Die Zwanzig (II)

Als ich mich (weiterhin) über meine Grenzen brachte.

Ich gehe an dem Gasthaus vorbei, das mit kleinen Fähnchen zum Nationalfeiertag geschmückt ist. Zu meinem Erstaunen sind nicht alle Tische besetzt, obwohl es sehr laut ist. Trotzdem sitzen viele Menschen hier, die den Feiertag genutzt haben. Einige von ihnen sind mir vorhin im Wald entgegen gekommen. Ich schaue nicht viel hin, nachdem ich mich auf dem Handy versichert habe, welcher der richtige Weg ist, bin ich gleich wieder im Wald. Der Anstieg ist heftig, aber nicht sehr lang. Vermutlich ist der Pfad eigentlich ein Mountainbikeweg, aber so wirklich zu erkennen ist das nicht. Nicht lange, und ich bin auf einem Pfad, der mich quer durch diesen Wald führt, der nur so von Spazierwegen durchzogen ist.

Hier ist es angenehm, es ist nicht mehr so heiß wie noch vor ein paar Stunden und der Weg ist vergleichsweise flach. Außerdem ist da dieses Licht, denn langsam wird es dann doch so etwas ähnliches wie Abend und das leuchtet golden durch das Blätterdach durch. Am Waldrand hat es sich eine Gruppe mit Campingstühlen und -tischen gemütlich gemacht, zwei Leute spielen mit einem Fußball, die anderen sitzen herum. Ich frage mich kurz, ob sie vorhaben, im Wald zu grillen, aber es geht mich nicht wirklich etwas an. Ich komme neben einem Hof heraus, auf den Koppeln rundherum stehen viele Pferde.

Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, an dieser Stelle kurz über die Grenze nach Frankreich zu hüpfen – einfach nur, weil es hier so lächerlich einfach geht. Da die Grenze aber kein sichtbarer Strich in der Landschaft ist, vergesse ich es und gehe einfach meinen Weg. An den Wiesen vorbei komme ich zu der Landstraße, die tief ins Tal führt. Um in das ehemaligen Bergarbeiter*innendorf zu kommen, muss ich etwas einen Kilometer an der Straße entlang laufen. Heute ist das kein Problem, weil im Dorf Rohre verlegt werden und die Straße für den Durchgangsverkehr gesperrt ist. Wer zum Boule-Platz will, kann sie trotzdem benutzen. Fünf Autos wollen dorthin.

Der Weg durch das Dorf ist immer länger, als ich mir es vorstelle, aber es ist nach all dem Wald eine fast willkommene Abwechslung. Im Park sitzen viele Menschen, die auch ihren Feiertag genießen, ich setze mich auf eine Bank, trinke etwas Wasser, rauche eine Zigarette und mache mich frohen Mutes wieder auf. Bis hierhin habe ich etwa 14 Kilometer hinter mir. Ich fühle mich gut, obwohl diese Marke bisher recht nah an meiner Rekordleistung war. Frohen Mutes nehme ich den Teil der Strecke in Angriff, der wohl am anspruchsvollsten ist.

„Es zieht sich“, wie eins in der Fachsprache sagt. Zuerst einen Teil an der Landstraße entlang, dann durch den Wald. Es geht beständig, aber nicht sonderlich steil nach oben. Wer runter geht, muss auch wieder hinauf, das empfinde ich mittlerweile als logisch. Obwohl es nur durch den Wald geht und sehr schattig ist, empfinde ich den Anstieg als ziemliche Strapaze und wünsche mir nicht mehr viel bergauf.

Danach durchquere ich einen Wald, um später zu erkennen, dass es eventuell auch eine Abkürzung gegeben hätte. In der Nähe ist ein Schießplatz, der meine meditative Ruhe etwas stört. Ich versuche mich zu beeilen, um nicht ständig aufzuschrecken, wenn es knallt. Bei der nächsten Straße, die ich überqueren muss, sehe ich das Hinweisschild zum Platz. Jetzt ist die Strecke offener, meistens säumt eine Wiese oder ein Feld zumindest einen Seite des Weges, der asphaltiert ist.

Ich ziehe vorbei an einem Waldstück, das wohl dem Borkenkäfer zum Opfer gefallen ist. Immerhin wurde jetzt damit begonnen, die toten Bäume zu fällen. Ich raste auf ein paar Baumstämmen, mache ein müdes Selfie und gehe wieder weiter, immer vorbei an den gemähten und noch nicht gemähten Wiesen, am Waldrand. Kurz wundere ich mich, ob noch niemand gefragt hat, wo ich denn sei, aber auf meinem Handy ist nichts zu sehen. Solange sich niemand Sorgen macht, muss ich mir auch keine machen.

Ich komme vorbei an den Wiesen in der Nähe des Kindergartens, der in einer Obstwiese steht und auch so benannt ist. Er steht neben meinem Heimatwald, der sich so vertraut anfühlt, obwohl ich nicht alle Wege kenne. Ich nehmen einen neuen, der asphaltiert ist, und mich geradewegs in den Nachbarort führt. Vorbei an einer weiteren Obstwiese, neben der eine Gruppe ein Lagerfeuer macht und vermutlich grillen will. Am Ende dieses steilen Weges biege ich wieder in den Wald ein, denn einen Pfad gibt es trotzdem. Er schlängelt sich an dem Hügel entlang, macht spannende Kurven und führt mich schlussendlich doch zu jenem Feldweg, der an einer langen Reihe Häuser vorbei bis zu meinem Ausgangspunkt führt. Die Gärten sehe ich mir nur noch flüchtig an, denn ich bin begierig darauf, endlich nach Hause zu kommen.

Dort fällt jede Spannung von mir ab. Die wunden Oberschenkel, die müden Beine, die allgemeine Erschöpfung – sie sind weg, es bleibt nur die Freude darüber, mich selbst zu einer – für meine Verhältnisse – Höchstleistung angespornt zu haben. 21,5 Kilometer sagt meine App. Ich will ihr glauben und genieße jedes Ziehen in meinen Beinen.

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