Kuchenbaum.
Dies ist die Geschichte um ein Mädchen namens Ina, ihren Exfreund, ihre Freundin, Zoë, und deren Exfreundin, Aline. Diese Seite dient der Zusammenfassung und ist für jene Menschen gedacht, die die Geschichte ganz lesen wollen. Die Originalartikel (mit Kommentaren): 1. Teil: Hoffnung. 2. Teil: Entmut. 3. Teil: Überwindung. 4. Teil: Türschwelle 5. Teil: Ina. 6. Teil: Vergessen. 7. Teil: Mullbinde. 8. Teil: Entscheidungsfindung 9. Teil: Dachboden. 10. Teil: Cercidiphyllum japonicum 11. Teil: Meeresrauschen 12. Teil: Baumkuchen 13. Teil: Zimmerdecke 14. Teil: Erinnerung.
Hoffnung.
Der leichte Regen störte seine Sicht nicht. Er mochte diese Landstraßen in der Nacht, er hätte ewig auf ihnen entlangfahren können. Und er hatte auch noch eine ganz schön weite Strecke vor sich. Die Musik, die das Radio spielte, entführte ihn in eine andere Wirklichkeit. Alles schien so real und gleichzeitig so künstlich, wie in einem hochauflösenden Film. Die Regentropfen. Er hatte noch nie so schöne Regentropfen gesehen. Ihr Trommeln schien mit der Musik zu harmonieren, ein Ganzes zu bilden. Trotzdem hatte er keine Mühe, sich auf die Straße zu konzentrieren. Am Rand tauchten hin und wieder Bäume auf, ansonsten war das Land leicht hügelig und die einzige Abwechslung von den Viehweiden waren die abgeernteten, stoppeligen Felder, die sich allenthalben abwechselten. Einmal ein einzelner Bauernhof, aber das war vor einer Viertelstunde gewesen, ansonsten keine Häuser.
Was hatte ihn dazu gebracht, mitten in der Nacht wie ein Irrer durch diese gottverlassene Gegend zu fahren?
Ein Mädchen natürlich. Sie. Der Regen trommelte weiter. Es gab hier keine Beleuchtung, die Straße und Umgebung war nur im fahlen Licht der Scheinwerfer zu sehen. Er hatte nicht schlafen können. Sein Körper hatte sich angefühlt wie auf Entzug. Noch immer spürte er die feinen kleinen Stiche auf dem Rücken, die er in solchen Situationen immer verspürte, seit seine Haut einmal nach dem Essen bei einem Italiener eine allergische Reaktion gezeigt hatte. Er hatte nie herausgefunden worauf er eigentlich allergisch war, denn der Arzt hatte ihm abgeraten, einen Test machen zu lassen.
Er erinnerte sich daran, wie sie einmal ein Foto davon gemacht hatte. Das war letzten Sommer gewesen. Nur ein paar Monate her. Damals hatte die Welt ganz anders ausgesehen. Die Nächte waren längst nicht so dunkel, nass und kalt gewesen, sondern voller Blütenduft, Grillenzirpen und Poesie, erleuchtet von den Sternen. Er hatte das Foto noch irgendwo, wahrscheinlich bloß auf dem PC, denn er soweit er sich erinnern konnte, hatte er nur ihr ein Exemplar ausgedruckt. Man sah nicht viel auf dem Bild, nur das orangerote Glimmen seiner Zigarette und seine dunkle Silhouette, aber für sie war es die Erinnerung an eine dieser vielen Nächte gewesen, in denen sie durch diese gottverlassene Gegend gefahren waren, oft bis zum Morgengrauen, um sich gemeinsam den Sonnenaufgang anzusehen.
Er war hier nahe an der Grenze. Nicht nur geographisch, sondern auch in seinem Kopf. Eigentlich hatte er schon »ihr« Gebiet betreten, aber dennoch war die Landschaft hier so uniform, dass er nicht wirklich eine Erinnerung daran hatte, wann und wieso er schon mit ihr hier gewesen war. Er fuhr auch manchmal absichtlich Umwege, um dem Unausweichlichen noch ein wenig zu entgehen. Bald würde er so nahe bei ihr sein, dass die Erinnerungen sich nicht mehr verdrängen lassen würden.
Mit einer schnellen Handbewegung schmiss er die noch glühende Zigarette aus dem Fenster. Während dieses kurzes Augenblicks kam spürte er die Kälte dieser nassen Novembernacht, wie sie nur der Wetter in dieser Gegend hervorbringen konnte. Die Nadelstiche auf seiner Haut wurden deutlicher, als er erkannte, dass er gerade an einer Baumgruppe vorbeigefahren war, die den Eingang zu »ihrem Land« markierte.
Sein Atmen ging für einen Moment schneller, dann beruhigte er sich, stellte das Radio lauter, atmete tief ein und konzentrierte sich wieder auf die Straße.
Für einen Moment war sein Herz voller Hoffnung.
Entmut.
Als die Musik im Radio plötzlich umschlug, drückte er die Kassette, die noch im Laufwerk stecke, wieder hinein. Sie leierte ein wenig, aber das war ihm egal. Das, was er da hörte, war ihr Mixtape, das sie ihm – oder ihnen, aufgenommen hatte. Es erzählte eine Geschichte, aber er konnte sich nicht mehr an sie erinnern. Zu sehr hatten sich die Erinnerungen an die Dinge, die während dem Hören dieses Mixtapes passiert waren, in sein Gedächniss eingebrannt. Zuweilen kam es vor, dass er ein Lied, das auf der Kassette war, einzeln hörte und danach die ersten Takte des nächsten erwartete.
Er musste sich auf die Straße konzentrieren, um nicht mit Weinen anzufangen. An jedem Baum, an jeder Viehweide, an jedem Wegkreuz, an jedem Haus, das er passierte, hafteten Erinnerungen an gemeinsame Zeiten, an diesen wunderbaren Sommer, der endlos geschienen hatte. Dies war ihr Land. Dieser Satz hallte in seinem Kopf als wäre er eine Kathedrale, in die jemand eben diesen Satz schreien würde.
(Image cc by rachel a. rogers)
Der Regen liess nach. Die Nacht began bereits heller zu werden. Er wagte nicht, auf die Uhr zu sehen, festzustellen, wie lange er wie ein Verrückter durch diese Einsamkeit gefahren war, wieviele Kilometer an erinnerungsträchtiger Strecke er zurückgelegt hatte. Seine Hände schmerzten, nicht von dem langen Fahren, sondern… psychosomatisch. Als Jugendlicher mit christlicher Erziehung hatte er sich in den Situationen, wo seine Händen wegen seelischen Qualen mit schmerzen anfingen, oft mit dem stigmatisierten Jesus verglichen. Heute tat es einfach nur noch weh, an gewisse Dinge erinnert zu werden.
Die Sterne wichen einem verwaschenen Dunkelblau, das von dem neuen Tag kund tat, der wohl genauso grau sein würde wie die Woche vor ihm. Ohne sie schien sowieso alles grau zu sein, selbst dieses Land, das sonst immer wie voller Wunder gewirkt hatte. Mit dem neuen Tag verliess ihm auf einmal der Mut. Der Plan, zu ihr zu fahren, bei Sonnenaufgang im goldenen Licht vor ihrer Tür zu stehen, ihr alles zu sagen, was er zu sagen hatte, erschien jetzt nur noch verrückt. Sie würde ihn abweisen, anschreien, und er würde sich halberforen wieder zurück ins Auto setzen und ohne Musik zurück fahren.
Eine einzelne Schneeflocke fiel auf seine Windschutzscheibe.
Überwindung.
Die Dunkelheit umschloss ihn nicht mehr wie ein düsterer Schutzmantel aus Abwesenheit von Licht. Wie merkwürdig. Dunkelheit war bloß die Abwesenheit von Licht. War Schmerz nur die Abwesenheit von Freude? Nostalgie nur die Abwesenheit von richtigen Dingen, die man erleben konnte?
Es waren nur noch wenige Minuten bis zu ihrem Haus, und die Nacht hatte sich in einen grauen Morgen verwandelt, düster und regnerisch. Wieder trommelten dicke Tropfen auf der Scheibe, vermischt mit Schneeflocken.
Er hatte seine verrückte Idee durchgezogen. Oder er würde sie durchziehen. Er hatte ihr Land durchquert, hatte den Erinnerungen an jedem Baum, an jedem der verstreuten Häuser, an jeder Kreuzung und Biegung getrotzt, sich auf seinen Schmerz konzentriert und war einfach gefahren, gefahren, bis jetzt. Und jetzt?
Dieses Gefühl kannte er, aber eher aus anderen Situationen. Als er mit ihr in Urlaub gefahren war, hatten sie das gleiche gehabt. Kurz vor ihrer Ankunft hatten sie sich gefragt, wieso sie eigentlich so furchtbar lange mit dem Auto unterwegs gewesen waren, was denn eigentlich so toll an ihrem Ziel sei. Er konnte sich die Frage damals nicht beantworten, aber sie hatte wie so oft einen philosophischen Satz gefunden, der ihn auf andere Gedanken gebracht hatte. Vielleicht hatten sie aber auch nur über ein Mädchen gelästert, das zufällig über die Straße gelaufen war.
Jetzt lief niemand mehr über die Straße, denn hier gab es niemanden, der über die Straße laufen konnte. Diese Gegend war leer, und jene, die hier lebten, war weit über das eintönige Land verstreut. Gottverlassen hatte sie es genannt, doch in Wahrheit waren es die Menschen, die diesen Landstrich verlassen hatten – nicht, dass es je viele gewesen wären, und mit ihnen hatten sich die Kirchen, die sie als Beweis für die Abwesenheit eines Gottes – zumindest in ihrer Gegend, gesehen hatte, geleert.
Alle Sender spielten unpassende Musik, alle Kassetten waren zu oft gehört.
photo cc by Quinn Anya Dombrowski
Es war nun nicht mehr weit. Er fuhr langsam, um seine Ankunft nicht durch lautes Motorengeräusch frühzeitig anzukündigen. Als ob man ihn bei all dem Schneeregen überhaupt hören würde. Ob sie jetzt schon wach war? Er wagte es nicht, auf die Uhr zu sehen, weil er nicht feststellen wollte, dass er eigentlich noch warten sollte, ehe er sie aus dem Bett klingelte. Es gab hier keinen Ort, an dem man warten konnte.
Noch drei Kurven. Hier hatten ihre langen Sommerspaziergänge durch das kleine Wäldchen in der Nähe immer ihr Ende gefunden. Meist war es schon dunkel gewesen, wenn sie zurückgekommen waren, und um die hohe Straßenlaterne mit ihrem fahlen, mondscheinähnlichen waren Myriaden von Insekten geschwirrt. Nachtfalter, Mücken und dicke Käfer, angezogen von dem künstlichen Licht, bald im Netz der Spinnen.
Sie hatte damals gesagt, dies sei eine Metapher für die Menschen. Wir würden immer nach Glück streben, blindlings darauf zulaufen, ohne auf die Gefahren zu achten. „Das Licht am Ende des Tunnels ist nur allzuoft mit einem Spinnennetz überzogen“ war einer ihrer Sätze gewesen.
Er bekam heute wie damals bei dem Gedanken Gänsehaut und ein kalter Schauer fuhr ihm über den Rücken.
Noch zwei Kurven.
Er erinnerte sich an keine spezielle Situation zu diesem Ort. Aber er wusste, dass sie etliche Male hier vorbeigelaufen waren, und sicher hatte er sie auch einmal in einem Anflug von Leidenschaft hier geküsst. Sie hatten sich so oft geküsst. Er wollte nicht daran denken, sich nicht das Gefühl zurückrufen, wie es war, ihre Zunge in seinem Mund zu spüren, mit ihr zu spielen, diese Verbindung, die nur non-verbal sein konnte, einzugehen. Vielleicht war das ein Paradoxon ihrer Beziehung: Sie, die so viel miteinander redeten, Nächte damit verbrachten, sich gegenseitig zu erzählen und philosophische Gedankengänge auszubauen, küssten sich gleichwohl so oft, wobei sie nicht reden konnten.
Noch eine Kurve. Er fuhr noch langsamer. Er wollte nicht, dass sie wusste, dass er kommen würde, dass sie sich vorbereiten konnte. Er wollte vor ihrer Tür sehen und ihr Erstaunen, ihr hoffentlich freudiges Erstaunen sehen.
Gleichzeitig schwand sein Mut wieder, seine Hände und Unterarme kribbelten so stark, dass es schmerzte.
Er blieb stehen. Es gab kein Haus gegenüber von ihrem, so dass er dort parken konnte.
Er schaltete den Motor ab. Kein Geräusch mehr ausser dem monotonen Hin- und Her der Scheibenwischer, die die Frontscheibe von dem weißgrauen Schneeregen befreiten. Klare Sicht. Das war es, was er jetzt brauchte. Er fühlte sich aber als sei das komplette Gegenteil der Fall.
Wie im Traum richtete er seinen zerknitterten Pullover, strich sich durchs Haar, trank einen Schluck Wasser aus der warmen Plastikflasche, die auf dem Beifahrersitz lag. Dann zog er den Schlüssel aus dem Schloß und stieg aus.
Der frischgefallene Schneematsch knirschte leicht unter seinen dünnen Turnschuhen. Unbelehrbar, was festes Schuhwerk angeht, hatte sie immer gesagt. Dabei hatte sie öfters kalte und nasse Füße gehabt als er. Oder es öfters zugegeben.
Der kurze Weg über die Straße, über den Bürgersteig bis hin zu ihrer Haustür schien ihm endlos. Irgendwo bellte ein Hund. Sie hatte von einer Freundin erzählt, deren Hunde einmal einen Liebhaber gebissen hatten. Es hatte sich nachher herausgestellt, dass der Typ ein richtiges Arschloch war – das jedenfalls war ihre Schlussfolgerung gewesen.
Er atmete die kalte, feuchte Luft ein. Sie schmeckte nicht so frisch wie im Sommer, aber nach den langen Stunden der gefilterten und abgestandenen Autoluft war sie geradezu köstlich. Er wusste, dass er nun den Klingelknopf drücken musste. Er konnte sich noch einige Minuten lang damit ablenken, die bekannte weiße Fassade und die bekannten merkwürdig grünen Fensterläden und -rahmen zu betrachten und sich über die moderne Tür zu wundern, die nicht so recht zu passen schien, obwohl sie farblich und stilistisch genau angepasst war. Aber er würde diesen Knopf drücken müssen. Er konnte nicht so lange wie im Fieberwahn gefahren sein, um bei Sonnenaufgang bei ihr zu sein, um jetzt, vor dem Ziel, aufzugeben. Er wusste, dass er das nicht konnte, nicht wollte, und auch nicht tun würde.
Also klingelte er. Und nahm tief Luft.
Wieder bellte weit entfernt ein Hund.
Durch das kleine Milchglasfenster auf Sichthöhe sah er Bewegung auf der anderen Seite. Sein Herz raste. Das Kribbeln in seinen Händen war wieder da.
Die Tür ging auf. Geradezu geräuschlos.
Eine fremde Person starrte ihn an.
Ein Mädchen. Ihr Gesicht war rundlich, mit großen, hellen, braunen Augen und einem breiten Mund. Ihre Unterlippe war gepierct, ein dicker Ring. Ihr Haar war kurz, in einem grellen Blau gefärbt und wirkte strohig.
Sie war schön.
Ihr weites dunkelblaues T-Shirt konnte ihre in seinen Augen vorteilhafte Oberweite nicht verstecken, die nicht so recht zu ihrer restlichen zierlichen Figur passen wollten. Sie war barfuß. Er hatte ganz vergessen, dass das Haus über eine Fußbodenheizung verfügte.
