Als ich ein Kunstwerk erschuff.

Im Innenhof liegt der Kompostkübel auf dem nassen Betonboden. Sein Deckel, vor einigen Monaten durch ständige Beanspruchung von seinem eigentlichen Scharnier losgerissen, liegt einige Zentimeter neben ihm. Das durchsichtige Plastik, an einer Stelle schon etwas eingerissen, lässt den Inhalt erahnen. Obwohl geleert, kleben am Boden und an den Rändern noch Rest von dem, was eigentlich auf dem Komposthaufen liegen sollte; Karottenschale, nicht identifizierbare Gemüsereste und Kaffee. Immer bleibt Kaffee zurück, denn Menschen wollen wach bleiben. Es regnet, mal schwächer und mal stärker. Stünde der Kompostkübel aufrecht, er würde gereinigt werden. Er liegt aber auf der Seite, unachtsam abgestellt und umgefallen, nur für eine kurze Zeit des Übergangs.
Ich sitze daneben und stelle mir vor, dass jemand herauskommt und mich fragt, was der Kompostkübel da macht, und noch bevor die Worte ganz ausgesprochen sind, sage ich in einem verschwörerischen Tonfall, dass es sich um Kunst handelt, die nicht gestört werden darf. Ich weiß nicht, ob ich das ernst sagen könnte, so als würde ich das wirklich glauben. Ich bin kein guter Schauspieler, obwohl ich noch immer von einer Karriere als solcher träume, so wie ich mich auch immer wieder dabei erwische, tagzuträumen, wie es denn wäre, ein Rockstar zu sein und was ich dann alles tun und lassen würde.
Gerne hätte ich das intellektuelle Rüstzeug, um zu analysieren, ob es es sich bei einem temporären Kunstwerk, das nur ich – der Künstler, der nie die Intention hatte, Kunst herzustellen – in situ sehe, bevor ich es wieder zerstöre. Ich habe keine Ahnung davon, ich kann nur Mutmaßungen anstellen, die am Ende keinerlei Relevanz für den tatsächlichen Diskurs haben werden. Vielleicht müsste ich nur die richtigen Wörter erfinden und eine stylische Sonnenbrille tragen und ein Ego haben, das nur knapp zu klein ist, um zu einem schwarzen Loch zusammenzufallen, und alle würden mir zuhören und bedeutend nicken.
Der Kompostkübel im Regen auf Beton, eine Metapher für die Leere in uns allen, zusammengehalten nur durch ein wenig Plastik, das mit Kaffeeresten besprenkelt ist.
Der Kompostkübel im Regen auf Beton, ein bedeutendes Symbol gegen den Krieg, dessen Existenz zwar moniert wird, in Wahrheit jedoch stets Kapitalinteressen unterliegt und deswegen nur durch die Auflösung dieser gestoppt werden kann.
Der Kompostkübel im Regen auf Beton, eine Allegorie auf den Konsum und Kritik an der Januskopfigkeit der Umweltbewegung, die zwar ihr organischen Abfälle im eigenen Garten kompostiert, gleichzeitig jedoch nicht gewillt ist – oder nicht die Möglichkeiten hat – auf kurzlebige Konsumprodukte aus Kunststoffe zu verzichten.
Der Kompostkübel im Regen auf Beton, ein existentialistisches Experiment, dessen Entstehung und Existenz derart nebulös sind, dass sich niemand sicher ist, ob es überhaupt je existiert hat – und wenn ja, für wie lange. Die fragile Plastikwand des Kübels mit seinen Rissen symbolisiert die Risse in dem Stoff der Wirklichkeit höchstselbst, während die Kaffeesatzreste die Erdung des Publikums, bestehend aus genau einer einzigen Person, repräsentiert.
Der Kompostkübel im Regen auf Beton, ein höchst umstrittenes Werk, das die Traurigkeit eines verregneten Sonntags, die zufälligen Gefühlsschwankungen seines Schöpfers repräsentiert. Gleichzeitig wird der sogenannte Kreis des Lebens schemenhaft dargestellt, da der Legende nach das Werk kurz nach dem Zubereiten des ersten Kaffees entstand, da nach dieser der Kompostkübel geleert werden musste, um weiteren Kaffeesatz in sich aufnehmen zu können. Der Kaffeesatz, der noch im bereits geleerten Kübel hängt symbolisiert den Anfang und das Ende zugleich, aber auch die Hoffnung, durch einen geheimen dritten Weg der sicheren Zersetzung auf dem Komposthaufen zu entkommen.
