Das Loslassen

Als ich meine Augen nicht öffnen wollte.

„Du konntest noch nie gut loslassen.“, sagt die Person, die wir einst Ruth nannten, als kenne sie mich schon so lange und so gut, um das bewerten zu können. Auf irgendeiner rationalen Ebene weiß ich, dass sie vermutlich recht hat, aber ich möchte mir das nicht eingestehen. Nicht nur, weil ich das mit dem Nichtloslassenkönnen problematisch finde, sondern weil ich mir nicht eingestehen will, dass sie mich so gut kennt. Ich möchte das nicht. Vor allem nicht, wenn es die Person ist, deren linke Hand gerade mit meiner rechten verschmilzt. Oder war es meine linke und ihre rechte? Selbst Richtungen ergeben gerade nur noch wenig Sinn.

Ich fange einen, zwei, vielleicht auch drei verschiedene Texte an, ohne je einen zu Ende zu schreiben, weil halt immer irgendetwas dazwischen kommt. Der ganze Tag ist so, eine Aneinanderreihung von Dingen, die mir dazwischen kommen. Dabei klingelt zum Glück nicht einmal das Telefon. Am Ende bleibt nur viel Arbeit, aber immerhin vergesse ich nicht, mein Ticket auszudrucken und schaffe beinahe alles, was ich tun muss. Abgesehen von den Texten, die ich schreiben wollte.

Ich schließe die Augen, weil ich ohnehin nichts sehe. Das Schwarz, die tanzenden Sterne auf meiner Netzhaut – oder was auch immer ich da sehe, wenn ich meine Augen so fest es nur geht schließe – alles ist beruhigender als dieses hässliche Weiß des Zuckerwattenebels, der uns komplett verschlingt. Die Person, die wir einst Ruth nannten, drückt meine Hand fester. Das ist noch beruhigender als das Schwarz hinter meinen Augenlidern.

„Danke.“, sage ich nur, mit der ruhigsten Stimme, die meine zitternden Stimmbänder hervorbringen. Die Person, die wir einst Ruth nannten, weiß ohnehin, wie es mir geht. Jede meiner Regungen ist ihr bekannt und auch ich weiß das. Ein quasi-omnipotentes Wesen hält meine Hand zum Trost, weil ich mich von dem Gegenteil von Dunkelheit fürchte wie ein kleines Kind. Ich wünschte, ich könnte auch so viel Trost spenden, mit einer so einfachen Geste.

Früher wünschte ich mir manchmal, ich könnte all meine Probleme mit einem Schwert lösen, wie die Held*innen (vor allem Helden) aus Mittelerde oder sonstigen Romanen. Dabei war dem meistens überhaupt nicht so, dass die Probleme so gelöst wurden. Ich nahm das nur so wahr, ich wollte einfach, dass sich Probleme so einfach lösen lassen, mit brachialer Gewalt. Wenn ich an die Zeit zurückdenke, erscheint mir die Lösung für meine damaligen Probleme so lächerlich einfach, dass ich gar nicht wissen will, was ich in zwanzig Jahren über mein jetziges Ich denken werde.

Sie drückt meine Hand noch etwas fester, bis kurz vor den Punkt, an dem es es schmerzen würde. Die Person, die wir einst Ruth nannten, weiß genau, wo diese Grenze liegt, wie fest meine Hand gehalten werden muss. Ich möchte mich nochmal bedanken, aber ich weiß auch, dass das nicht nötig ist, dass die Person, die da gerade meine Hand hält, genau weiß, wie dankbar ich bin. Immerhin ist es nicht mehr kalt. Ich spüre überhaupt keine Temperatur mehr. Der nutzlose sternenlose Himmel ist verschwunden, an seiner Stelle ist der Nebel getreten, der mich einspinnt. Vielleicht werden wir beide zu einem Kokon, um dann als göttliches Wesen zu schlüpfen.

Meine Nervosität verschwindet. Nichts ist so schlimm, wie ich dachte. Alles funktioniert irgendwie. Vielleicht ist das die große Weisheit in meinem Leben – irgendwie klappt es schon. Ich hasse es, dass ich mich immer durchwurschteln muss, aber immerhin funktioniert es. Der Zug kommt, auch wenn es die längere Strecke ist. Mein Telefon gibt nicht auf, auch wenn es sein letzter Tag ist. Die Leute im Podcast reden halbwegs interessante Sachen, so dass ich mich nicht vor Langeweile selbst zu sehr nerve oder gar in alten Notizen kramen muss. Gott ist in seinem Himmel, auf der Erde ist alles in Ordnung.

„Du musst keine Angst haben, wie gesagt.“
Es ist, anders als sonst, kein Funken Spott in ihrer Stimme zu hören, kein beißender Sarkasmus, eher Sanftheit, Fürsorge. Ich verstehe nicht, woher das auf einmal kommt und frage mich, ob ich mehr möchte als nur diese Hand halten. Ob ich eine Umarmung bräuchte, ob meine Haut sich so sehr sehnt.

„Danke.“, sage ich noch einmal.
„Du kannst deine Augen wieder aufmachen.“
Ich halte das für ein Gerücht, für noch schwieriger als das Loslassen.

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