Und sie trug knappe, schwarze Trainingsshorts.
Er wusste, wem diese Shorts gehörten.
Türschwelle
Sie hatte also eine Freundin.
Das war neu für ihn. Er hatte schon immer gewusst, dass sie bisexuell war und auch schon mit Frauen zusammen gewesen war, aber für ihn war das mehr ein reizvolles Geheimniss gewesen als eine Tatsache, der er viel Beachtung geschenkt hatte. Er war nie auf andere Mädchen eifersüchtig gewesen, sondern immer nur dann, wenn sie einem anderen Typen zu lange in die Augen gesehen hatte.
Das Mädchen, oder die Frau – er hatte noch nie gewusst, wie er die beiden Begriffe voneinander trennen sollte, da es für ihn eine Gefühlssache war, wie er diese beiden Wörter verwendete, und Frau passte einfach nicht – es war aber das Wort, das beschrieb, wie die beiden sich wahrscheinlich sahen: als Frauen, sprach:
»Hallo? Du willst bestimmt zu …«
In ihrer Stimme lag Wärme, und trotzdem fiel er ihr ins Wort. Er war unbeherscht, er wollte sie sehen, er wollte vor ihr auf die Knie fallen, er wollte sein verrücktes Vorhaben in die Tat umsetzen. Das Mädchen war dabei bloß ein weiteres Hinderniss auf seiner Odysee.
»Ja. Wo ist sie?«
»Sie schläft noch. Komm doch rein, du hast bestimmt eine lange Reise hinter dir?«
Wusste sie, wer er war? Wieso war sie so freundlich zu ihm? Er hätte jeden Verehrer vor die Tür geschmissen, ihm gesagt, er solle seine Verrücktheiten unter der kalten Dusche oder im Schneeregen noch einmal überdenken. Und sie, dieses Mädchen, das jeden Grund gehabt hätte, misstrauisch zu sein, liess ihn einfach so herein? Noch dazu in ein Haus, das nicht ihr gehörte?
»Sie hat mir Fotos von dir gezeigt, deshalb weiß ich, wer du bist. Mit langen Haaren hast du übrigens besser ausgesehen.«
Wieder dieses Lächeln. Wäre die Situation nicht so absurd gewesen, wäre er vor diesem Mädchen ebenso dahingeschmolzen wie damals, im Frühling, als er das Ziel seiner Reise kennengelernt hatte.
Er trat wortlos ein, versuchte, zu Lächeln und bemerkte, wie ihm unwillkürlich ein wohliger Schauer über den Rücken lief. Die wunderbare Wärme dieses Hauses löste fürs Erste keine Erinnerungen aus, sondern Wohlbehagen. Er mochte die hellen, warmen Farben, den knarrenden Holzfußboden und die alten Möbel, wie die Kammode, die im Flur stand, und wo er, ohne es Recht zu bemerken und seiner alten Gewohnheit folgend, seine Schuhe auszog.
Dann erst setzte der Schmerz wieder ein. Es fühlte sich an, als ob man nach langem Aufenthalt in der Kälte in ein warmes Zimmer kommt und die Fingerkuppen zu schmerzen beginnen.
Die Unbekannte ging in die Küche, und er folgte ihr, ohne sich etwas anmerken zu lassen. Er hatte wohl ihr Grinsen gesehen, als er seine Schuhe ausgezogen hatte, wollte aber nichts sagen. Was denn auch? Unwillkürlich starrte er ihr auf den Hintern und sah dabei wieder die Trainingshose.
Er konnte sich ganz genau an die Situation erinneren, wie diese Shorts den Besitzer gewechselt hatten. Normalerweise waren seine Erinnerungen an ihre wilden Nächte eher schwammig, er konnte sich nicht wirklich an viele Einzelheiten entsinnen, es sei denn, sie hatten an einem Abend etwas sehr spezielles ausprobiert oder waren an einem anderen Ort als dem Bett, das sich nun ein Stockwerk über ihm befand, gewesen. Aber mit dieser Nacht war es anders. Jedes noch so kleine Detail war haften geblieben, und mit dem Anblick der Shorts kam ihm wieder alles ins Gedächnis.
Er hatte die Gewohnheit, nach dem Akt seine Kleidung zu wechseln, und auch wenn nicht wirklich Grund dazu bestand, tat er es. So auch dieses Mal. Er war aufgestanden gewesen und hatte ihren Blick genossen, während er sich frische Unterwäsche angezogen hatte.
Und sie hatte sich seine Trainingsshorts, die für ihn fast zu kurz waren – und ihr deshalb auch nicht mal bis in die Mitte ihrer Oberschenkel reichten, genommen und angezogen. Ohne sonst etwas drunter anzuziehen. Er tolerierte diese Enteignung mit verliebter Verspieltheit und dem Wissen, dass sie wusste, wie sehr ihn seine eigene Kleidung an ihrem Körper anzog.
Das Mädchen schaltete einen Teekocher ein. Sie fragte, wieder mit dieser sanften, einladenen Stimme:
»Magst du einen Tee haben? Ich kann dir leider nur schwarzen anbieten! Und setz dich doch bitte.«
Er tat wie ihm geheißen und antwortete, ohne Recht zu Überlegen:
»Ja, gerne. Mit Zucker, bitte.«
Bald erfüllte der herliche Geruch von frischem, losen Tee die kleine Küche, die ungewohnt sauber und aufgeräumt wirkte. Aber er war es ja auch immer gewesen, der mit seinen Kochversuchen alles durcheinander gebracht hatte. Wie süße Nebelschwaden dampfte es aus dem Teekrug, als das Mädchen seine und ihre eigene Tasse füllte. Sie setzte sich zu ihm und sah ihm lange in die Augen.
(photo cc by Nathan Phillips)
Ina. Der Klang ihres Namens löste wieder Gänsehaut auf seinem Rücken aus.
Er nahm einen großen Schluck Tee, um nicht sofort antworten zu müssen.
»Ich wusste nicht, dass sie … dass sie eine Freundin hat.«
»Wusstest du nicht, dass sie bi ist, oder wusstest du nicht, dass sie vergeben ist? Ich meine, dass Ina das eine nicht unbedingt an die große Glocke hängt, weiß ich, aber ich dachte, sie hätte wenigstens den meisten Leuten erzählt, dass sie nicht mehr zu haben ist?«
Die Stimme des Mädchens klang verwundert, es schwang sogar ein klein wenig Verärgerung mit.
»Ich habe schon seit Monaten keinen Kontakt mehr mit ihr. Weder über Telefon, SMS noch über Internet. Ich hatte einfach angenommen, sie sei alleine. So wie ich.«
Sofort nach dem letzten Satz hätte er sich dafür am liebsten selbst auf die Zunge gebissen. Er wollte nicht vor Inas neuer Freundin die Mitleidstour ausprobieren. Sie wirkte nicht so, als ob sie auf so etwas anspringen würde und ausserdem … war sie vergeben.
Er schluckte bei dem Gedanken.
Sie lächelte wieder und fragte sanft, so, als hätte sie seinen letzten Satz nicht gehört oder eher noch, als sei ihre Frage die einzig gültige Antwort darauf:
»Wie war das eigentlich damals bei euch? Wie hast du Ina kennengelernt? Sie hat mir nie viel von euch beiden erzählt.«
Damals. Das Wort machte ihn wütend, obwohl es zu seinem Gefühl passte. Alles mit Ina schien ewig lange her zu sein, und alles was er jetzt noch in Verbindung mit ihr tat schien wie Archäologie zu sein. Trotzdem entfachte das Wort „damals“ in ihm ein kleines Feuer, das er sich nicht anmerken lassen wollte, denn eigentlich entsprach es genau seinem Gefühl, das wie ein schweres Tuch über der hellen Küche lag.
Er öffnete den Mund, um ihr zu antworten, da war das laute Knarren einer Tür im Obergeschoss zu hören.
Sein Herz machte einen Sprung.
Ina.
Wieso hatte sie ihn das alles gefragt? Wieso war sie freundlich, wieso stellte sie ihm solche Fragen? Sollte sie sich nicht bedroht fühlen und eifersüchtig ob seiner bloßen Anwesenheit hier sein? Er wusste, dass er so reagieren würde.
Er mied ihren Blick, schaute stattdessen auf den Grund seiner Teetasse. Ina mochte schwarzen Tee, sie trank nur diesen, in der kalten Jahreszeit oft literweise, hatte sie immer gesagt. Aber auch im Sommer hatte sie ihre Morgen so begonnen, noch vor der Morgentoilette.
Schritte im Treppenhaus. Nackte Füße auf Holzfußboden. Er sah Inas Füße wie in einem Film vor seinem inneren Auge, erinnerte sich genau daran, wie sie aussahen, wenn sie sie über diese Treppe, die er auch kannte, bewegten und wie sie, die hier jeden Quadratmillimeter kannte, alleine durch die Art ihrer Bewegungen die Herrschaft über dieses Haus bewies.
Er wusste, dass er die Konfrontation jetzt nicht mehr herauszögern konnte. Aber wieso war er jetzt noch hier? Wieso saß er mit seiner »Nachfolgerin« an einem Tisch und trank schweigend Tee? Er hätte schreien, toben, fluchen sollen, eine Szene machen, die Ina aus ihren sicherlich wohligen Träumen gerissen hätte – nur um dann wieder zu verschwinden, diesmal mit einer Flasche Tequila auf dem Beifahrersitz.
Das blutige Bild seiner eigenen Leiche in einem Autounfall zuckte für einen Moment vor seinem geistigen Auge. Er schüttelte sich wie nach einem zu großen Schluck hochprozentigem Alkohol.
Inas Freundin sah unschlüssig zu der geöffneten Küchentür. Sie überlegte wohl, ob sie die Überraschung ankündigen sollte oder nicht. Allem Anschein nach entschied sie sich für dagegen. Vielleicht wollte sie, dass Ina ihm eine Szene machte. Ihre Motive waren wie von Nebel umhüllt. Vielleicht hatte sie ihm deshalb Tee gekocht und ihm Fragen gestellt, um selbst wie im Wasserdampfnebel zu verschwinden, vor seinen Fragen zu flüchten. Er hatte ja nicht mal Gelegenheit gefunden, sich nach ihrem Namen zu erkundigen, so sehr hatte sie ihn überrannt.
Das Knarren der zweitletzten Stufe. Oder die zweite, wenn man hochstieg. Die Treppe zum Himmel knarrt auf der zweiten Stufe, hatte Ina ihm einmal während einer seiner ersten Besuche ins Ohr geflüstert. Es muss mitten in der Nacht gewesen sein. Einen Moment lang fragte er sich, was mehr schmerzte: Die Erinnerung oder das langsame Vergessen, bei dem alles neblig wurde, zu einem Brei aus Sätzen, Bildern, Sinneseindrücken, auf die man sich keinen Reim mehr machen konnte, die irgendwann keinen chronologischen Sinn mehr ergaben und schlussendlich zerbröckeltes wie uraltes, vergilbtes Pergament.
Dann war das Klatschen ihrer nackten Fußsohlen auf den glatten Dielen des Flures deutlich zu hören gewesen. Sie musste noch müde sein. Eine lange Liebesnacht? Wieso war ihre Freundin denn schon auf? Gleich nach diesem Gedanken tat er ihn wieder als dumm weg. Als müsse man als Liebespaar immer gleichlang schlafen.
Er hielt die Luft an. Zählte die Schritte.
»Guten Morgen, Maus!«
Und dann stand sie da, im Türrahmen, mit dem Blick, mit den er so oft in ihrem Gesicht gesehen hatte, den er so geliebt hatte. Es war Hingebung und Verliebtheit, vielleicht sogar ein wenig Libido in diesem Blick.
»Wir haben Besuch, Ina.«, antwortete die Angesprochene in einem ziemlich schroffen Tonfall.
Inas Blick änderte sich ziemlich schnell. Es war nicht Wut, sondern eher Trauer, die sich zeigte. Sie sah nicht glücklich aus.
»Was machst du denn hier?«, fragte sie, emotionslos, geradezu kalt, während ihre Freundin ihr Tee ausschenkte und sie sich setzte. Sie trug ein übergroßes T-Shirt und Boxershorts.
Was sollte er antworten? Er wusste ja selbst nicht einmal mehr, wieso er überhaupt noch hier war. Wahrscheinlich, um seine Liebe zu ihr zu gestehen – aber was für eine Liebe war das, und welche Ina liebte er? Denn er wusste, dass sie nicht mehr jene Person war, die in seinen schlaflosen Nächten in seinem Kopf herumgespuckt war, dieser mystifizierte Engel, der nichts mit der Realität zu tun hatte, sondern ein normaler Mensch aus Fleisch und Blut, mit seinen Schwächen und Stärken.
»Ich weiß es eigentlich selbst nicht.«
Seine Stimme zitterte.
»Ich bin die ganze Nacht gefahren, um dich zu sehen. Ich wusste nicht, dass du mittlerweile eine Freundin hast. Tut mir Leid. Ich hätte das nicht tun sollen, ich hätte nicht einfach so hier auftauchen sollen.«
Ina trank Tee, setzte ihre Tasse nieder. Ein Geräusch in der Stille der Küche, beinahe schon erlösend. Mit jeder Sekunde ihres Schweigens verhallten seine Wörter weiter, so, als ob er nie gesprochen hätte.
Schweigen. Zwischen ihm und Ina hatte es manchmal Situationen gegeben, in denen Schweigen wie ein Heilmittel gewirkt hatte. In den seltenen Fällen, in denen sie an das Ende eines Gespräches gelangt waren, alle möglichen Gedankenfäden abgesponnen hatten und alle Diskussionen geführt hatten – das war meistens nur am Ende einer langer Nacht der Fall gewesen, hatten sie sich angeschwiegen. Es war ein durchaus behagliches Schweigen gewesen, ganz anders als das, was jetzt herrschte.
Er erinnerte sich an eine Autofahrt, die mit viel Gespräch begonnen hatte, und dann, als jedes Wort zu schwer und jeder Satz zu lang erschienen hatte, war das Schweigen ihre Medizin gewesen. Sie hatte mitten im Satz aufgehört zu sprechen, als sie gemerkt hatte, dass sie sich nur noch wiederholten, und er hatte nichts mehr gesagt. Nicht einmal mehr Musik war gelaufen. Das Ende der Kassette, das Ende der Wörter, nur noch Stille und Motorenlärm.
Ina hatte später gesagt, sie brauche das Schweigen manchmal, einfach nur, um nicht das Gefühl zu bekommen, reden zu müssen. Und sie wäre glücklich darüber gewesen auch einfach einmal die Stille genießen zu können. Anfangs hatte er das Gefühl nicht uneingeschränkt geteilt, vor allem da ihr Abbrechen mitten im Satz ihn im ersten Moment irritiert hatte. Im Nachhinein hatte er das Gespräch mit sich selbst geführt, sich auf seine eigenen Gedankengänge während der Fahrt geantwortet.
Auf die Frage, woran sie dann während dem Schweigen gedacht hatte, hatte sie damals nur mit einem Schulterzucken antworten können. Sie hatte es nicht mehr gewusst. Wie weiße Flecken auf der Landkarte ihrer Erinnerung. Vielleicht hatte sie sich so sehr auf die Landschaft konzentriert, dass sie überhaupt nicht mehr gedacht hatte.
Sie schwiegen noch immer. Die Geräusche des Frühstücks brachten eine merkwürdige Banalität in die Situation, ohne einen von ihnen in die Normalität zurückzuholen. Während eines kurzen Augenblicks blickte er Ina in die Augen. Sie hielt seinem Blick stand.