Der Kompostkübel im Regen auf Beton, ein Produkt des Zufalls und der allgemeinen Lustlosigkeit am Morgen, die nur deswegen zustande kam, weil der Träger und Entleerer des Kübels zu faul war, ihn aufrecht hinzustellen, bevor er seinen ersten Kaffee getrunken hatte.
Ich muss mich damit abfinden, dass es keine Kunst ist, einen Kompostkübel mehr oder weniger fallen zu lassen und es dann traurig zu finden, wie er im Regen liegt, beziehungsweise sich eine Entschuldigung für eine hypothetische Situation auszudenken, die dann überhaupt nicht eintrifft. Der Kübel ist ein Gebrauchsgegenstand, es gibt ungefähr zwanzig Millionen, die genauso aussehen und nach anderthalb Jahren intensivem Gebrauch auseinanderfallen, weil in dieser Welt nichts darauf ausgerichtet ist, lange zu halten.
Ich weiß nicht, was mit dem grünen Kompostkübel passiert ist, den ich einmal hatte. Vermutlich ist ihm das gleiche Schicksal begegnet wie so vielen anderen Dingen an jedem verhängnisvollen Oktobertag. Aber ich denke nicht an den, ich denke an den Tag von vor vier Jahren, als die Welt trotz Zusammenbruch optimistischer wirkte, nicht gerade so krisenhaft und katastrophal wie heute. Ich traf eine Entscheidung, die mich vermutlich davor bewahrte, noch weiter in die Untergeschosse zu fallen, die der Zusammenbruch offengelegt hatte.
776,66 Kilometer Luftlinie entfernt und vier Jahre in der Vergangenheit sitzt ein Mensch auf einem Balkon und trinkt den Tee und raucht und ist traurig. Die Luft fühlt sich bereits nach Winter an, bald wird er nicht mehr so gemütlich auf dem Balkon sitzen können, sondern sich eingepackt auf einen klapperigen Plastikstuhl setzen müssen, um seine fünfzehn Minuten Elysium irgendwie doch noch zu „genießen“. Bald wird es dunkel werden, und es gibt keine Hoffnung am Horizont, die ihn von seinem Leiden erlösen wird. Ein Monat. Das ist der Deal, der ausgemacht wurde, dem er zugestimmt hat und natürlich wird er das durchziehen.
Die Versprechen werden nicht eingelöst werden, aber das ist noch nicht ersichtlich. Es wird nicht schneien, niemand wird eine Schneeballschlacht machen oder eine Figur aus dem Schnee bauen. Alles, was hätte sein können, war letzten Endes nur das: Eine Fantasie, eine Vorstellung, eine Ablenkung, um nicht noch eine Szene zu provozieren.
In den nächsten Wochen wird das Gefühl überwiegen, ohne Rücksicht auf Verluste an einem Text zu arbeiten und die Magie von Nudelgerichten aus der Tüte, zu denen eins nur heißes Wasser hinzugeben muss, wird sich ihm offenbaren. Der Kompostkübel muss nicht in den eigenen Garten, sondern zur Müllinsel am Ende der Straße gebracht werden, die vor dem Eingang des kleines Parks steht. In der kalten Nacht sind zu hören: die große Straße, die südlich vom Balkon liegt und die Güterzüge, die in geheimer Mission durch die Stadt fahren, wenn niemand sie sehen kann und dabei in den engen urbanen Kurven laut quietschen. Wer mitten in der Nacht wach wird, kann sie immer noch hören.

Mir wurde ein Vollmond versprechen, doch ich kann ihn nicht sehen. Ich würde gerne diese Nacht feiern, so wie es andere tun, aber das geht nicht, weil mein Kopf das nicht mitmachen würde. Jedes Mal, wenn ich Stiegen steige oder heruntergehe, fangen die Schmerzen wieder an, flammen auf, werden intensiver. Jede noch so kleinste Veränderung des Luftdrucks quält mich, bis ich schlussendlich aufgebe.
