End of Rebuild of Evangelion

Als ich es endlich gewagt hatte.

Seit einigen Jahren steht der letzte Manga-Band von Neon Genesis Evangelion ungelesen in meinem Regal. Ich habe mich bisher einfach noch nicht getraut, mir anzuschauen, wie das Ende im Manga umgesetzt wurde. NGE hat die Besonderheit, dass es anders als viele andere Anime keine Mangavorlage hatte. Zwar erschienen drei Bände vor der Erstaustrahlung, die waren dennoch eher als Begleitmaterial gedacht und wurden logischerweise bald von dem Anime (über den ich übrigens hier bei der woxx ausführlich geschrieben habe) überholt. Die spätere Fertigstellung geschah in einer gletscherhaften Langsamkeit – in Japan erschien der letzte Band 2013. Was auch bei den vier Rebuild-Filmen ein Problem war: Die ersten drei Teile kamen 2007, 2009 und 2012 raus, was ja irgendwie verkaftbare Abstände sind. In Japan zumindest, die Nordamerika-Releases waren 2009, 2011 und 2016. Ich weiß gar nicht mehr, wann ich welche Filme gesehen habe, es war auch gar nicht so leicht, an sie zu kommen.

Der letzte und vierte Film (Evangelion: 3.0+1.0 Thrice Upon a Time) ließ aber bis 2021 auf sich warten. Und das muss eins ja auch irgendwie mitkriegen – und obwohl NGE so viel meiner Jugend geprägt hat, hab die Nachrichten um die Rebuild-Filme nicht fiebernd verfolgt. Eher so: Alle paar Monate mal dran gedacht, dass der letzte Film ja noch irgendwann kommen soll. Als mir eine Arbeitskollegin letztes Jahr einen Artikel mit einem Review zu dem vierten Rebuild schickte, war ich ein wenig überrascht, dass es „schon soweit“ gewesen sei. Seitdem habe ich den Tab mit dem Artikel offen. Und genau wie beim Manga traute ich mich nicht, den Film gleich anzusehen. Dazu gehörte Vorbereitung, mindestens müsste ich die Rebuild-Filme alle nochmal sehen.

Das tat ich dann auch. Sonntag ist mein Filmtag, wie meine Letterboxd-Freund*innen vielleicht schon herausgefunden haben. Ich habe trotzdem schon am Vorabend den ersten Rebuild-Film gesehen, um mich dann am Sonntagvormittag an die zwei nächsten zu machen. Ich erinnerte mich an meine Verwunderung, wie abrupt der zweite Film endet – und dass ich damals sehr erstaunt dachte, dass Anno sich tatsächlich zwei Filme für das Ende (der Serie und der Welt) übrigließe. Das ist nicht ganz so passiert, wie ich es mir damals vorstellte. Vermutlich wäre aber sogar für Anno zwei Filme, in denen ein äußerer und innerer Weltuntergang gezeigt wird, zu viel gewesen.

Ab hier kommen Spoiler. Der Film ist über ein Jahr alt, die Serie wesentlich älter. Ihr seid gewarnt.

Der vierte Film beginnt mit einer Szene in Paris. Soweit ich mich erinnern kann, gab es bisher nie eine derart lange Szene außerhalb Japans. Wir lernen, dass diese Halbzerstörung der Welt, die Shinji am Ende des zweiten Films ausgelöst hat, sich zumindest zu einem Teil aufhalten oder rückgängig machen lässt, wenn eins über die richtige Technologie verfügt. WILLE tut das und kann somit auf die unbenutzten Ersatzteile von Euro-NERV zurückgreifen.

Kurzer Einschub: Jedes Mal, wenn Euro-NERV erwähnt wurde, habe ich mich ein wenig gefreut. Es gibt ein eigenes Euro-NERV-Logo, mit Europafahnensternchen. Es ist genau das, was die EU tun würde, wenn eine paramilitärische Kampfroboterorganisation mit nationalen Armen auf UN-Niveau gegründet würde: Den europäischen Ableger mit Europafahnensternchen branden. Außerdem muss ich immer, wenn irgendetwas Euro-X heißt, an diese Simpsons-Szene denken.

Es folgt etwas, womit ich nicht gerechnet hätte. Der vierte Film zeigt etwas, was wir in all den Jahren bei Evangelion noch nie gesehen haben: Hoffnung. Ganz konkret in der kleinen Gemeinschaft von Geflüchteten, die sich irgendwo am Land nahe Tokio-3 ein neues Dorf aufbauen. Shinjis Klassenkamerad*innen – in dieser Version der Geschichte von dem Schicksal, Eva-Pilot*in sein zu müssen, verschont – sind Ärzt*innen oder Techniker*innen und wichtige Mitglieder ihrer Gemeinschaft. Sie sind erwachsen geworden, während Shinji, Rei und Asuka in ihren jugendlichen Körpern gefangen sind. Auch das ein Zeichen dafür, was Rebuild of Evangelion uns eigentlich sagen will. Rei, die „nicht das Original“ ist, kann ihren Körper ohne künstliche Hilfe nicht aufrechterhalten und demateralisiert zu der orangen LCL-Flüßigkeit, ähnlich wie alle Menschen in End of Evangelion.