Fast kam es ihm vor, als zählte sie innerlich die Sekunden.
Eins, Zwei, Drei, Vier, Fünf.
Dann senkte er wieder seinen Kopf und sah in die Tiefen seiner Teetasse.
Sie biss in ein Brötchen, um sich kurz danach einen Rest Haselnusscreme mit der Zunge vom Mundwinkel zu lecken. Fast hatte er grinsen müssen. Manche Dinge änderten sich nie.
»Du spinnst.«
Das war das erste Wort nach diesem langen Schweigen. Sie sprach es nicht wütend aus, sondern fast liebevoll, als würde sie ihn necken wollen.
Er starrte sie an, unfähig, irgendetwas zu antworten. Zuerst einmal, weil er nicht wusste, wie ihre Worte genau gemeint waren, und auch, weil er keine Ahnung hatte, wie er auf solch eine Äußerung, egal, wie sie gemeint war, reagieren sollte.
»Ich weiß überhaupt nicht, was ich sagen soll. Du meldest dich über Monate lang überhaupt nicht, wohl auch, weil wir gesagt haben, wir würden das mit dem Kontakt erst mal eine Weile ruhen lassen, und dann stehst du an einem verregneten Morgen hier in meiner Küche und erzählst mir, du seist die ganze Nacht zu mir gefahren und wüsstest selbst nicht, warum. Du spinnst. Aber ich kann dir nicht einmal wütend sein.«
»Du hättest aber guten Grund dazu. Ich bin einfach hierher gekommen, ohne mich anzumelden, störe euch beide beim Frühstück und erwarte auch noch, dass du mir die Antwort lieferst, wieso ich denn zu dir gekommen bin.«
Ina blickte ihn mit großen Augen an. Er mochte ihre Augen, besonders wenn sie irgendwelche Grimassen damit schnitt. Sie hatte eine besondere Art in der Beherrschung ihrer Mimik, was sie immer besonders ausdrucksstark erscheinen ließ.
»Ich kann dir nur sagen, was ich vermute. Ich denke mal, du bist noch nicht wirklich über diese lange Zeit und ihr abruptes, unschönes Ende hinweg. Genauso wenig wie ich. Und du hast wahrscheinlich keine Arme gefunden, in denen du Zuflucht suchen kannst. Und jetzt bist du gekommen, um mich erneut in den Arm nehmen zu können.«
Mit einem Male fühlte er sich sehr behaglich und zugleich merkwürdig unerwünscht auf diesem Stuhl in dieser Küche, die so voller Erinnerungen und Gewürze war. Er fühlte sich durchschaut und unverstanden zugleich.
Vergessen
»Ich bin gekommen, weil ich bei quasi allem, was ich tue, an dich erinnert werde, weil jeder Gedanke an dich noch immer so schmerzt wie kurz danach. Ich könnte dich nicht einmal hassen, denn das würde bedeuten, dass ich diesen Sommer, den wir gemeinsam erlebt haben, vergessen müsste.«
Seine Stimme klang kratzig, als hätte er seit Stunden nichts getrunken. Dabei hatte er einen Moment davor kurz an seinem Tee genippt.
Er wollte nicht vergessen. Und gleichzeitig hatte er den Wunsch, eines Tages aufzuwachen und sich an nichts mehr zu erinnern, sie aus seiner persönlichen Geschichtsschreibung auszulöschen. Ein weißer Fleck auf der Landkarte in seinem Kopf. Aber das konnte nicht die Lösung sein. War es die Lösung gewesen, hierher zu kommen und ihr das alles zu erzählen?
Ina strich sich über die Arme. Hatte sie eine Gänsehaut? Sie sah ihn nicht an, während sie sprach, und ihre Haare verdeckten seine Sicht auf ihre Augen.
»Was aber willst du, dass ich dir sage? Was soll ich bitteschön tun? Wenn ich mich nach dir sehnen würde, hätte ich dir das gesagt, aber eigentlich war ich froh darüber, dass du aus meinem Leben verschwunden warst. Du warst weit weg, wie ein böser Alptraum am nächsten Tag, und das fühlte sich…«
Sie stockte einen Moment, strich sich wieder mit den Händen über die verschränkten Arme, holte Luft, ehe sie weiterfuhr: »Das fühlte sich richtig an.«
»Wieso?«
Die Frage kam aus ihm herausgeschossen, ohne dass er es wollte, scharf und mit naiver Wut und Unglauben.
Aber hatte er nicht bis vor letzter Nacht das gleiche gedacht und gefühlt? War er es nicht gewesen, der für sich entschieden hatte, keinen Kontakt mehr mit ihr zu haben?
Ina sah ihn verwundert an. Sie hatte sich wohl keinen so scharfen Ton erwartet. Die Anklage, die in seiner Stimme gelegen hatte, traf sie. Dann blickte sie wieder auf ihre Füße, weiter ihre Arme verschränkt, langsam mit ihren Zehen spielend.
»Wahrscheinlich, weil ich nicht wollte, dass es weh tat, wenn ich an den Sommer dachte. Vielleicht wollte ich auch überhaupt nicht mehr daran denken, dass du je existiert hast, dass wir Zeit miteinander verbracht hatten, um keinen Schmerz zu spüren. Manchmal scheint es doch das Beste zu sein, alles zu vergessen.«
Vor unendlich langer Zeit hatte es eine Ina gegeben, die gesagt hatte, dass man nichts vergessen dürfe, auch nicht die schlechten Erfahrungen.
Inas Freundin hatte sich bisher still verhalten, das Gespräch der beiden beobachtet und von Zeit zu Zeit geräuschlos einen Schluck Tee getrunken, vor allem während den Pausen, die dem ganzen etwas quälendes verliehen, als würde jeder den anderen mit einem Moment der Stille foltern wollen.
Doch jetzt sagte auch sie etwas, mit ruhiger, fast schon heiserer Stimme:
»Vergessen ist schlecht. Alte Menschen vergessen Teile ihres Lebens. Ihnen haftet eine Traurigkeit an, eine Melancholie des Nicht-Vergessen-Wollens. Auch wenn Erinnern Schmerz bedeutet, so ist es besser, als überhaupt nichts mehr zu wissen. Das, was wir erlebt haben, wird zu einem Teil von uns, und wenn wir es mit einem Menschen zusammen erlebt haben, wird dieser Mensch somit auch ein Teil von uns. Wie die Splitter eines Hologramms immer das ganze Bild enthalten, so enthält die Erinnerung immer ein Bild, eine Momentaufnahme dieses Menschen.«
Sie errötete leicht, weil Ina und er auf sie starrten und sie fragend ansahen. Sie wich den Blicken peinlich berührt aus und starrte weiter, wie beim Reden schon, aus dem Fenster, wo sich ein weißer Flaum vom Schneeregen auf die Welt legte, um dann wieder so schnell zu verschwinden, wie er gekommen war.
Mullbinde.
Er bemerkte, dass Inas Blick auf ihr haften blieb. Wieder dieser verliebte Ausdruck in ihrem Gesicht, dieser merkwürdige Glanz in ihren Augen. Als würde sie ihre Freundin quasi von unten ansehen.
In ihrer Beziehung war es stets so gewesen, dass er sich Ina unterlegen gefühlt hatte. Sie hatte immer die weisen Sprüche gehabt, die sie ihm vor die Füße geworfen hatte, wenn er in seiner, so schien es ihm damals, grenzenlosen Naivität eine Frage, die ihm gerade so durch den Kopf gegangen war, laut gestellt hatte.
Ina war immer die Reife gewesen, für die keine Frage unbeantwortet bleiben sollte. Manchmal hatte es geschienen, als habe sie alles schon einmal überlegt, als sei sie alle möglichen Fragen des Lebens schon einmal durchgegangen und ihre Antworten dazu überlegt.
Er hatte diese Überlegenheit, die Ina nicht raushängen ließ, sondern die immer nur subtil durchschimmerte, immer auf ihr Alter zurückgeführt.
Sie war ein Jahr älter als er.
Als hätte dieses Jahr so viel bedeutet.
Er konnte sich nicht erinnern, dass diese gefühlte Unterlegenheit, die er immer gegenüber von Ina verspürt hatte, je ein Streitthema gewesen wäre. Für ihn war das einfach nur ein unterschwelliges Gefühl gewesen, und er hatte sich gut in dieser Rolle gefühlt, vor allem da Ina ihn nie von oben herab behandelte. Aber vielleicht kam es gar nicht darauf an, ob jemand sich überlegen fühlte, sondern nur darauf, dass der andere sich unterlegen fühlte.
Wie es wohl in anderen Beziehungen war? Sollte es immer einen Partner oder eine Partnerin geben, die sich unterlegen fühlte, und eine, die – und wenn auch nur in den Augen der anderen, überlegen war, die Beziehung geistig dominierte?
Hatte er sich vielleicht deshalb so viel Mühe gegeben, Ina zu gefallen, auf sie aufzupassen, ihre Wünsche zu erfüllen und sie zu unterstützen, wo er nur konnte?
Irgendwo in seinem Inneren wusste er, dass dies eigentlich Blödsinn war. Aber immerhin war es eine gute Ausrede. Wenn man sagen konnte, dass es eine feste Rollenverteilung gegeben hatte, dann war seine neuerliche Flucht zu ihr, seine überlegte Verzweiflungstat nur die letzte Konsequenz davon. Dann hatte diese Begegnung, die nun stattfand, stattfinden müssen. Dann würde jetzt alles einen Sinn ergeben, ohne dass er sich selbst erklären müsste – denn dann hätte er ja nur seine Rolle in der Beziehung zu Ende gespielt. Aber insgeheim wusste er ja, dass Ina ebenfalls oft für ihn gesorgt hatte, ihm umworben hatte, Dinge für ihn getan hatte. Und er wusste ebenso, dass auch er seine Momente hatte, in denen er auf Inas Äußerungen nur mit mysteriösen Sätzen geantwortet hatte, die ihm schon länger durch den Kopf gegangen waren.
Und trotzdem hatte er sich Ina aus einem merkwürdigen Grund heraus immer unterlegen gefühlt.
Irgendwo in der Ferne bellte ein Hund. Vor seinem geistigen Auge sah er einen großen schwarzen Hund, mehr ein Bär als ein Haustier, der bedrohlich sein Revier verteidigte. Dieses simple Geräusch hatte ihn aus seinem Gedankenstrom gerissen.
Er merkte, dass er wohl für einige Zeit aus dem Fenster gestarrt hatte, abwesend. Ina rührte in ihrer Teetasse, obwohl sie sich keinen Zucker genommen hatte. Sie hatte noch nie Zucker genommen.
»Ich frage mich, ob du wirklich ohne eine fixe Idee hier her gekommen bist, oder ob du einen Plan hattest. Ich finde nicht, dass es zu dir passt, etwas so kopfloses zu tun. Zumindest unterschwellig hattest du eine Idee, oder? «
Ein wenig Flehen lag in ihrer Stimme. Als ob sie nicht wollte, dass ihr Bild von ihm jetzt vollends zerstört wurde, als ob das für sie wichtig wäre.
»Wahrscheinlich, ja.«
Er sah sie nicht an, schaute auf den Boden, blickte nicht einmal auf ihre Schuhspitzen.
»Vermutlich hast du Recht. Ich bin nicht wirklich grundlos hier her gefahren, ich hatte wohl das Gefühl, die fixe Idee, dass irgendetwas großartiges passieren würde, wenn ich diese Reise zu dir auf mich nehmen würde und dann vor deiner Tür stünde.«
Ina hatte aufgehört, in ihrem Tee zu rühren.
Normalerweise hätte sie jetzt einen Spruch von sich gelassen, etwas über weibliche Intuition gesagt und er sich wieder unterlegen gefühlt. Nichts von alledem.
»Ich hatte es geahnt. Oder mehr noch, gehofft.«
Er, verwundert:
»Wieso gehofft?«
»Nicht bevor du hier warst. Aber jetzt, da du hier bist, wollte ich nicht, dass du grundlos hier bist. Ich habe dich nicht als einen Menschen in Erinnerung, der sowas tut. Und ich will nicht, dass mein Bild von dir, so sehr es auch nur auf den guten Eindrücken basiert, so viel es auch nur Schwärmerei ist, zerstört wird. Ich habe damals beschlossen, dass ich das Übele und Schlechte nicht über die schöne Zeit siegen lasse.
Ich habe die Zeit mit dir quasi süß eingemacht und will nicht, dass mir die Erinnerung im Glas bitter wird.«
»Aber alles, weswegen ich wahrscheinlich hier bin, was ich selbst nicht einmal so genau sagen kann, weil es mehr mein Inneres war, nicht so sehr meine Ratio, hat sich nun in Luft aufgelöst. Ich sehe dich und deine Freundin..«
»Sie heißt Zoë.«
Ina sprach ihren Namen so zärtlich aus, dass man den Eindruck hatte, sie wolle ihre Freundin mit ihren Worten streicheln. Und Zoë lächelte. Sie hatte ihre Füße auf dem Stuhl und die Beine angewinkelt, streichelte sich selbst über ihre Arme. In ihren Augen, trotz ihrer Farbe tief wie ein skandinavischer See, lag eine unausgesprochene Weisheit.
Er atmete vor dem Sprechen nervös ein, als müsse er nach Luft ringen, um den Satz überhaupt über die Lippen zu bringen.
»Ich sehe dich und Zoë hier, und alles wirkt so glücklich und friedlich und … perfekt. Und dann komme ich mit meinem blöden, nicht einmal in Gedanken ausgesprochenen Plan daher und will von dir empfangen werden wie ein Retter, ein Gott aus der Maschine, der im letzten Moment alles ins Lot bringt. Und dabei gibt es keine Notsituation. Du bist gar nicht alleine hier in der Einöde!«
Einen kurzen Augenblick sah es so aus, als wolle Ina sich auf ihn zubewegen.
»Aber das ist doch furchtbar lieb. Rührend, sozusagen.«
Sie sah wieder ihre Zehen an.
Seine Stimme wurde lauter, erregt.
»Aber das kannst du doch sicher auf mit Zoë! Dazu brauchst du mich doch nicht!«
Sie antwortete ruhiger, als er es nach seinem erhitzen Ausruf erwartet hätte:
»Natürlich kann ich das. Und natürlich brauche ich dich nicht. Aber darum geht es nicht. Es geht doch nicht darum, ob wir einen Menschen unbedingt brauchen, sondern ob wir ihn mögen, ihn bei uns haben wollen, Dinge zusammen mit ihm erleben wollen – und im allerbesten Falle: Kunst mit ihm schaffen wollen.«
Kunst zusammen schaffen.
Das war ein wundervolles Konzept. Er hatte einige Gedichte über Ina geschrieben, an denen sie nicht ganz unbeteiligt war. Er erinnerte sich an eine heiße Nacht, in der sie nicht schlafen konnten. Zum einen, weil sie bei jeder Berührung schwitzten und auch, weil sie einfach nicht müde waren, aus welchem Grund auch immer. Er hatte sein omnipräsentes Notizbuch herausgenommen und einfach angefangen, zu schreiben.
Er konnte sich nicht einmal mehr an eine Zeile erinnern. Hatte er überhaupt noch eine Kopie, oder hatte er ihr das Blatt mitsamt Gedicht geschenkt, ohne es je abzuschreiben?
Der Gedanke daran, dass dieses Stück gemeinsame Kunst jetzt verloren sein sollte, machte ihn traurig. Er hatte das Gefühl, die Welt sei mit einem Male dunkler geworden. Sein Blick wanderte nach draußen. Aus dem Schneeregen war ein richtiger Schneesturm geworden, der sich wie eine Mullbinde auf die Landschaft und auf sein Gemüt legte.
