Der Glasboden

Als ich Gänsehaut hatte.

Obstwiese im Sonnenaufgang, aus dem Zug heraus fotografiert.

Meine Augen sind weit geöffnet. Ich verstehe nicht, was ich da sehe. Erst denke ich, dass wir wieder einmal an der Decke eines Raumes hängen, statt auf dem Fußboden zu stehen, dass die himmlische Mechanik zwischen mir und der Person, die wir einst Ruth nannten, wieder einmal die Schwerkraft für kurze Zeit außer Kraft gesetzt hat. Es ist nicht das. Ich blinzele. Oder eher: Ich schließe und öffne meine Augen bewusst nochmal. Würde ich nicht immer noch ihre Hand halten, würde ich sie benutzen, um mir die Augen zu reiben. Da es recht ungewohnt und vermutlich auch wenig wirksam ist, nur ein einziges Auge zu reiben, lasse ich es sein. Dann starre ich nur noch.

Es ist kalt. Ich fühle das plötzlich, obwohl ich die Heizung hochgestellt habe, obwohl ich am gleichen Platz sitze, obwohl ich auch schon an den Vortagen im T-Shirt hier gesessen bin. Ich fühle das Gänsehaut-Gefühl, aber durch die Dichte meiner Körperhaare ist keine Gänsehaut zu sehen, meine Haare stellen sich hoch, als könnten sie ein wärmendes Körperfell aufplustern. Ich sollte nochmal aufstehen, die Heizung überprüfen, sie notfalls hochdrehen, aber ich muss hier sitzen und schreiben, so wie ich immer hier sitze und schreibe.

Es ist keine Watte mehr zu sehen. Stattdessen blicke ich auf einen Sternenhimmel, der nicht klarer sein könnte. Selbst die Milchstraße, sonst nur an entlegenen Orten abseits städtischer Lichter zu erkennen – ich bin mir nicht einmal mehr sicher, ob ich sie wirklich schon einmal gesehen habe – ist zu erkennen. Einzig der Boden fehlt. Ich habe dennoch das Gefühl, auf festem Grund zu stehen. Vielleicht sind wir auf einem dieser modernen Glasböden, wie es sie in hohen Gebäuden gibt. Ich senke den Kopf, aber es setzt kein Schwindelgefühl ein. Alles, was ich sehe, sind Sterne und Sterne und noch mehr Sterne.

Ich muss immer noch an den Traum denken. Oder an das Gefühl, das ich beim Aufwachen hatte. Ich verstehe nicht ganz, warum ich mich so gut fühlte. Es war nur ein Traum, der auch nicht unbedingt sonderlich gut endete, sondern einfach eine Ansammlung von wirren, am Abend vorgekommenen Dingen war. Genausogut könnte ich von den Youtubevideos träumen, die ich vor dem Einschlafen schaue. Aber seltsamerweise ist das nie der Fall.

„Bin ich im Himmel?“, frage ich, obwohl mir die Frage unglaublich naiv vorkommt. Eine bessere ist mir nicht eingefallen. Und wenn ich die Person, die wir einst Ruth nannten, schon nicht mit den Untiefen meines Lebens befassen kann, muss ich sie fragen, wo ich bin, was meine Anwesenheit hier soll – die Sinnfrage, nur halt konkret.
Sie lacht nur ihr spöttisches Lachen, mein verzweifelter Blick prallt an ihr ab wie Schmutz an Oberflächen mit Lotusblüteneffekt.

„Soll ich dir deine Träume erklären?“, fragt sie mich und drückt meine Hand fester.

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