Die blutweinenden Heiligenfiguren

Als ich Musik mit 3D-Effekt hörte.

Ich stehe in einer nicht mehr existierenden Kathedrale und höre Musik, die mir eigentlich nicht besonders gefällt. Dadurch, dass irgendein spezielles Verfahren verwendet wurde, hört sich die Musik auch über meine Kopfhörer so an, als würde ich tatsächlich in dem erwähnten Gotteshaus stehen. Zumindest ist es das, was sie auf der Packung schreiben, und warum sollte jemand lügen, nur damit Musik sich für die Hörenden besser anfühlt? Wenn ich die Augen schließe, kann ich den kalten Marmorboden, von Millionen Füßen seit Jahrhunderten glatt geschliffen, unter meinen Füßen spüren. Die Musik will, dass ich tanze, der Beat dropt oder wie das heißt. Ich aber stehe mit meinen geschlossenen Augen da und atme die staubige und gleichsam frische Luft ein.

Hätte ich keine Kopfhörer auf, würde vielleicht jemand etwas zu mir sagen. Vielleicht wäre es die Person, die wir einst Ruth nannten. Lache sie mich aus, wie ich mit geschlossenen Augen dastehe, statt die architektonischen Wunder der Gotik zu bewundern? Und wenn es jemand anderes wäre?
„Was, wenn es P. wäre?“, höre ich eine bekannte Stimme, trotz meiner Kopfhörer, trotz dem tollen 3D-Effekt, trotz des Beates, der schon wieder dropt oder wie das heißt.

Ich reiße die Augen auf und sehe: die architektonischen Wunder der Gotik, tausendmal schöner als ich sie von Fotos hätte erahnen können. Ich sehe nicht: Die Person, die wir einst Ruth nannten. Oder gar P., was wirklich ein sehr merkwürdiger Zufall gewesen wäre.

Unter und vor und über und hinter mir nur Architektur, Gotik, Säulen, Spitzen, Heiligenfiguren, Kirchenfenster, Reliquien, weinende Heiligenfiguren, Weihrauchschwaden, Ornamente, und blutweinende Heiligenfiguren. Mir tropft ein Schweißtropfen von der Nasenspitze, er fällt auf den Marmorboden.

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