Entscheidungsfindung
Er wusste nicht, ob er sich trauen sollte, sie zu fragen, ob sie noch eine Kopie von dem Gedicht hatte. Einerseits war sein Verlangen, diesen Text, der mehr als nur ein Kunstwerk war, noch einmal zu lesen, riesig, anderseits wollte er auch nicht wirklich wissen, wie es ihm gehen würde, wenn sie seine Frage verneinen würde.
Vielleicht hatte sie jedes Andenken vernichtet, um nicht weiter unter den schmerzenden Erinnerungen leiden zu müssen?
Und was war dann mit seiner Trainingshose? Oder war sie mittlerweile schon so sehr ihre eigene Hose geworden, dass sie nicht einmal mehr darüber nachdachte, wem sie mal gehört hatte? Dass es ihr egal war?
Er fühlte sich, als ob er an einer hohen Klippe stünde und ein falscher Schritt den sicheren Tod bedeuten würde, der richtige jedoch einen Gewinn unermesslichen Ausmaßes – nicht nur, aber auch an Selbstbewusstsein. Was war das für eine merkwürdige Parabel, die er sich da in einem Kopf zusammensponn?
»Hast du noch etwas von den Sachen, die wir zusammen geschrieben haben? «, platze es aus ihm heraus. Als habe er die Worte nicht länger zurückhalten können.
Sein Fuß war in der Schwebe. Würde er wieder Halt finden oder in den Abgrund stürzen?
»Vielleicht. Ich habe einen ganzen Ordner mit Erinnerungen. Fotos, Briefe, Eintrittskarten, Post-Its, ein paar getrockneten Blumen, und all die Dinge, die irgendwie mit jenem Sommer zu tun haben. Jene Dinge, die mein Bild von dieser Zeit auf immer prägen sollen. Alles Schöne und Gute, damit meine Bilder im Kopf vielleicht schwarz-weiß, aber nicht von giftiger Säure zerfressen werden! «, antwortete Ina ruhig.
Er hätte es wissen müssen. Als ob es immer nur Ja und Nein gäbe! Als ob man jedes Ding in Gut und Böse einteilen könnte! Er stand nicht weiter auf einer Klippe. Er schwebte in der Schwerelosigkeit. Aber so hatte sich die Zeit damals auch angefühlt.
Es gab nichts festes, damals. Nichts ausgesprochenes, obwohl doch alles ausgesprochen gewesen war. Aber anstatt sich mit großen, flapsigen Worten die Liebe zu gestehen, hatten sie es lieber gehabt, all diese Dinge in kleine Geheimnisse einzupacken, sich mit Metaphern und Parabeln zufrieden zu gehen. Es hatte zu viel in Worten wie „Ich liebe dich!“ gelegen, um sie einfach so auszusprechen. Aber was waren schon Worte angesichts dessen, was sie gespürt hatten, was allgegenwärtig gewesen war?
Er hatte sich gefühlt wie schwerelos, aber schwerelos im Orbit um eine gigantische, unübersehbare Wahrheit, die so offensichtlich war, dass man sie nicht hatte auszusprechen brauchen. Aber allem Anschein nach musste jeder Satellit die Umlaufbahn wieder verlassen, dachte er bitter.
»Glaubst du, da sind auch Gedichte von uns beiden dabei? «, fragte er und versuchte, den kleinen Unterton der verzweifelten Hoffnung in seiner Stimme zu unterdrücken.
»Du hast mir nie erzählt, dass du mal geschrieben hast! «, kam es aus Zoës Richtung. Sie klang ein wenig beleidigt, aber gleichzeitig auch belustigt.
»Ich würde gerne mal lesen, wie du schreibst. Du hast eine schöne Schrift, aber wie deine Texte sich anhören, das sieht man auf Einkaufszetteln nicht! «
Ina antwortete, obwohl man in diesem Moment nicht wirklich wusste, auf wessen Frage eigentlich:
»Vielleicht sind noch einige in diesem Ordner. Ich habe ihn sofort danach gemacht, weil ich nicht wusste, was ich sonst tun sollte und aber nicht alles wegwerfen wollte, denn das würde mir ja eh später Leid tun. Danach habe ich ihn nie wieder geöffnet. Er liegt auf dem Dachboden. «
»Wollt ihr beide das alles denn überhaupt noch einmal sehen? «
Er hatte das Gefühl, dass Zoës Stimme wie ein Echo im Raum wiederhallte, fast eine Minute lang. Es wurde wieder still und das einzige Geräusch, das von außen zu ihnen drang, war das Bellen dieses großen Hundes, das nun gedämpft klang, wie vom Schnee verschluckt.
Mit dieser Frage hatte er sich noch gar nicht auseinander gesetzt. Er wusste nicht, ob er all diese Erinnerungen, die zwar in seinem Kopf lebten, aber nicht so konkret waren, wie sie durch diese Objekte werden würden, aushalten konnte. Vor allem, wenn Ina neben ihm sitzen würde, quasi mit ihrer Freundin im Arm.
Ina beschäftigen offenbar die gleichen Zweifel. Ihr Gesicht sah sorgenvoll aus und ihr Mund war leicht geöffnet, so, als habe sie etwas sagen wollen und noch vor dem ersten Wort wäre der Satz ihr wieder völlig sinnlos und dumm vorgekommen.
Sie nahm einen Schluck Tee.
photo 1 cc by Cat Sidh, photo 2 cc by ici et ailleurs
Oder noch viel schlimmer: Würde er sich damit abfinden können, dass diese Zeit endgültig vorbei war, verpackt in einen Ordner, irgendwo auf dem Dachboden in diesem Haus in dieser gottverlassenen Gegend, wo sie darauf wartete, vom Staub verschluckt und von den Würmern zerfressen zu werden, um schlussendlich auch aus ihren Köpfen zu bleichen wie überbelichtete Polaroidfotos?
Zoe wirkte zögerlich, nicht mehr so selbstsicher, wie sie ihm von Anfang an geschienen hatte. Sie hatte offensichtlich bemerkt, dass sie auf einen sehr empfindlichen Nerv gestoßen war und Ina und er sich zurückgezogen hatten wie die Fühler einer Schnecke, die man unabsichtlich berührt hatte.
»Und wenn ich für euch nach dem Gedicht suche? Danach könnt ihr euch ja noch immer entscheiden, ob ihr euch den Rest ansehen wollt oder nicht. Ich weiß ja nicht, was an diesen Dingen dranhängt, ich sehe nur Blumen oder Zettel oder was auch immer. «
Ihr Stimme wirkte wärmer denn je, beruhigend, so, als wolle sie um jeden Preis vermeiden, dass einer der beiden sich aufregte.
Das Licht wurde grauer, der Schneefall immer heftiger. Er hatte vor, Inas Antwort abzuwarten. Denn er wusste nicht einmal mehr, ob er das Gedicht überhaupt lesen wollte. Was hatte noch einmal drin gestanden? War das jetzt überhaupt nocht wichtig? War es nicht unendlich wichtiger, wie dieses Stück Text entstanden war? Das war eine Frage, die er sich oft bei seinen eigenen Texten und Werken stellte. War es nicht wichtiger, in welcher Stimmung man gewesen war, als man etwas geschrieben hatte, aus welchem Umständen heraus etwas geschaffen wurde als nur der Inhalt? Was war beeindruckender? Ein Text, der unter schwierigen Bedingungen vollendet wurde, oder einer, der mit Leichtigkeit aufs Papier gebracht wurde?
Hatte diese Frage einen Sinn? Und wenn ja, was für eine Antwort hatte er selbst darauf gefunden? Welche Ina?
Sie streckte noch einmal ihre Beine und er konnte regelrecht fühlen, wie es sich für sie anfühlen müsste, die Beine, die sie so lange in der gleichen angespannten Position gehalten hatte, jetzt zu strecken. Früher hatte er oft die fixe Idee gehabt, er könnte ihre momentane Situation genauestens nachvollziehen und quasi fühlen, was sie fühlte. Ina hatte dann immer gelacht und gemeint, das sei wohl das schwerwiegendste Anzeichen dafür, dass sie beide wohl so etwas wie »seelenverwandt « seien.
Er selbst hatte dieses Wort, dieses Konzept, diese Idee der Seelenverwandtschaft nie gemocht. Sie waren zwei Menschen, die sich mehr oder weniger durch Zufall getroffen hatten und aufeinander reagiert hatten. Es gab für ihn keine Vorherbestimmung, genauso wie es für ihn keinen Gott oder kein fliegendes Spaghettimonster gab.
Dann, endlich, erhob Ina ihre Stimme:
»Ich will den Ordner nicht ganz durchsehen. Nicht jetzt. Es ist zu früh. Oder… «. Sie stocke, saß einen Moment mit halb offenem Mund da, als wüsste sie nicht Recht, was sie gerade selbst gedacht hatte.
»Ich weiß nicht. Ich will mich erinnern, aber ich habe das Gefühl, dass ich den Ordner nicht einfach so nach dem Gedicht durchsuchen könnte. Als ob man ein heiliges Buch nach einem Wort, das einmal vorkommt, durchsucht, ohne sich der Heiligkeit bewusst zu sein. Ein Frevel, quasi. Verstehst du? «
Er hatte das Gefühl, dass die Frage an Zoë gerichtet war, obwohl die beiden Mädchen ihn ansahen. Ohne recht zu überlegen antwortete er:
»Mir geht es ähnlich. Ich weiß nicht, wie du die Dinge eingeordnet hast, aber ich weiß, dass selbst ein noch so kleiner Schmierzettel mit drei Zeilen von damals eine Kettenreaktion auslösen würden, die ich kaum kontrollieren könnte. Der Schmerz ist nicht groß, aber er sitzt noch immer tief. «
Zoë wirkte ein wenig angespannt, als sei es für sie auch nicht leicht, die Situation zu bewerten und das zu tun, was sie vorgeschlagen hatte. Vielleicht fühlte sie sich auch einfach in der von ihr angenommenen Rolle der Vermittlerin unwohl. Auch die Gewissheit, dass Ina ihr längst noch nicht alles von sich erzählt hatte, schien ihr auf dem Magen zu liegen. Aber vielleicht war das auch ein Grund, weshalb sie den Ordner durchsehen wollte?
Sie verschränkte ihre Arme unter ihrer Brust und drückte sie fest gegen ihren Bauch.
Ina sah sie still an, lächelte kurz und meinte dann:
»Ja, doch, geh nach dem Gedicht suchen. Der Ordner steht auf dem Dachboden in dem grünen Regal. Es steht einfach nur »Sommer « drauf, und ich habe ein Foto draufgeklebt, dunkel mit einem hellem, orangen Licht darauf. «
Jetzt grinste sie fast.
»Das ist er, wie er sich über dem Fahren eine Zigarette anzündet. Du müsstest den Ordner finden. Und das Gedicht.. «
»Zwei verschiedene Schriften. Das Gedicht, das ich habe, ist von Ina und mir gemeinsam geschrieben, und wir haben uns mit dem Schreiben abgewechselt. Das Blatt hat also zwei verschiedene Handschriften. «
Ihm war mit Inas Antwort ein Stein vom Herzen gefallen. Sie hatte einfach eine Entscheidung getroffen, vor der er sich noch stundenlang gedrückt hatte. Aber nun wurde er erst Recht nervös. Würde Zoë das Gedicht finden?
Und wie würden sie beide, Ina und er, darauf reagieren, es nach so langer Zeit – die dennoch viel zu kurz war, wieder zu lesen?
Zoë verschwand langsam, aber zielstrebig aus der Küche. Man hörte gut ihre Schritte, wie sie sich über die hölzernen Stufen dem Dachboden näherte.
Was er jetzt brauchte, war eine Zigarette, so merkwürdig wie das auch in seinen Gedanken klang. Er hatte sich eigentlich abgewöhnt, zu denken, dass er die Zigaretten brauchen würde. Er rauchte aus Gewohnheit, nicht, weil er sie brauchte. Er rauchte, um sich zu beschäftigen, des Rituales wegen. Das sagte er sich jedenfalls selbst und er fühlte sich dadurch ein klein wenig weniger schuldig, wenn er die eigentlich lächerlichen Warnungen auf den Packungen las, die vor frühem Tod und Schwangerschaftskomplikationen warnten.
Er schaffte es nicht, Ina in die Augen zu sehen. Stattdessen starrte er für einige Momente ihre Brüste an, um den dann den Blick vollends abzuwenden und ihre Teetasse anzusehen, während er sprach:
»Ich geh kurz raus, rauchen. «
Im Augenwinkel sah er, dass sie nickte.
Dachboden.
Zoë öffnete die große, mit weißem Lack gestrichene Tür, die zum Dachboden führte. Der gusseisenere Schlüssel – Zoë hatte auf jeden Fall das Wort »gusseisern « im Kopf, als sie ihn berührte, ging nur schwer im Schloss herum. Es krachte laut, als der Mechanismus in Gang gesetzt war und der Riegel sich in die Tür zurückzog. Diese knarrte jedoch, entgegen Zoës Erwartungen, nur wenig. Die staub-trockene Luft des Dachbodens stieg ihr in die Nase. Sie war noch nie auf dem Dachboden gewesen, obwohl sie schon einige Zeit bei Ina verbracht hatte. Aber wie oft bittet man schon seine Freundin, den Dachboden zu erkunden?
Eine schmale Holztreppe, die unter ihren Schritten leicht ächzte, führte gewunden zum Dachboden. Mit jedem Schritt, den sie tat, tauchte sie weiter in die merkwürdige Atmosphäre aus grauem, durch den Schnee gedämpften Licht, verstaubten Spinnweben und mehr oder weniger altem Gerümpel, das Ina hierhin verfrachtet hatte, weil sie es nicht im Blickfeld haben, aber auch nicht wegwerfen wollte. So hatte sie es einmal ausgedrückt, und Zoë war in dem Moment nicht bewusst gewesen, dass es sich dabei nicht nur um alte Schulhefte oder Spielzeuge handelte. Woher hatte sie wissen sollen, dass Ina ihre gesammelten Erinnerungen an ihren Exfreund aufbewahrt hatte?
Sie selbst hob solche dinge immer nur eine Zeit lang auf, und wenn sie nicht besonders wertvoll waren, schmiss sie sie nach ein paar Monaten weg. Das war alleine aus Platzgründen nicht anders möglich – ihre kleine Wohnung hatte weder Dachboden noch Rumpelkammer.
Ihr war mulmig bei dem Gedanken, die Geschichte der Beziehung von den beiden Menschen, die jetzt, das erste Mal seit Monaten alleine in der Küche saßen und wahrscheinlich wieder nicht wussten, was sie einander sagen sollten. Sie hatte Angst, zu entdecken, dass er Ina Dinge geben konnte, die sie niemals tun könnte, abgesehen von gewissen anatomischen Begebenheiten, auf die sie – und ihres Wissens nach auch Ina, jedoch wenig Wert legte.
Sie war sich nicht sicher, ob es gut sei, alles über diesen Sommer von dem sowohl Ina als auch ihr Exfreund so schwärmten, zu wissen. Andererseits würde sie wohl nur Bruchstücke erfahren, Dinge erraten und die Atmosphäre dieses Sommers erahnen können.
Und sie hatte das Gefühl, dass es gut war, was sie tat. Sie tat es nicht nur aus Liebe zu Ina heraus, sondern auch, weil sie bemerkt hatte, dass er diese Verarbeitung brauchte, um seine Rastlosigkeit zu verlieren. Auch, oder vielleicht gerade weil er Inas Ex war, wollte sie ihm helfen. Und sie wusste auch, dass diese Hilfe ihrer eigenen Beziehung zu Ina mehr nützen als schaden würde.