Nachdem Shinji und Asuka eine Zeit in dem Dorf verbracht haben, wird die Handlung irgendwann weitergetrieben und diese kleine Idylle muss gerettet werden. In der Serie war es noch die mächtige Hightech-City Tokio-3, die verteidigt werden musste, was Shinji zumindest kurzfristig motiviert hat. Nun steht nicht nur die Wiedergutmachung des halben Weltuntergangs, den er ausgelöst hat, auf dem Spiel, sondern auch die Rettung dieser kleinen intakten Enklave, die mit Mühe und Fleiß aufrechterhalten wird.

Das wird Shinji nicht gegönnt: Niemand innerhalb von WILLE traut ihm genug, um ihn frei auf dem Schiff Wunder herumlaufen zu lassen, er wird in eine Isolationszelle gesteckt. Asuka und die zweite Pilotin Mari – die in der Serie nie vorkam – leben übrigens in ganz ähnlichen Gebilden. WILLE will es dennoch mit NERV aufnehmen. Letztere Organisation scheint nur noch aus Shinjis Vater Gendo und dessen Stellvertreter Kozo Fuyutsuki zu bestehen. Das macht aber nichts, denn die Evangelions sind mittlerweile so weiterentwickelt, dass sie nicht nur keine menschlichen Pilot*innen mehr brauchen, sondern auch in quasi-unendlichen Stückzahlen gebaut werden können. WILLE kämpft am Südpol, wo der sagenhafte „First Impact“ stattgefunden hat und nun ein merkwürdiges Anti-Universum besteht, gegen NERV.

Es kommt, wie es bisher immer kam: Das Schicksal der Welt liegt am Ende in Shinjis Händen. Er kann Misato davon überzeugen, ihn in EVA-01 loszuschicken, um den weiteren Weltuntergang, den sein Vater auslösen will, doch noch irgendwie zu stoppen. Und auch hier bekommen wir etwas zu sehen, was uns bisher verwehrt geblieben ist: Einen direkten Konflikt zwischen Gendo und Shinji, zwischen Vater und Sohn.

Der ist physisch überhaupt nicht zu gewinnen, psychisch kommt Shinji zumindest ein Stück weit an seinen Vater heran. Am Ende ist es jedoch Misato und die Crew der Wille, die mit viel okkultem Techno-Babble eine weitere Lanze materalisieren, mit der Shinji über das Schicksal der Welt bestimmen kann. Er entscheidet sich schlussendlich für eine neue Welt (Neon Genesis) ohne Evangelions. Es wird sich ausführlich von allen Kampfrobotern verabschiedet, Mari und Shinji haben eine kurze Szene in einer alternativen Animewelt, in der es keine Evas gibt und dann sehen wir Filmbilder von der echten Welt.

Ein gutes Ende. Ich hatte, wie schon erwähnt, ziemliche Angst, einmal mehr enttäuscht zu werden, oder einfach verwirrt da zu sitzen. Dem war aber nicht so. Anno hat es tatsächlich geschafft, endlich so etwas wie Closure reinzubringen. Es gibt diese Theorie, dass bereits End of Evangelion als Schlag ins Gesicht der Fans, die mit dem Serienende nicht zufrieden waren, gedacht war. Nach dem Motto „Hier habt ihr, was ihr wollt, mehr Gemetztel und Blut und tote Pilot*innen als ihr fressen könnt, erstickt daran!“ Ich glaube da nicht ganz dran, auch wenn ich einige Elemente davon sehe. Ein Indiz war ja eine Hassmail, die während EoE eingeblendet wurde – so wie ich es verstanden habe, wurde aber auch tatsächlich Fanpost eingeblendet, die das Serienende gelobt hat.

Rebuild ist selbstverständlich ein postmodernes Werk, das mehr als ein Remake ist. Das ist bereits in den ersten Einstellungen sichtbar, denn obwohl vieles shot-for-shot remaked wird, gibt es (un)subtile Unterschiede: Das Meer ist rot, genau wie es am Ende von EoE rot ist. Ich hielt Rebuild dafür eine Zeitlang für eine Art Fortsetzung und dachte, es würde eine in-Universe-Erklärung dafür geben. Asukas anderer Nachnamen und Mari sprachen aber dann wieder eher dagegen. Außer den paar kryptischen Szenen und Sätzen von Kaworu – dessen Liebesbeziehung zu Shinji in Rebuild durchaus endlich mal expliziter ist als in der Serie – ist das jedoch kein zentrales Thema.

