, das ich mir an diesem Abend vorstellen könnte. Der Tag begann mit einem verstopften Duschabfluss, was mich von der zweiten Tasse Kaffee abhielt und mich dazu brachte, mich unangenehm viel mit den Resten der menschlichen Körperreinigung in Westeuropa beschäftigen zu müssen.
Ich bin viel zu neugierig für so etwas, ich frage mich immer, was das alles ist, und nie habe ich eine Antwort. Außer für die Haare, aber das versteht sich ja von selbst, dass ich die Haare erkenne, wenn sie aus dem verstopften Abfluss wieder herausströmen, bis ich endlich die Lösung habe, bis ich genügend Zeug hineingeschüttet und Wasser nachgefüllt und Zeug herausgezogen habe, bis sich alles löst und in einem gewaltigen Strudel wegschwimmt. Könnte nur jede Lösung im Leben so wunderbar erfüllend sein.
„Ja, was für Gründe sollten das sein?“, fragt mich die Person, die wir einst Ruth nannten, gehässig. Als hätte sie eine Ahnung, als müsse ich auch eine Ahnung haben, als würde ich ihre Anspielung natürlich erkennen. Ich tue natürlich so, als wüsste ich von nichts, obwohl ich von Anfang an wusste, dass ich die Hand halten wollte. Noch bevor der Nebel kam. Bevor wir im Porzellanladen der Schwerkraft trotzten. Bevor ich in der Kathedrale unter dem Brunnen war. Als die Person, die wir einst Ruth nannten, noch diesen Namen trug, als sie noch für jemand anderen stand, Platzhalter*in war, während ich mir ihrer Rolle nicht bewusst war. Vermutlich wollte ich schon diese Hand halten, als sämtliche Moleküle, die mein Sein ausmachen, noch in der Ursuppe herumschwammen und es noch kein Konzept von Zellen oder Händen aus Zellen oder etwas in der Art gab.
Niemand löst sich
auf. Der Zuckerwattennebel, er existiert einfach nur um uns herum.
Ich halte diese Hand, die ich schon länger halten will, noch
fester.
„Wird das jetzt etwa eine Liebesgeschichte?“
Ich
hätte nicht gedacht, dass das je passieren würde, aber wir sprechen
den Satz wie aus einem Mund. Synchron. Mit der gleichen, ungläubigen
Betonung. Als würde uns jemand beim Sprechen beobachten. Oder
schlimmer noch: Unser Handeln vorbestimmen. Verschmelzen wir
letztendlich nicht mit dem Nebel, sondern mit unseren selbst?
Die Leute fragen mich Sachen, die ich nicht beantworten kann. Es fühlt sich merkwürdig an, die Referenzperson zu sein, obwohl ich doch für nichts eine Referenz sein kann. Auch wenn mir erzählt wird, ich hätte mich gut verhalten oder sei eine liebenswerte Person, kann ich das kaum annehmen, weil ich nichts getan habe, was ich als besonders bezeichnen würde. Schenke einer Person einen Räuchertofu und dir ist ewige Dankbarkeit sicher?
Ich wage es nicht, einen Blick auf meine Hand zu werfen. Sie fühlt sich immer noch so fest und ganz an wie davor. Ich habe nicht den Eindruck, sie hätte sich mit der Hand der Person, die wir einst Ruth nannten, verschmolzen. Ich würde gerne betroffen grinsen, aber ich habe verlernt, wie das geht.
Ich möchte loslassen, möchte sicher gehen, dass ich mich nicht aus Versehen mit einer fremden Hand identifiziere. Aber ich traue mich nicht. Nichts auf der Welt scheint mir schwieriger, komplizierter und unmöglicher als Loszulassen.