Es war kalt und zugig auf dem Dachboden. Sie war froh, einen dicken Kapuzenpullover und eine Wolldecke mitgebracht zu haben. Mit der einen Hand hielt sie diese fest, mit der anderen tastete sie über den nächsten Balken, an dem sie den Lichtschalter vermutete.
Eine nackte Glühbirne baumelte über einem alten Sofa und erleuchtete den Raum schwach.
Sofort erblickte sie das grüne Regal. Es sah alt und wacklig aus, so als habe es seinen Dienst schon zu lange verrichtet. Allerdings war es voll mit alten Fotoalben mit Ledereinbänden, grauweißen Ordnern, auf denen Jahreszahlen aus dem vorigen Jahrhundert und Wörter wie »Rechnungen « oder »Steuer « standen. Und ein tiefschwarzer Ordner, auf dem in weißer Schrift mit großen, runden Buchstaben »SOMMER « stand. Er schien nicht genauso dick zu sein wie die Steuer-Ordner, die wohl kaum von Ina stammten.
Sie drückte die Decke zwischen ihre Schenkel und schlüpfte in den warmen, gemütlichen Kapuzenpulli. Dann wickelte sie die Decke um ihre Taille, so dass sie wie einen Rock trug.
»Auch eine Form der Ablenkung «, sagte eine scharfe kleine Stimme in ihrem Kopf. Zoë grinste.
Sie schloss die Augen leicht, als sie den Ordner aus dem Regel nahm. Fast wünschte sie, dass es zusammenkrachte und die Beiden durch den Krach nach oben kommen und ihr den Ordner entreißen würden. Sie setzte sich so vorsichtig wie möglich auf das alte, verstaubte Sofa.
Eine hauchdünne Staubschicht lag bereits auf dem Ordner. Mit einem Zipfel ihrer Decke wischte sie ihn behutsam weg. Sie betrachtete das Foto auf dem Deckel. Ein oranger Fleck, das Aufglimmen einer Zigarette in der Nacht und sehr wage die Konturen eines Autos. Eigentlich ein banales Bild, ein Schnappschuss, wie er im Zeitalter der digitalen Fotographie tausend- oder gar millionenfach vorkam. Aber sie wusste, dass Ina dieses Foto wohl kaum ohne Grund als »Titelbild « ihrer Sommererinnerungen gewählte hatte. Es versinnbildlichte eine Stimmung, die sie als Außenstehende wohl nur erahnen konnte.
Zoë kam es so vor, als hätte sie mir dem Staubwegwischen das unsichtbare Siegel des Ordners gebrochen. Es kribbelte sanft in ihrem Bauch. Eine merkwürdige Mischung aus Aufregung und einem anderem Gefühl, das sie nicht genau benennen konnte. Sie atmete tief ein und öffnete ganz langsam den Deckel. Und sah den Stapel von grauem Papier, das fremde Erinnerungen festhielt.
Graues Recylingpapier als Medium für Andenken an eine wichtige und intensive Zeit. Zoë fragte sich, ob Ina das bewusst so gewählt hatte, oder ob sich dieser doch sehr triste Träger aus einem Zufall heraus im Ordner befand.
Auf der ersten Seite befanden sich einige Fotos, vor allem von Ina. Ina, wie sie Bass spielt, Ina, wie sie auf einer grünen Parkbank ihre Schuhe bindet, Inas nackter Rücken in ihrem Bett.
Es war beileibe nicht das erste Mal, dass sie Ina nackt sah, aber auf diesem Foto war sie nackter als je zuvor. Ihre Haltung, das Licht, das alles lies sie sehr offen und freizügig wirken, obwohl man eigentlich nur einen nackten Rücken sah. Seltsam, was für eine Schönheit in so einfachen Bildern lag und wie viel sie enthalten konnten. Oder, wie viel man hineininterpretieren konnte.
Das wollte Zoë eigentlich nicht. Es war ihre Absicht gewesen, den Beiden unten zu helfen, damit sie abschließen, weitermachen konnten. Nicht ihre eigene Neugier zu befriedigen und sich Geschichten über das, was sie sah, auszudenken.
Es waren auch einige Fotos von ihm auf der ersten Seite, aber er war Ina zahlenmäßig unterlegen. Auf einem Foto, ungefähr in der Mitte des Blattes, waren beide zu sehen. Sie saßen auf einer Parkbank, irgendwo in einem Wald. Es muss ein warmer Tag gewesen sein, denn beide hatten nur wenig und sommerliche Kleidung an, seine Stirn wirkte etwas rötlich, wie verbrannt.
Zoë blätterte weiter. Auf den nächsten Seiten waren weiter Fotos zu sehen, immer nach dem gleichen Schema, wobei jetzt auch Fotos von Landschaften oder Dingen auftauchten, und immer mal wieder das Innere eines Autos, seines Autos. Man konnte die weiten Landschaften der Gegend, in der Ina wohnte, im Hintergrund erahnen. Unter eines dieser Fotos hatte Ina in sorgfältiger Schrift geschrieben:
»Wir kehrten nicht nur aus einem fremden Land zurück, wir kehrten auch in ein fremdes Land zurück, als fremde Menschen in ein fremdes Leben … «
Die Fotos schienen nicht in einer besonderen Ordnung zu kommen. Sie wirkten mehr wie ein Vorwort als wirklich schon wie das richtige »Erinnerungsalbum «. Aber sie wusste ja auch nicht, wie Ina das ganze angelegt hatte und konnte vielleicht zusammenhängende Strukturen überhaupt nicht erkennen.
Auf den nächsten Seiten waren Fotos einer Reise, wahrscheinlich irgendwo in Skandinavien oder Norddeutschland, daneben ein Ticket einer Fähre, ein Bonbonpapier, eine Metrofahrkarte und ein Ausschnitt eines Stadtplanes, auf dem ein Ort mit einem Kreuz markiert war. Wieder Fotos von weiten und offenen Landschaften, einmal sogar vom Meer.
Zoë verweilte nicht zu lange auf den einzelnen Seiten, und dennoch spürte sie bereits eine ungewöhnliche Art von Melancholie, das unbestimmte Gefühl, etwas verpasst zu haben, an dem sie nie hätte teilnehmen können.
Und dann kam es. Ein anderes Papier, säuberlich aus irgendeinem Notizheft gerissen. Mit zwei verschiedenen Schriften, der bekannten, rundlichen Handschrift von Ina und einer unbekannten.
Die dicken Balken auf dem Dachboden knackten leise.
Cercidiphyllum japonicum
Zoë legte ihre Hand vorsichtig auf die Seite und schloss den Ordner. Sie hob ihn so hoch, stand auf und tastete langsam nach dem Lichtschalter.
Wieder verwandelte sich der Dachboden in einen undefinierten grauweißen Raum. Wie in einem Traum, den sie immer wieder hatte. Darin wachte sie stets in einem mit Watte gefüllten Zimmer auf und versuchte dann – meistens vergeblich, den Ausgang zu finden.
Der frischgefallene Schnee bedrückte sie. Er bedeutete, dass der Herbst entgültig vorbei war und die Zeit der Kälte gekommen war, die sie stets mit Einsamkeit verband. Aber dieser Winter sollte allem Anschein nach anders werden als alle andern davor. Diesmal schien es tatsächlich so, als habe sie ein warmes Nest gefunden, in dem sie überwintern konnte.
Vor ihrem geistigem Auge tauchte bei diesem Gedanken das Bild eines zusammengekugelten Igels in einem Nest aus Blättern auf. Sie war sich nicht einmal sicher, ob Igel in solchen Nestern übernachten. Waren es nicht eher Haselmäuse, die solche Kugelnester aus Blättern bauten?
Blätter. Herbst. Das erinnerte sie daran, wie sie Ina kennengelernt hatte, wie sie ihre Freundin das erste Mal gesehen hatte. Das war im Herbst gewesen, vor nicht allzu langer Zeit.
Es war einer jener Herbstage gewesen, die einem sofort in den Sinn kommen, wenn man “Herbst”hört. Sonnig, nicht zu kalt und die Blätter der Bäume bunt gefärbt. Einer dieser Tage, die einen vergessen lassen, dass Herbst eigentlich meistens Regen, Kälte und Wind bedeutet, besonders wenn man in einer Gegend wie Ina wohnte, die wohl nur während des kurzen Sommers wirklich einladend war.
Sie wusste noch ganz genau, weswegen sie in der Stadt gewesen war und wieso sie den botanischen Garten besucht hatte. Nach dem Besuch beim Augenarzt, der wie immer viel zu lange gedauert hatte und eigentlich unnötig gewesen war, denn an ihrer leichten Kurzsichtigkeit, gegen die sie Kontaktlinsen trug, hatte sich seit Jahren nichts verändert, hatte sie gedacht, dass dies sei vielleicht einer der letzten Tage des Jahres sei, an dem so ein gutes Wetter herschte, deshalb müsse sie ihn so lange wie möglich geniessen.
Die Luft um die Bank, auf der Ina sass, in ihrem Mantel aus flauschigem, rosa Plüsch, der so überhaupt nicht zum Rest ihrer Erscheinung und ihrer Haltung passen wollte, war erfüllt von einem Geruch aus Lebkuchen und Zuckerwatte. Wie eine Aura hatte dieser Geruch gewirkt, von dem Zoë nicht hatte sagen können, woher er kam.
Etwas in ihr hatte sofort sehr stark auf Ina reagiert. In ihrem Bauch hatte sie ein leichtes Kribbeln verspürt als sie sie ansah. Irgendetwas in ihrem Körper, in ihrem Geist – oder wo auch immer, hatte ihr das Gefühl der Verbundenheit zu diesem traurig wirkenden Mädchen in ihrem knalligen Mantel da auf der Bank vermittelt.
Ohne Recht zu überlegen, was sie da genau tat, hatte sie Ina ein Lächeln geschenkt, zuerst zaghaft, dann mit der unmissverständlichen Mimik, die zu verstehen geben hatte sollen, dass das Lächlen kein zufälliges Schmunzeln war und ganz speziell Ina geholten hatte.
Und sie hatten sich direkt in die Augen geblickt.
Zoë hatte es in diesem Moment so geschienen, als wäre eine direkte Verbindung zwischen ihren Augen entstanden, ein unsichtbarer Tunnel zwischen ihren Pupillen, der sie beide auf eine magische Art und Weise verbunden hatte. Sie hatte ein warmes Gefühl auf dem Rücken gespührt, das gutartige Gegenteil einer Gänsehaut, und ihr war so gewesen, als spüre sie einen Teil von Inas Verzweiflung und Trauer und schicke ihr im Gegenzug einen Funken Hoffnung.
Irgendjemand, mit dem sie später darüber gesprochen hatte, hatte von wahrhaftiger “Liebe auf den ersten Blick”gesprochen, aber für Zoë was das hier etwas anderes. Es liess sich sicher durch irgendwelche hormonbiologischen Phänomene erklären, aber sie wollte das gar nicht wissen. Sie mochte die romantische, für sie schon fast mythologische Aura dieses Augenblicks und wollte ihn nicht wissenschaftlich erklären lassen. Manche Dinge mussten im Reich der Gefühle bleiben, um wahrer zu erscheinen.
Und dann hatte Ina zurückgelächelt.
Zoë war nicht sofort auf Ina zugegangen. Sie hatte noch nie den Mut für solche direkte Konfrontationen gehabt, deshalb war ihr erster Reflex gewesen, den Moment einen Moment sein zu lassen und hatte erstmal einige Schritte von der Bank weg gemacht. Aber diese merkwürdige Duft, fast wie Zuckerwatte, war ihr in der Nase und der Gedanke an Ina in ihrem Kopf geblieben.
Und so hatte sie instinktiv den Weg zurück zu Ina gesucht, über den Rasen, um auf einmal neben ihr zu stehen und sie mit unsicherer, fast zittriger Stimme zu fragen, ob sie sich wohl neben sie setzten könne.
Ina hatte ohne einen Funken der Verwunderung bejaht und für einen kurzen Moment lang richtig gestrahlt, als sei sie der glücklichste Mensch auf Erden.
“Ich liebe diesen Baum hier”, hatte Ina nach einigen Minuten der Stille gesagt, in der Zoë sie aus den Augenwinkel beobachtet – und heimlich auch angehimmelt – hatte.
Und ihr dann erklärt, dass der Geruch von dem Baum kam, unter dem sie gesessen hatte. Ein japanischer Kuchenbaum, dessen Blätter im Herbst die merkwürdige Eigenschaft hatten, nach Gebäck zu riechen. Zoë hatte ein Blatt vom Boden aufgehoben und dran gerochen. Ina hatte Recht gehabt, wie sie so oft Recht haben sollte. In ihrer poetischen Sprache hatte sie den Kuchenbaum als Baum der Hoffnung bezeichnet.
photo cc by Jean-Pol Grandmont
Ina hatte zwischen den Zeilen ihren Verlust angedeutet hatte, den sie mit den Blättern der Bäume verglichen hatte, weil das einzige, was sie jetzt noch tun hatten können, war das symbolische Blatt ihrer Beziehung zwischen die Seiten eines Telefonbuches zu legen und es zu trocknen, um seine einstige Pracht zumindest in diesem fragilen, eindimensionalen Zustand zu bewahren.
Und währenddessen hatten die beiden sich einander angenähert, fast unwillkürlich.
Zoë wusste noch, dass sie sich einen merkwürdigen Moment lang klar geworden war, dass sie schon seit einiger Zeit Inas Hand streichelte.
Und so hatte alles angefangen, nach diesem Nachmittag unter dem Kuchenbaum war nichts mehr so gewesen, wie es einmal gewesen war. Eine offensichtliche Platitüde, die man jeden Tag als große Schlagzeile auf eine Zeitung setzen könnte. Aber dieser Tag war für Zoë der Wendepunkt gewesen, ein mystischer Fixpunkt, dem sie vielleicht mehr Bedeutung zumaß, als er es verdient hatte.
Zoës Herz pochte laut und kräftig, jetzt in der halbdunklen Kühle dieses staubigen Dachbodens, den sie nun mehr nur als Schatten wahrnahm, als sie ihren Weg zum Ausgang ertastete. Der Herbst war vergangen und die Blätter des Kuchenbaums dufteten nicht mehr. Sie versuchte, das ganze nicht in Verbindung mit den Ereignissen der letzten Stunden zu bringen. Sie sah Inas Exfreund nicht als eine Bedrohung, sondern mehr als eine interessante Gelgenheit, mehr darüber rauszufinden, was Ina nach diesem Sommer so verletzt hatte. Sie kannte zwar die groben Züge dieser Geschichte, aber bisher hatte sie noch keine Gelegenheit gefunden, mit ihrer Freundin über die Einzelheiten zu reden. Es war ja auch schwierig, solche Themen anzuschneiden, wenn man wusste, wie sehr ein Mensch darunter gelitten hatte und man selbst gerade erst dabei war, mit dieser Person eine Beziehung aufzubauen.
Vorsichtig schritt sie die Treppe hinab, versuchte instinktiv, so wenig Lärm wie möglich zu machen, obwohl sie ganz genau wusste, dass niemand im Haus schlief. Sie wurde meistens einige Stunden früher als Ina wach, deshalb hatte sie es sich zur Angewohnheit gemacht, sich während der Morgenstunden so leise wie möglich zu verhalten.
Die hölzerne Treppe war jedoch unbarmherzig und knarrte bei jedem Schritt, den Zoë machte.
Kein Geräuscht drang von der Küche hoch zu ihr. Ob sich Ina und ihr Exfreund einfach nur anschweigten, weil sie nach all der Zeit keine Ahnung hatten, was sie einander sagen sollten? Wieso stellte er nicht mehr Fragen über sie?
