Als ich traurige Musik hörte.

Noch einmal das Lied hören, das ich nicht selbst entdeckt habe und in dem jemand über eine Traurigkeit hört, die nie meine war – eine Lücke in meinem Lebenslauf, die ich niemals schließen werde können. Noch einmal traurig sein, ohne weinen zu können, ehe ich endlich mit der Sache anfange, die ich schon den ganzen Tag tun will. Noch einmal den Schmerz spüren, der nicht meiner ist, mit dem ich mich aber so sehr identifiziere, dass es mir beinahe weh tut. Ich wünschte, all das in mir drin wäre auszudrücken wie ein gigantischer Pickel. Der Eiter spritzte gegen den Spiegel, ich ekelte mich vor mir selbst, würde mich danach aber besser fühlen.
Nichts von alledem passiert. Ich höre keine Musik, sie ist nur in meinem Kopf, der treibende Beat und die hohe Stimme, ich bilde mir alles nur ein, während die Person, die wir einst Ruth nannten, mich immer noch umarmt. Der Refrain – auch ihn bilde ich mir ein – gibt mir zu verstehen, dass ich weinen sollte, aber ich fühle es nicht. Irgendwo zwischen meinen Schultern und meinem Nabel sitzt die Verzweiflung so tief, dass sie mir jede Träne abschnürt.
„Du weißt doch, dass gleich alles besser wird.“
„Nichts weiß ich. Wüsste ich wie das geht, würde ich mich ausweinen. Wüsste ich, dass alles besser wird, würden meine Gliedmaßen nicht kribbeln, als hätte ich sie in einen Ameisenhaufen gesteckt.“
Ich will weiterreden, aber ich zögere. Da ist ein Gedanke, den ich nicht aussprechen will. Damit ist es vermutlich zu spät. Die Person, die wir einst Ruth nannten, kann meine Gedanken lesen, weiß genau, was ich nicht auszusprechen wagte. Ich zucke vorsichtshalber zusammen, bevor sie mich mit einem zynischen Spruch ausbluten lassen kann.
„Es ist Pandemie. Alles ist so unglaublich kompliziert und schwer. Ich werde dich sicherlich nicht mit meinen Worten so verletzten, dass du das Gefühl hast, auszubluten.“
Unwillkürlich atme ich auf, auch wenn ich nicht genau weiß, welche Muskeln ich dafür entspannen muss.
„Ich pikse dich höchstens ein wenig.“, spüre ich mein Gegenüber grinsen.
Ich kann den Spruch mit dem Abgrund, der irgendwann zurückstarrt, nicht mehr hören und schon gar nicht mehr schreiben.
„Aber es stimmt.“
„Irgendwo halt. Ich habe das Gefühl, ich suche diese Situationen, ich suhle mich in ihnen, ich will mich so fühlen, ich gefalle mir in dieser Rolle, den Kopf gen das Universum gerichtet, es mit einem schlechten Hundeblick anblicken und fragen warum gerade ich.“
„Ist das so? Oder hast du nur ein schlechtes Gewissen, weil es dir schlecht geht?“
Ich weiß keine Antwort und einmal habe ich das Gefühl, meinem Gegenüber geht es nicht anders. Ich drücke nochmal auf den Button, damit das Lied anfängt.