Ich höre Nachts im Garten, wenn ich vergeblich auf den wolkenverhangenen Nachthimmel starre und den Vollmond nur dadurch erahnen kann, dass die Wolken heller sind als sonst, das Stahlwerk, das auch nächstens rumpelt und seltsame Geräusche macht, die ich nicht einordnen kann. Ich höre ein Warnsignal, ein Rumpeln, ein Poltern und versuche mir auszumalen, was wohl gerade passieren könnte, in einer Nachtschicht. Alle sind schon müde, haben den bitteren Geschmack eines starken Kaffees oder die falsche Süße eines Energydrinks noch auf der Zunge, während um sie herum alles zischt und Funken schlägt und flüssiger Stahl in Form gegossen wird. Die Geräusche sind besser als die Gerüche der anderen Industrie, die nach faulen Eiern riecht.
Ich mache mir noch einen Kaffee, um dann ein Buch zu lesen. Nur einen kleinen, ein Espresso, den ich auch so nennen darf, weil die Maschine tatsächlich mit genügend Druck arbeitet, um legal als Espressomaschine anerkannt zu werden. Als ich den noch heißen, dampfenden Kaffeesatz in den Kompostkübel klopfe, steigt ein Geruch hoch, der mich vage an gekochtes Gemüse oder Obst erinnert. Eine halbe Limette liegt dort drin, ich habe sie vor einigen Stunden hinein geworfen. Sie lag wochenlang im Kühlschrank. Die Zeit, in der ich zum Feierabend einen Cocktail mache und den Rest des Abends das Glas, in dem Limette und Minze herumschwimmen, mit Wasser auffülle, um zumindest so etwas wie besser schmeckendes Wasser zu trinken, sind endgültig vorbei.
Es ist nicht mehr zu leugnen: Der Herbst und die Dunkelheit sind da, die Limonen vertrocknen im Kühlschrank neben dem großen Block Käse, den ich zu Käsetoast verarbeiten wollte, bevor mir das Toastbrot ausgegangen ist. Ich schließe den Kühlschrank und mache mir einen Tee. Es ist dieser eine Tee, den ich so vermisst habe, und jetzt kann ich mich kaum darüber freuen. Ich sitze an der Stelle, an der ich vor eine paar Stunden noch auf den Kompostkübel gestarrt habe und mich fragte, ob es wohl Kunst sei, was da passiert ist. Stattdessen trinke ich jetzt Tee und rauche und schaue in den Regen, der gefühlt zumindest immer heftiger wird. Ich kann den Tee noch nicht wirklich trinken, er ist zu heiß und sollte außerdem noch ziehen, aber ich bin wie immer viel zu ungeduldig. „Wie immer“ ist vielleicht übertrieben. Ich kann sehr große Geduld haben, vor allem mit mir selber. Nicht jedoch, wenn es um Getränke geht, wie es scheint.
Es regnet so viel. Eigentlich wollte ich in Wald, aber ich habe es schon wieder nicht geschafft. Ich muss die bunten Blätter noch einmal sehen, bevor sie alle verschwinden, muss ihre Farben in mir aufsaugen, bevor die Dunkelheit und das Grau endgültig übernimmt. Falls alles nichts bringt, kann ich immer noch versuchen, den Kompostkübel wieder an die Stelle zu bewegen, auf der er am Morgen lag und somit das Kunstwerk nachzustellen, das für kurze Zeit an diesem Ort bestanden hat, ausgestellt wurde und für das es nicht einmal eine Vernissage gab. Die Finissage fand im kleinen Kreis im Waschbecken statt.
Ich stelle mir vor, wie ich mit einem Ghettoblaster auf einem Boot stehe, mein bester Freund sitzt hinter mir und steuert den Motor und wir hören so laut es geht einen Radiosender, der nur traurige Musik spielt. Ich weiß nicht, ob ich das könnte, traurig sein angesichts des gigantischen Ozeans, der Kälte um mich herum und dem Nebel, in dem ich mich auflösen könnte, wenn ich das denn wirklich wollen würde. Vielleicht könnte ich gar nicht so traurig sein. Ich denke an den See und bezweifele all meine Worte.
Dieser Eintrag hat 1673 Wörter. Das klingt daran, dass November der „NaNoWriMo“ ist und ich mir gedacht habe, ich könnte ja mitmachen, indem ich im November 50.000 Wörter in dieses Blog presse. Nachdem der erste Eintrag an einem Sonntag schon recht viel Zeit gebraucht hat und ich die Länge auch eher unpraktisch finde, muss ich mir das nochmal genauer überlegen. Aber ich mag die Challenge halt.
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