Es hatte sie verwundert und auch ein klein wenig verärgert, dass er nichts von ihr gewusst hatte. Hatte Ina es nicht für nötig gehalten, ihrem Ex zu erzählen, dass sie wieder vergeben war? Aber er hatte ja gemeint, die beiden hätten seit ihrer Trennung überhaupt keinen Kontakt miteinander gehabt. Und trotzdem wäre es Zoë lieber gewesen, wenn er von ihr gewusst hätte.
Vielleicht, weil sie das Gefühl hatte, etwas für Ina geopfert zu haben.
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Er liess ein kleines Rauchwölkchen aus seiner Nase entweichen und starrte auf die fallenden Schneeflocken, wie sie das Land unter einer weissen Kruste begruben, es taub und dumpf machten. Die ersten Zeugen des Winters, der nicht nur die Kälte, sondern auch die Einsamkeit brachte. Ihm war im ersten Moment danach gewesen, sofort wieder in sein Auto zu steigen und ohne ein Wort zu sagen wieder zu fahren. Aber das konnte er nicht. Er wusste, dass er mit Ina reden musste, dass er seine Reflektionen mit ihr teilen wollte, das hässliche Ende dieses wunderschönen Sommers analysieren wollte.
Er wusste, dass er sich unbewusst davon erhoffte, dass sein Schmerz verschwinden und Ina ihm am Ende wieder um den Hals fallen würde und alles wieder so sei, wie es im Sommer gewesen war.
Er hörte, wie die Tür sich öffnete. Er blickte weiter geradeaus, obwohl es dort nichts zu sehen gab außer einer diffusen weißen Landschaft. Sein Auto konnte er gerade noch erkennen, aber sonst war alles nur erdrückender, schwerer Schnee, der sein Herz schwer werden ließ und seinen Verstand wie vernebelte.
Er wusste, dass es sich um Ina handeln musste, die ihren Platz in der wohlig warmen, gemütlichen Küche aufgegeben hatte, um mit ihm zu reden. In dieser Kälte, die ihm auf einmal richtig feindlich vorkam. Im Augenwinkel sah er, dass sie sich gegen die Mauer lehnte. Er vermutete, dass sie grinste, ohne Recht zu wissen, wieso.
Ein langer, tiefer Zug an der Zigarette, die zum Fixpunkt geworden war, weil in dieser weißen Einöde nichts anderes da war, an dem man sich orientieren konnte.
“Du rauchst also noch immer.”, meinte sie, und er konnte ihre Tonlage nicht deuten. Dabei war ihre Stimme nicht einmal ausdruckslos, aber angesichts der Einöde, auf die er blickte, schien nichts mehr tiefere Bedeutung zu haben.
Er atmete ein kleines Wölkchen aus Rauch aus, das sich mit seiner weißen Atemluft vermischte.
“Menschen änderen sich nicht, erinnerst du dich?”
Seine Stimme klang kälter und grober als er wollte. Wieso war er unwillkürlich so abweisend, Gegenteil von dem, was er eigentlich sein wollte?
“Und Menschen ändern sich.”
Diesmal hörte er ganz genau, dass sie lächelte.
“Aber vielleicht hast du Recht, im Grunde ändern sich nur Gewohnheiten und Äusserlichkeiten, während das Innere sich nur langsam entwickelt. Wie ein Stein, der mal von Moos, mal von Flechten, mal überhaupt nicht bewachsen ist, immer ein Stein bleibt und sich nur innerhalb von Jahrtausenden mit der Erosion verändert. Und eben diese Details, die sich verändern, sind es, die uns ausmachen und die einen Wandel ausmachen.”
Das war Ina. Ina, die poetische, Ina, die Philosophin, Ina, die in die Welt ihre Gedanken in einer Sprache beschreiben konnte, um die die meisten Dichter sie beneidet hätten. Das war die Ina, die er geliebt hatte und für die er diese Odysee auf sich genommen hatte.
Er machte den Mund auf, ohne genau zu wissen, ob er einen weiteren Zug nehmen oder Ina eine Antwort, die dann erst in seinem Mund wachsen sollte, geben wollte, als ein leises, aber deutlich vernehmbares Geräusch vom Dachboden zu ihnen drang. Eine Tür war geschlossen worden.
Eine Schneeflocke landete genau auf seiner Nasenspitze, als er sich bückte, um die Zigarette auszudrücken.
(Meeres)rauschen.
Die plötzliche Wärme der Küche stach in seinen Fingerspitzen.
Ina hatte ihm irgendwann mal erzählt, dass ihr Mutter ein spezielles Wort dafür gewusst hatte, aber er konnte sich nicht mehr daran erinnern. Vielleicht war es auch nur ein Ausdruck gewesen, der nur in ihrer Familie entstanden war.
Zoës Gesicht war leicht gerötet und sie grinste Ina und ihn an. Leise, aber mit einem deutlichen Lächeln in der Stimme verkündete sie:
„Ich habe es gefunden. Wollen wir es lesen?“
Das war es jetzt. Der Moment der Wahrheit, sozusagen. Er wusste, dass das Gedicht wahrscheinlich nicht zu den Besten gehörte, die er je geschrieben hatte. Aber war es nur romantisch verklärter Kitsch oder hing mehr daran?
Vor allem aber beschäftigte ihn die Frage, wie das Gedicht wohl auf ihn wirken würde. Und wie auf Ina.
Vielleicht war es ein Fehler gewesen, nach dem Gedicht zu fragen. Aber vielleicht war es auch ein Fehler gewesen, überhaupt zu Ina zu fahren. Aber es war nun einmal so passiert und jetzt konnte er nichts mehr daran ändern.
Zoë schlug den Ordner auf dem Küchentisch auf.
Trotz ihrer offensichtlichen Vorsicht wirbelte eine beachtliche Menge Staub auf. Wie eine Art Nebel versperrte er einen Moment lang die Sicht auf das Papier und kitzelte unangenehm in seiner Nase.
Er beugte sich über den Küchentisch und spürte wie Ina und Zoë das gleiche taten. Es war ihm irgendwie peinlich, zu dritt über dieses Blatt gebeugt zu stehen, aber seine Neugier, sein Durst nach Erinnerungen war stärker. Und so las er:
in die Ohren engumschlugener Körper, stöhnend und nassgeschwitzt
Sprache nur aus Bassnoten lässt Trommelfelle vibrieren
gemeinsamer Takt verbindet über Körpergrenzen
das, was zusammengehört in dunkler Nacht
an der Küste, Grenze zur Unendlichkeit des Ozeans
an der Küste, Ziel der mystischen Reise
an der Küste, voll der Liebe und des Schweisses
an der Küste, Anfang, nicht Ende der Reise
an der Küste, wo nur Sand ein Bett bildet
an der Küste, Ursprung der gemeinsamen Gedanken
Körper nur aus Zungen und Fingern und Löchern
Alles hier ist Liebe und Zärtlichkeit und Sex und Extase
Alles hier ist Inpiration und Idee
Alles hier ist Schwermut und Euphorie und Melancholie und Sinnlichkeit
Alles hier vibriert im Lied der Sterne
Kein Brunnen, in den man hinabsteigen muss
alles liegt offen, alles Geheimnisse gelüftet
kein Fluss, der die Geschlechter trennt
alle Teile fügen sich nahtlos zusammen
kein Käfig, die Vögel zu bewahren
alle Geister fliegen hoch unter diesem Himmel
Dieser Moment gehört den Verbundenen
auf ewig festgehalten auf Papier und im Geiste
Geheimniss für alle Uneingeweihten
verschlossen im Herzen des vereinten Körpers
Alles zerfliesst in Sinneseindrücken
Geist und Körper zu oranger Masse
lieblicher Stoff der Extase
erstarrt zum Denkmal für diesen Moment
Eine Zeit lang sagte niemand was und er hatte das Gefühl, als würden beide Mädchen seinen Blicken ausweichen.
„Also es ist ja schon ein wenig kitschig, wenn man das so als Außenstehende liest.“, meinte Zoë und schaute fragend in die Runde.
Ina lächelte. Sie hatte ein Knie angewinkelt und strich mit ihrem Kinn darüber, während das andere ausgestreckt unter dem Küchentisch lag.
„Ich mag verschiedene Zeilen. Klar ist es romantisch und verklärt, aber ist das nicht auch normal in der Situation? Ich finde, man sollte das Recht haben, auch manchmal kitschig sein zu dürfen!“
Ina erinnerte sich jetzt wieder ganz genau.
Sie waren den ganzen Tag unterwegs gewesen und hatten gegen Abend, als es eigentlich schon fast zu spät gewesen war, um noch irgendwo stehen zu bleiben, das Auto an einer einsamen Bucht geparkt.
Keine Menschenseele war an diesem Ort gewesen, was Ina wie ein Wunder erschienen war und die ohnehin schon mystische Aura der Bucht noch verstärkt hatte.
Wenn aus dem nahe gelegenen Wald Einhörner galoppiert wären, so hätte das Ina bei diesem nicht gestört, im Gegenteil, es wäre ihr völlig logisch und stimmig vorgekommen, sie hatte es sich schon fast erwartet.
Ein niedriger Rasen, der nach Kräutern geduftet hatte war über gegangen in einen schmalen Strand aus weißlichem Sand, an der das tiefblaue Meer gebrandet hatte. Scharfe, grauweiße Felsen, mit rotbraunen Flechten bewachsen, hatten die Bucht, die nur etwa 100 Meter breit gewesen war, abgetrennt. Hinter der Grasfläche, die wohl manchmal als Liegewiese benutzt worden war, hatte ein junger Birkenwald gestanden, durch den sie gefahren waren.
Die Sonne hatte schon ziemlich tief am Himmel gestanden, aber trotzdem hatten sie der Versuchung, in dieser Bucht auszusteigen, nicht widerstehen können.
Sie wusste nicht mehr, wer von ihnen Beiden das Wort „Nacktbaden“ zuerst gesagt hatte, dieses Konzept, das irgendetwas Verbotenes, Verruchtes hatte. Natürlich hatten sie Beide Badesachen dabei gehabt, aber das war egal gewesen, nachdem diese Idee ausgesprochen gewesen war, durch die Wortwerdung beinahe schon verstofflicht.
Und so waren sie nackt in das doch schon ziemlich kalte Wasser gestiegen – und das Eine hatte zum Anderem geführt.
Merkwürdig wie hell und klar die Erinnerungen an diese eine Nacht wieder waren, wie dieses Gedicht dies alles zurückgebracht hatte. Ina war, als könnte sie sich an jedes Detail erinnern, an den Sex, an die schier endlosen Streicheleinheiten, an die Decke, in der sie beide ihre nackten Körper eingewickelt und dann gedichtet hatten, an das Gespräch, das erst ein Ende gefunden hatte, als sie eingeschlafen war.
Sie fragte sich, ob es ihm genauso ging, ob er die gleichen Bilder vor seinem geistigen Auge hatte und vor allem wie sie sich für ihn anfühlten.
Sie selbst sah die Sache zwiespältig: Einerseits hatte er ihr weh getan – und sie ihm wahrscheinlich auch, und sie wollte nicht unbedingt viel an diese Zeit denken, auch wegen Zoë nicht. Anderseits waren die Bilder in ihrem Kopf schön, fühlten sich gut an und jagten ihr einen wohligen Schauer über den Rücken.
Sie brauchte einen Moment, um ihren Blick zu fixieren, sie hatte in die weiße Leere außerhalb des Küchenfensters gestarrt, ohne Fokus.
Zoë sah ihr direkt in die Augen, hob dabei eine Braue, als sie bemerkte, dass Ina den Mund öffnete, sich leiste räusperte und dann mit trockener Kehle in den Raum warf:
„Ich sehe diese Nacht wieder genau vor mir, obwohl ich das eigentlich vergessen hatte. Vielleicht ist das eins der schönsten Dinge, die Poesie mit uns anstellt: Sie zaubert uns Bilder in den Kopf und wenn wir selbst geschrieben haben, sind es sogar Erinnerungen, so klar wie nur selten.“
„Ich sehe sie auch“, meinte er mit belegter Stimme, „und ich weiß nicht, welches Gefühl überwiegt. Vielleicht ist es tatsächlich der Schmerz.“
Ina bemerkte wie seine Hand leicht zitterte.
Baumkuchen
Zoë sah ihn an.
Noch immer stand er vor dem Küchentisch, in der Mitte von Inas Küche, ihrer Küche.
Zusammengekauert wirkte er, obwohl sein Rücken gerade war, seine Haltung aufrecht. Das Gedicht hatte etwas in ihm ausgelöst, eine tiefe Traurigkeit schien ihn jetzt wie eine Aura zu umgeben. Woran machte sie das fest? An den scheinbar ausdruckslosen, hellgrünen Augen? Oder an dem leichten Zittern, das noch immer durch seine rechte Hand zuckte?
Bleich war er, als sei ihm das Gedicht nicht gut bekommen. Bleicher noch als vorhin, als sie ihm die Tür aufgemacht und er sie in Inas Boxershorts gesehen hatte.
Sein Bart wie ein grünlich-schwarzer Schatten auf dem Gesicht.
„Struppig“ fiel Zoë dazu sein. Fast so lang wie die erst kürzlich geschnittenen Haare. Ihr gefiel das nicht, so kurze Haare. Das wirkte beinahe militärisch. Es wollte – zumindest in ihrem Kopf – nicht so recht zusammenpassen mit dem Rest von ihm, der unmilitärischer nicht hätte sein können.
Er trug einen dicken, dunklen Baumwollpulli mit einem bunten Aufdruck, Jeans und verschlissene Stoffturnschuhe. Klein wirkte er, obschon einen guten Kopf größer als Ina, und der reichte sie ja auch nur bis zur Stirn.
Sein Gesicht, jetzt von dieser Traurigkeit, die ihn wohl wie ein Schock erwischt hatte, gezeichnet, gefiel ihr. Die Gesichtszüge nicht zu kantig, aber auch nicht kindlich wirkend, die Lippen schmal und die Nase kurz, dafür aber hoch.
Durch seine weite Kleidung nicht sie nicht genau sehen, wie sein Körper darunter aussah, aber er erschien ihr attraktiv. Das war ja auch ein sehr diffuser Begriff – aber dies waren nun einmal die Wörter, die ihr in den Kopf kamen, wenn sie ihn ansah. Was bedeutete dieser Begriff eigentlich? Es gab keine Definition, und jeder Versuch, zu definieren, was man selbst attraktiv fand und was nicht, würde zwangsläufig scheitern. Denn Gefühle waren nicht wie wissenschaftliche Definitionen, sondern schwammig und voller Graustufen, die niemand so recht fassen konnte. Oft hatte Zoë sich gewünscht, die Dinge in ihrem Gehirn fassbar zu haben. Ihre Gefühle und Gedanken ansehen zu können wie in einem Bilderbuch, einer Tabelle, einer Datenbank. Und sie dann weglegen zu können in ein Regal, um sie nicht ständig mit sich herumschleppen zu müssen.
Dann war ihr Blick wieder auf Ina gefallen und all diese Wünsche waren verschwunden, mit einem unhörbaren „Plop“ in ihrem inneren Theater.
Langsam, fast wie in Zeitlupe wanderte sein Blick erst auf sie, dann hinüber zu Ina. Die Müdigkeit in seinen Augen war einem anderen Gefühl gewichen, ohne jedoch aus seinem Gesicht zu verschwinden.
Das Gedicht hatte wohl die Erinnerungen an die Bucht und die Situation, wie sie beide in eine Decke eingewickelt an diesem schmalen Strand gelegen hatten und das Gedicht geschrieben hatten, wachgerufen, aber es waren auch noch ganz andere Dinge an die Oberfläche gelangt.