Und dennoch wird klar: Alle Figuren sind in einem ewigen Kreislauf zwischen Second und Third Impact, Death and Rebirth, gefangen. Das lässt sich auch mit dem Originaltitel シン・エヴァンゲリオン劇場版:𝄂 (transkribiert Shin Evangerion Gekijōban:𝄂) „belegen“, denn es handelt sich wohl um das Zeichen „𝄇„, was das Ende einer Wiederholung anzeigt und nicht um 𝄂“, was das Ende eines Stücks bedeutet.

Die Evangelions sind von einer außergewöhnlichen Waffe, die nur ein paar wenige auserwählte 13-Jährige steuern können und deren Bau nach den finanziellen Ressourcen ganzer Länder verlangt, zur Massenware geworden, die sich in schier unendlichen Zahlen produzieren und einsetzen lässt. Das spiegelt wohl auch ein wenig den Status von NGE in der japanischen Popkultur wieder, und vielleicht auch das, was die Serie mit dem Kampfroboter-Genre gemacht hat.

Shinjis Wunsch nach einer Welt ohne Evangelions ist nicht nur die einzige Möglichkeit, diesen Zyklus – der für ihn persönlich bedeuten würde, auf ewig unglücklich zu sein, zu beenden. Sie zeigt wohl auch Annos Verlangen, mit dem Kapitel Evangelion abzuschließen und dem Franchise ein Ende zu setzen. Es gibt kein Applaus, sondern einfach die Entlassung in die Freiheit. Die Szene im alternativen Universum ist kein Teenie-Slapstick, sondern einfach nur ein Übergang in die Welt ohne Evangelions.

Wie auch schon bei Neon Genesis Evangelion ist die Apokalypse das zentrale Thema von Rebuild. Nicht nur, dass Shinji und seine Mit-Pilot*innen das Ende der Welt verhindern sollten, sie leben auch in der Postapokalypse. Der Second Impact, der der Öffentlichkeit als Meteoriteneinschlag verkauft wird, war eigentlich das Resultat eines Experiments von Wissenschaftler*innen, die sich für mächtiger als Gott hielten. In dieser Welt gibt es keine Jahreszeiten mehr, weshalb ständig Grillenzirpen zu hören ist, erfahren wir irgendwann nebenbei. Die Parallelen zur Klimakrise sind überdeutlich, und sie werden in Rebuild nur noch einmal deutlicher gezeichnet, besonders in den Szenen in dem Dorf, das nur durch technologische Mühen eine intakte Welt aufrechterhalten kann.

Eins kann das beliebig weiterspinnen: NERV ist eine UN-Organisation, aber die Leute, die wirklich etwas zu sagen haben, verfolgen eigene Interessen und wollen die Menschheit nicht wirklich retten, sondern lediglich ihre Version vom Ende der Welt verfolgen. Das könnte man mit dem Frust über kürzliche Klimakonferenzen durchaus auch so lesen. Irgendwann hören die Parallelen natürlich auf, spätestens wenn es metaphysisch wird oder alle Menschen zu einer orangen Flüssigkeit werden.

Ich liebe jedes Ende von Evangelion: Die tiefenpsychologische Dekonstruktion Shinjis in den Episoden 25 und 26, das blutrünstige und dann unglaublich verwirrende End of Evangelion, und auch Rebuild. Jede Iteration hat ihren ganz eigenen Charme und bietet Möglichkeiten, über verschiedene Dinge nachzudenken. Jetzt, wo das Warten (und Herauszögern) ein Ende hat, würde ich den Kreislauf am Liebsten von Neuem beginnen.

3 Kommentare “End of Rebuild of Evangelion

  1. @soulzeppelin also wenn du dermaßen lange Beiträge schreibst, noch dazu mit Filminhalten, wäre eine kleine CW doch ganz nett. Dann kann ich es einklappen und kaufe nicht Gefahr irgendwelche Inhalte versehentlich zu lesen, wenn ich den Film noch gucken möchte.

  2. Ob das funktioniert, wenn ich in WordPress antworte? Ich glaube, dass es leider keine CW-Funktion für wordpress-Posts gibt, aber ich kann versuchen, sie irgendwie manuell einzubauen. Bei diesem Beitrag gab es aber eine Zeile mit “Spoiler ab hier”, aber das ist im Blog selbst wohl nützlicher als auf Mastodon. Meine (@jollysea@chaos.social) Politik wird in Zukunft sein, die Blogbeiträge nicht mehr zu boosten, aber den Account zu mentionen, wenn ich was neues geschrieben habe.

  3. Pingback: 2022 im Rückblick | enjoying the postapocalypse

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