Wie eine Welle wurde er von diesen Bildern überrannt, unter Wasser gedrückt, während der Gischt über ihm schäumte. Auch diese Metapher sah er vor seinem Inneren Auge, während gleichzeitig eine Art Film in seinem Kopf ablief:
„Du weißt ganz genau, weswegen wir hier sind.“
Keine Antwort.
„Einmal im Jahr kommen wir hierher und klingeln an dieser Wohnungstür. Du weißt das doch.“
„Wir kennen uns doch erst ein paar Monate. Und ich war hier noch nie!“
Stimmung wie in einem halb ernstgemeinten Gangsterfilm, gezwungen-lockeres Gespräch. Nur nicht die eigene Anspannung zeigen, lieber verwirrt wirken.
„Hey, ich habe dir bestimmt noch hundert Mal erzählt, dass ich jedes Jahr einmal hierher komme, an der Wohnungstür klingele und mich einige Stunden mit der alten Frau, die hinter dieser Wohnungstür lebt, unterhalte. Und meistens gibt es auch noch Kuchen.“
Er sah sie fragend an und meinte dann, wieder in diesem Ton, von dem sie überhaupt nicht wirklich sagen konnte, ob er nun ernst gemeint war oder nicht, obwohl sie ja eigentlich wusste, dass dies alles nur ein furchtbar ironisches Gespräch war. Furchtbar auch deswegen, weil es sie insgeheim quälte, dass er sie jetzt vielleicht mit einer allzu flapsigen Bemerkung verletzen könnte – und natürlich auch umgedreht.
„Du besuchst deine Großmutter echt nur ein einziges Mal im Jahr? Da bin ich ja noch treuer …“
„Sie ist nicht wirklich meine Großmutter. Eher so etwas wie eine Großtante. Glaube ich zumindest. Ich blicke bei all diesen Verwandtschaftsgeschichten nie so wirklich durch. Vielleicht ist sie auch meine Cousine 5. Grades oder so was.“
„Auf jeden Fall besteht irgendeine Verwandtschaft zwischen euch und du klopfst einmal im Jahr hier an diese Tür?“
Ina sah ihn ernst an, sah, dass er erschrak und antwortete dann mit einem Lächeln:
„Ja, ganz genau so ist es. Ich wusste doch, dass du es ganz genau weißt. Du musst nicht glauben, dass es immer klappt, den Unwissenden zu spielen.“
Die Stufen knirschten leise. Sie musste sich bisweilen mit viel Kraft am Treppengeländer festhalten und sich selbst hochhieven, da die Treppe sehr steil war.
Ihre Hand an dem warmen, glatten Material.
„Ich habe mir das jetzt in den letzten zwei Minuten so zusammengereimt. Und wieso genau kommst du gerade heute hierher. Und was für Kuchen gibt es?“
Er keuchte leise. Wieder grinste sie. War er nicht der sportlichere von Beiden? Sollte sie nicht schon längst nach Luft schnappen, während er die Stufen spielend leicht überwinden sollte? Offensichtlich waren die Rollen in ihrer Beziehung nicht so verteilt, wie man sich das auf den ersten Blick vorstellte. Vielleicht gab es aber auch keine Rollen. Eine Beziehung war ja auch kein Theaterstück.
„Baumkuchen. Und es ist ihr Geburtstag. Und weil Baumkuchen unser gemeinsamer Lieblingskuchen ist.“
Er grinste sie an, als würde sie das, was gesagt hatte, nicht wirklich ernst meinen.
Ina sah ihn an, und zum ersten Mal an diesem Nachmittag sah sie wirklich ernst aus, und so war auch jeder Hauch von Witz oder Zweideutigkeit in ihrer Stimme verschwunden:
„Ich mag diese Frau wirklich sehr. Sie ist alt, redet manchmal Blödsinn, so wie alte Leute es eben manchmal tun, aber nichtsdestotrotz wirkt sie sehr weise auf mich. Sie weiß viel über das Leben. Und ist das nicht das größte Geschenk, das man im Alter erfahren kann?“
„Meine Familie scheint zum Jungsein verdammt, meine Großeltern und sonstige Verwandten, die alt und weise sein könnten, sind alle tot. Ich weiß nicht mal, ob ich jemanden kenne, den ich als „weise“ bezeichnen würde.“
„Deshalb schätze ich meine Großtante ja auch so!“
Sie lächelte, ohne das der ernste Blick aus ihrem Gesicht wich.
„Bereit? Und benimm dich, ja?“
Er hätte am Liebsten „Ja, Mutti!“ geantwortet, riss sich jedoch zusammen. Ina war selten so ernst, ja geradezu feierlich. Und das wollte er ihr nicht nehmen, nicht diese Stimmung zerstören.
Das alte Holz und der Staub verströmten einen eigenartig vertrauten Duft.
Ina klopfte mit der Faust gegen die Wohnungstür.
Genau dreimal. Zufall oder Klopfzeichen?
Einen Moment lang geschah überhaupt nichts.
Die Treppe knarrte, ohne dass Schritte zu hören gewesen wären.
Zimmerdecke
Zoë stoppte diesen Film. Ihr Stimme schaffte es ohne weiteres, den Projektor in seinem Kopf anzuhalten. Die geschlossene Tür vor seinem inneren Auge, die sich jeden Moment geöffnet hätte, wurde zu einem halb durchsichtigen Dia.
„Bleibst du eigentlich zum Mittagessen? Ihr beide habt euch doch sicher viel zu erzählen?“
Wieder dieser leicht aggressive Unterton in der Stimme, wieder dieser Blick zu Ina, der eigentlich gar keiner war, nur ein Flackern in den Augenwinkeln. Als wollte sie, dass Ina ihm alles von ihr erzählen würde, als hätte sie ihm am liebsten selbst die Geschichte ihrer Liebe erzählt.
Dabei war sie doch eigentlich überhaupt keine eifersüchtige Person. Zumindest hatte sie das immer geglaubt.
„Klar bleibt er. Erstens muss er erstmal ein wenig schlafen, um überhaupt wieder fahren zu können. Und zweitens …“
Sie stocke mitten im Satz.
Er hatte eine abrupte Bewegung gemacht, als wolle er ihr Angebot, bei ihr schlafen zu können, ausschlagen, als bräuchte er keine Ruhe, obwohl die Müdigkeit ihn, wenn er ganz ehrlich war, fest im Griff hatte, seit Zoë den Film in seinem Kopf gestoppt hatte. Das Gedicht hatte ihn vielleicht in einen kurzen Moment der verwirrten Klarheit versetzt, aber jetzt griff Hypnos wieder nach ihm. Oder war es Morpheus?
Und auch das war ein Zeichen seiner Müdigkeit, die auf ihm lag wie ein schweres Tuch, das seinen Verstand belastete und ihn griechische Götter mit japanischen Pokémon – und umgekehrt verwechseln ließ.
„Jetzt sag nicht, dass du SO fahren willst?“
In Inas Stimme, obwohl wütend, schwang Besorgnis mit. Er hatte das schon lange nicht mehr gehört. Und sie machte ihn, genau wie früher immer, kleinlaut:
„Nein. Natürlich nicht. Du hast Recht.“
Er sah sie nicht an, starrte auf die Oberfläche des Tisches.
„Ich werde mich wohl besser ein wenig hinlegen. Und ja, ich würde auch gerne hier zu Mittag essen. Wenn das euch nicht zu sehr stört.“
Ina hatte noch immer eine unglaubliche Macht über ihn. Nur ein Wort von ihr, und er war wieder der kleine, schüchterne Junge, der er mal gewesen war, vor Äonen in seiner persönlichen Zeitrechnung. Auch das war ein Teil der Magie, die in ihrer Stimme lag.
„Nein, natürlich nicht. Zoë kocht eh immer so viel, dass wir für ein paar Tage davon haben, da ist es eigentlich sogar besser, wenn noch jemand mit isst.“
Sie grinste in Richtung Zoë.
Und Zoë lächelte zurück. Es wirkte ehrlich, nicht genervt, nicht wütend, sondern rein und verliebt. Auch sie war Ina verfallen, aber das schien auf Gegenseitigkeit zu beruhen. Ein merkwürdiges Gleichgewicht der Emotionen. Vielleicht war er aber auch zu müde, um sich noch über diese Dinge richtig Gedanken machen zu können. Oder aber es war überhaupt nicht möglich, aus einem halben Gespräch über Kochgewohnheiten eine Beziehung zu analysieren …
„Ich zeig dir das Gästezimmer, ja?“
Als wüsste er nicht genau, wo das Gästezimmer war. Als habe er früher nicht selbst Leuten den Weg dorthin gezeigt. Als sei er noch nie in diesem Haus gewesen.
Langsam ging sie vor ihm die Holztreppe hoch. Er versuchte nicht mehr, einen klaren Kopf zu bekommen, denn das einzige, was ihm jetzt noch helfen würde, war Schlaf. Tiefer, dunkler Schlaf in Inas Gästezimmer. Dort, wo sonst immer nur andere geschlafen hatte, während er in Inas Zimmer gelegen hatte, mit ihren Kopf auf seiner Brust.
„Hier ist es.“
Ina flüsterte nur noch. Als schliefe schon jemand im Haus, den man nicht wecken dürfte.
Behutsam öffnete sie die Zimmertür. Geräuschlos. Ohne zu warten, ob er ebenfalls das Zimmer betrat, schritt sie zum Fenster, zog die langen Vorhänge zu, was den kleinen Raum in ein gedämpftes, hellgelbes Licht tauchte. Sie drehte an der Heizung.
Ein leises Knacken war zu hören, dann ein wenig Blubbern.
Es war frisch in dem Zimmer, aber nicht zu kalt. Trotzdem fühlte sich die Bettdecke geradezu eisig an. Ina öffnete den großen, alten Eichenschrank, der am anderen Ende des kleinen Raums stand.
Er zog seinen Pullover aus, kroch in das gemachte Bett und öffnete seine Hose erst unter der Decke. Sorgfältig stopfte er seine Socken in seine Schuhe. Sie waren leicht feucht.
Er strecke seine Beine aus. Ein gutes Gefühl, so flach in einem Bett zu liegen. Obwohl es ein wenig zu kalt war, aber das würde die Heizung ja bald regeln.
Ina brachte ihm eine zweite Decke. Eine Wolldecke. Behutsam deckte sie ihn damit zu, zog sie fast über sein Kinn, wo sie in seinen Bartstoppeln kratze. Sie lag schwer auf ihm, was leicht unangenehm war, aber immerhin wurde ihm wärmer. Er hatte auch keine Kraft, noch etwas an seiner Situation zu ändern.
~
Aline wachte auf. Die bekannte, immer gleiche Zimmerdecke.
Sie wirkte grau, obwohl sie eigentlich weiß war.
Irgendwie wirkte seit einiger Zeit alles grau. Als wäre Schimmel über die Welt gewachsen, oder zumindest über ihre Welt, denn außer ihr schien niemand mitbekommen zu haben, wie düster und eklig alles aussah. Andere freuten sich über den Schnee, während sie nur den dreckigen Matsch sah, den er auf den Straßen hinterließ. Sie kannte Menschen, die sich jeden Tag über eine Kleinigkeit freuten. Sie selbst hatte Schwierigkeiten, einmal in der Woche etwas zu finden, was ihr Herz erwärmte.
Ihr Arm fühlte sich schwer an. So, als sei sie eben einen Marathon auf den Händen gelaufen. Aber das war nichts Neues. So fühlte sich ihr Körper seit viel zu langer Zeit an. Sie strecke ihn trotzdem auf seine volle Länge aus, um ihren Nachttisch zu erreichen. Ohne den Blick von ihrer Zimmerdecke zu wenden tastete sie nach ihrem Handy. Als sie es gefunden hatte, ob sie es vor sich, entsperrte es während der Bewegung und sah auf es.
Nichts. Nur die Uhrzeit, Netzbetreiber, Batteriestatus und Empfangsanzeige. Aber keine neue Nachricht, kein Anruf in Abwesenheit, nichts.
Als wüsste niemand, dass sie lebte.
Sie wusste, dass das Quatsch war. Natürlich gab es genug Menschen, die wussten, dass sie noch lebte. Natürlich hatte sie Freunde und Familie, die sich auch mehr oder weniger regelmäßig bei ihr meldeten. Aber um die ging es nicht. Es ging um eine ganz spezielle Person.
Und die meldete sich nicht mehr, antwortete ihr nicht mehr, rief nie zurück und … ja, sie tat so, als gäbe es Aline nicht und jede ihrer Botschaften sei nichts als ein Irrtum, eine falsch gewählte Nummer, als gehe sie nichts von alledem, was Aline ihr schrieb, etwas an.
Aufstehen? Gab es denn einen Grund dazu? Es gab seit Wochen keinen Grund mehr dazu. Trotzdem raffte sie sich immer wieder auf, gab die Hoffnung nie ganz auf. Vielleicht war die Hoffnung in der Nacht gestorben, als sie geschlafen hatte. Jeden Tag wurde es etwas schwieriger, aufzustehen und sich klar zu machen, dass, auch wenn man es nicht sofort sah, es immer irgendetwas gab, für das es sich aufzustehen lohnte.
Sie sah wieder auf ihr Handy, öffnete den Ordner mit den gesendeten Nachrichten. Ja, sie hatte ihr gestern Abend noch eine Nachricht geschickt und sie war auch angekommen. Das tötete wieder ein wenig Hoffnung in ihr. Hätte sie die Nachricht aus Versehen nicht abgeschickt, hätte sie sie nochmal schicken können und auf eine Antwort warten können. So wusste sie, dass wahrscheinlich keine kommen würde.
Wieder diese Armbewegung. Wieder dieser Schmerz. Nichts half dagegen. Sie wusste das ganz genau, auch wenn sie noch überhaupt nichts probiert hatte. Ihr Körper benahm sich in emotional belastenden Situationen so. Und bisher hatte sie noch immer damit umgehen können. Die Schmerzen, die sie spürte, waren psychosomatisch. Nichts ungewöhnliches. Bisher hatte es nur noch nie so lange angehalten, aber bald würde es weniger werden, immer weniger, bis sie nichts mehr spüren würde, ohne es recht zu merken.
Mit einem leichten Klacken des Plastikgehäuses legte sie das Handy zurück auf den Nachtisch.
Langsam drehte sie ihren Kopf und sah die Wand an.
Auch sie wirkte grau.
Erinnerung.
Es gab nichts Weißes mehr in ihrer Welt.
Sky photo cc by Timothy Vollmer
Wie hatte sie ihr so etwas antun können? Für Aline war ihre Beziehung zu Zoë immer perfekt gewirkt, ein Bilderbuchpärchen. Beide nur an Frauen interessiert und seit einiger Zeit auch nur an der jeweils anderen. Sie hatten sehr selten gestritten und wenn, dann hatte es auch nie lange gedauert, ehe eine von ihnen wieder mit einem Versöhnungsangebot zurück gekrochen kommen war.
Das Ende war für sie aus heiterem Himmel gekommen.
Im Nachhinein waren die Zeichen natürlich zu sehen gewesen.
Aber im Nachhinein war immer alles logisch und klar und man fragte sich, wieso man es nicht schon viel früher kommen gesehen hatte.Aber man lebte nun mal nicht im Nachhinein, sondern in der Gegenwart mit all seinen Träumen, Gedanken und vor allem lebte Aline in ihrer konstruierten Wirklichkeit, in der sie es blendend schaffte, alle möglichen Anzeichen und Probleme auszublenden und nur das sah, was sie sehen wollte. Zumindest im Bezug auf Zoë war es so gewesen.
Aber wie sollte man auch anders leben? Sollte man sich etwa den ganzen Tag Sorgen um Kleinigkeiten und Dummheiten machen, um später fest zu stellen, dass es sich bei diesen um genau das: also Kleinigkeiten und Dummheiten, die keinerlei Relevanz hatten, handelte? Sollte man etwa jede verdammte Andeutung ernst nehmen und sie bis zur letzten Silbe interpretieren?
Das war doch auch kein Leben.
Aline war gut darin, sich selbst zu täuschen. War ihr immer wieder gesagt worden. So oft, dass sie es selbst glaubte. Wahrscheinlich war es auch so. Also: Wahrscheinlich war Aline sehr gut darin, sich selbst zu täuschen.
Oder aber es war wirklich so gewesen, wie sie es erlebt hatte. Zoë hatte zwar ein wenig abwesend gewirkt, hatte sich nicht wie sonst alle 2 Stunden gemeldet, war aber in ihren gemeinsamen Momenter so wie immer gewesen. Und war es nicht normal, dass die euphorische Verliebtheit nach einer Zeit abschwang und man nicht mehr den Drang hatte, sich dauernd bei seiner Freundin zu melden?
Das war bei ihr immer so gewesen und sie hatte sich deswegen keine Sorgen gemacht. Keine Sorgen machen wollen. Sie hatte sich überhaupt keine Sorgen machen wollen, denn immer, wenn sie zusammen waren, war es so wie immer gewesen. Zoë war genauso liebenswürdig und zärtlich wie immer gewesen. Aber vielleicht war genau das der Fehler gewesen. Vielleicht hatte sich Zoë einfach nur gelangweilt, hatte etwas Neues gebraucht?
Das konnte und wollte sie nicht so Recht glauben. Hatte sie noch nie gekonnt. Sie war der festen Überzeugung, dass sie das gemerkt hätte. Dass Zoë, hätte sie den Drang nach was Neuem, was auch immer das gewesen wäre, mit ihr darüber gesprochen hatte. Aber sie hatte noch nicht einmal eine Anmerkung gemacht, die darauf hätte schließen lassen.
Nein, sie glaubte – oder wollte lieber glauben, dass Zoë sich in einer Art kleiner Sinnkrise befunden hatte, einen Moment lang düstere Gedanken gehabt hatte und genau in dem Moment die falsche – bzw. die richtige Person getroffen hatte. Und das war eben diese Ina gewesen, von der sie ihr auch erzählt hatte, als habe es sie interessiert, mit wem ihre Zoë jetzt ein Bett teilte, als wolle sie wissen, wer anstatt ihrer jetzt Zoës Liebe bekam!
Natürlich hatte sie es wissen wollen. Natürlich hatte sie wissen wollen, was das für ein Mensch war, der Zoë verführt hatte. Von dem sie sich verführen hat lassen. Oder war es umgedreht gewesen? Das hatte sie nicht glauben wollen.
Das wollte sie immer noch nicht glauben.
Ihr Bett ächzte bei jeder noch so kleinen Bewegung. Früher hatte es das nicht getan, oder es war ihr nie aufgefallen. Vielleicht achtete man nicht auf solche Kleinigkeiten, wenn die Welt in den Wattebausch einer funktionierenden Beziehung, also einer größeren Sache gepackt war? Vielleicht waren dann solche Nebensächlichkeiten wie ächzende Betten, die ihr jetzt den letzten Nerv raubten, ganz egal und fielen einem nicht einmal mehr unterbewusst auf?
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Wieder diese Armbewegung. Wieder der Schmerz. Es war wie ein Reflex, alle paar Minuten auf das Handy zu schauen, obwohl sie ganz genau wusste, dass sie es mitkriegen würde, wenn eine Nachricht kommen würde. Sie würde es hören, denn sie hatte ihr Handy am Abend zuvor auf die größtmögliche Lautstärke gestellt, um von Zoës Antwort, sollte sie denn je kommen, geweckt zu werden. Aber trotzdem schaute sie auf ihr Handy, nur um zu sehen, dass sich außer der Uhrzeit auf dem Display nichts geändert hatte.
Es gab nichts Farbiges mehr in ihrer Welt.
~
Ina wusste nicht, wie ihr geschah. Sie hatte sich plötzlich zwischen zwei Fronten wiedergefunden. Im Kriegsgebiet der Gefühle, im Schützengraben, ununterbrochen unter Feuer von ihm und von Zoë. Zwei Geschlechter, wie zwei Nationen im Kampf um ein Land, das Ina hieß. Ein kalter Krieg, ausgetragen mit Nettigkeiten und ausweichenden Blicken.
Was war das überhaupt, Geschlecht?
Oder Gender, wie man wohl besser sagte? Sie war „weiblich“, denn sie hatte eine Vagina und eine Gebärmutter und Brüste. Aber sie mochte weder rosa noch hohe Schuhe. Konnte man nicht einfach ein Mensch sein, ohne Etikettierung mit Vorurteilsetiketten? Was machte es aus, ob ein Mensch einen Penis oder eine Vagina hatte? Letzten Endes waren andere Dinge doch viel wichtiger und machten einen Menschen mehr aus als seine Biologie. Und auch die Biologie war veränderbar. Niemand musste sich dem Diktat seiner Gene unterwerfen. Traurig genug, dass sich jeder dem Diktat der Gesellschaft unterwerfen musste. Wobei es „die Gesellschaft“ als Gebilde oder Wesen mit eigenem Willen auch nicht gab. Den Druck, den sie verspürte, war ja nur gefühlt, geradezu eingebildet, weil sie glaubte, aus den vielen Einzelmeinungen und den Medienberichten eine generelle, gesellschaftliche Stimmung ausmachen zu können.
Wobei es dennoch auch feste Anzeichen dafür gab, dass „die Gesellschaft“ nicht gut auf homosexuelle Lebensweisen zu sprechen war. Sie würde Zoë nicht heiraten können. Und wenn, dann würde es trotzdem etwas besonderes, etwas ungewöhnliches, in den Augen von Vielen wohl etwas verbotenes sein. Aber vielleicht war das einfach noch so. Wie lange hatte die Menschheit gebraucht, um zumindest in einigen Ländern Monarchien und Diktaturen zu stürzen?
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Leise ging sie die Treppe wieder hinunter. Nicht nur, dass er Fragen auf warf, die sie gerne in der Einsamkeit ihres Hauses vergaß, weil sie das tägliche Leben zu unangenehm machten, er wirbelte zusätzlich auch noch sämtliche Erinnerungen an diesen Sommer auf, den sie bisher wie an ein Märchen, an das man nur durch den dichten Nebel der Kindheitserinnerungen erinnerte, gesehen hatte. Nicht umsonst hatte der Ordner hoch oben auf dem dunklen Dachboden gestanden. Sie konnte sich noch ganz genau daran erinnern, wie sie ihn hastig zwischen die Steuerordner ins Regel gesteckt hatte. Fest hatte sie ihn geschoben, bis das Regal leise gestöhnt hatte unter dem Druck, der so plötzlich auf es einwirkte. Hastig, und ohne Licht an zumachen war sie durch das Dickicht der Erinnerungen und des Staubs gestolpert. Den schweren Schlüssel hatte sie so oft in der Tür umgedreht, wie es nur ging, um den Ordner und damit den Sommer, der in seiner süßen Schwere wie ein zu dick aufgetragenes Parfum durch die Ritzen der Tür drang, so heftig und symbolisch wie möglich einzusperren.
Und jetzt war er hier und hatte sie irgendwie dazu gebracht, Zoë zu bitten, den Ordner holen zu gehen. Und jetzt lag der Sommer und damit ihre Beziehung auf dem Küchentisch. Sie wollte nicht, dass Zoë zu viel davon sah. Gewisse Dinge sollte ein Geheimnis bleiben. Sie hatte das Gefühl, dass ein Einblick in diese Intensität ihre Freundin verletzten könnte. Und das, ohne dass sie es selbst merken würde. Was ihre Beziehung unweigerlich verändern würde.
Und Ina wollte keine Veränderung. Alles war gut so, wie es war. Eine ruhige, heile Welt zu zweit, die niemand stören sollte.
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Nur leise knarrte die erste Stufe der Treppe unter Inas Füßen.
Kaffee und Kuchen
Zoës Hand verkrampfte sich für einen kleinen Moment, als sie den Griff der Schublade umklammerte. Dann schmiss sie die Schublade mit aller Kraft zu. Sie konnte nicht nur den lauten Knall, gefolgt vom Geschepper des bunt zusammengewürfelten Besteckes, das etwas verzögert die Kräfte der Schwerkraft zu spüren bekam, hören, sondern den Aufprall regelrecht spüren.
Sie blickte ein weiteres Mal ungläubig auf ihr Mobiltelefon.
“Ich liebe dich”stand da. Ein Satz, der keines Satzzeichens bedurfte.
Am liebsten hätte sie die Schublade noch einmal zugeschmissen. Diesmal noch fester. Am besten so fest, dass die ganze Einbauküche zusammengefallen wäre.
Sie stützte sich auf die Arbeitsfläche, auf der ihr Telefon lag, übte so starken Druck aus, dass die fürchtete, die Tasten würden sich in ihrem Handteller abzeichnen. Stumm blickte sie auf den grau gesprenkelten Kunststoff. Eine einzige, kleine Brotkrumme lag dort.
Gänsehaut im Nacken. Sie wusste instinktiv, dass jemand sie beobachtete. Und sie wusste, dass Ina sah, wie es ihr ging. Ina konnte jede noch so kleine Änderung ihres Gemütes sehen. Sie verstand es die kleinen Anzeichen zu sehen. Ina sah die Gänsehaut, die angespannten Rückenmuskeln, die verkrampften Hände. Und Ina würde wissen, was los war.
“Hast du meinen Schal gesehen?”, fragte sie und ärgerte sich, dass ihre Stimme nicht so beiläufig klang, wie sie es gerne gehabt hätte. Immerhin schaffte sie es, Inas Blick nicht auszuweichen.
“Er hängt auf der Garderobe. Willst du etwa raus? Wir sind quasi eingeschneit!”
“Mit der Schneehöhe könnte man nicht mal Skifahren. Ich meine den Grünen, mit den merkwürdigen Mustern. Dieses Hippieteil.”
Ina seufzte. Einen Moment lang öffnete sie den Mund, wie um etwas zu sagen. Sie nahm Luft, verschluckte sich fast und als die Wörter ihr auf der Zunge tanzten, schluckte sie sie wieder hinunter. Statt dessen meinte sie trocken:
“Er liegt auf meinem Nachttisch. Ich mag deinen Hals lieber nackt.”
Ein Grinsen.
Und noch eins, allerdings ein kürzeres.
Ina musste nicht wissen, dass Aline ihr wieder geschrieben hatte. Sie wurde immer auf eine sehr merkwürdige Art und Weise eifersüchtig, als ob Zoë noch irgendetwas an ihrer Exfreundin liegen würde. Als ob Zoë dafür könnte, dass Aline ihr immer wieder Nachrichten schrieb. Digitale Liebesbekundungen, die Aline verzweifelt auf die Reise schickte, wahrscheinlich ohne Recht zu wissen, was sie tun würde, antwortete Zoë positiv.
Der Schal lag auf dem Nachtisch, wie Ina es beschrieben hatte. Auf Inas Nachtisch. In Inas Zimmer. Das zugleich auch ihr Zimmer war, denn obwohl sie ihr angeboten hatte, eins der vielen leeren Zimmer in dem großen, leeren Haus inmitten des großen, weiten Nichts zu beziehen, war sie realistisch geblieben und hatte nur das Bett des Nebenzimmers als Kleiderablage verwendet.
“Wir werden doch sowieso immer in einem Bett schlafen”, hatte sie gesagt. Ina hatte gegrinst und ihr einen Kuss auf die Stirn gegeben.
Jetzt saß sie auf ihrem Bett und zog sich Socken an. Dicke, flauschige Wollsocken, mit denen sie auf den Treppenstufen unheimlich aufpassen musste, damit sie nicht ausrutschte und auf dem Hintern die Treppe runterrutschte. Dabei hatte sie das als Kind gerne getan. Aber es bestand wohl ein großer Unterschied zwischen dem Körper eines Kindes, der einem selbst immer unzerstörbar vorkommt, das eine Treppe runterrutscht und dem unabsichtlichen Fallen. Nicht nur das Steißbein, sondern auch der Kontrollverlust schmerzte.
Kontrollverlust. Das klang ein klein wenig nach dem Abend, an dem sie Aline kennengelernt hatte. Damals hatte sie auch die Kontrolle verloren, sie sogar freiwillig abgegeben …
Eine Geburststagsparty in einer Dachwohnung hoch oben über der Stadt. Vor der Tür hatten noch nicht viele Schuhe gestanden, als Zoë angekommen war. Sie war oft zu pünktlich, konnte sich aber auch nicht angewöhnen, absichtlich zu spät zu kommen, denn das ergab in ihren Augen auch sehr wenig Sinn. Irgendwer musste ja den Anfang machen, musste der oder die Erste sein, damit der Gastgeber nicht mehr alleine in der aufgeräumten Wohnung stand und dem Bier in der Badewanne zusehen musste, wie es langsam wieder warm wurde.
Neben ihr war das Geburtstagskind, ein Bekannter, den sie gerade dabei war, näher kennen zu lernen, dessen Freundin und ein paar seiner Mitbewohnerinnen anwesend. Während er Kaffee kochte, unterhielten sie sich über Politik und merkwürdige, exotisch wirkende Wahlsysteme, von denen sie noch nie etwas gehört hatte. Im Hintergrund lief Drum’n‘Bass, was ein wenig surreal wirkte, wo sie ganz ruhig Milchkaffee tranken, die Tasse mit dem hell braunen, bitter-süßen Getränk neben der halb leeren Bierdose, die es zur Begrüßung gegeben hatte, abgestellt, auf weitere Gäste wartend, die langsam eintrudelten und das Zimmer füllten, bis das Gespräch immer weiter wuchs und so groß und unübersichtlich wurde, dass es schließlich zerfiel und sich in kleinere Einzelgespräche aufteilte. Ina diskutierte mit einer Freundin, die gerade gekommen war, über deren Kurzurlaub.
Sonnengebräunt und den Kopf voll mit erlebten Abenteuern auf Südseeinseln.
Zoë betrachtete ihren eigenen Arm.
Bleich. Auch sie brauchte mal wieder ein Abenteuer. Sie setzte die Bierdose an und bat eine ihr unbekannte Person, die gerade Nachschub holte, ihr doch noch eine mitzubringen. “Auf ein Abenteuer!”, prostete sie sich selbst zu, als sie die Dose mit einem lauten Zischen öffnete, um sie dann gegen die des unbekannten Getränkelieferanten zu stoßen.
“Alex.”, stellte dieser sich vor und hielt ihr seine linke Hand hin.
Ein wenig verwundert über die für sie eher ungewohnte Begrüßungsform sagte sie halblaut “Zoë”, lächelte verlegen und nahm erst mal einen großen Schluck Bier. Wieder fiel ihr Blick auf die Südseetouristin, die gerade von einer Bootsfahrt erzählte, bei der sie angeblich Delphine gesehen hatte. Sie setzte die Bierdose auf den kleinen Tisch, der vor dem Sofa stand, auf dem sie saß. Ihr Blick fiel auf die Tasse, noch zu einem Drittel gefüllt mit lauwarmen Kaffee.
Als sie nach dem Gefäß griff, ging das Licht aus.
Dreadlocks im Stroboskoplicht
Als Zoë die Tür zu dem kleinen Durchgangszimmer, das Flur und das Zimmer, in dem sich der Kuchen befand, öffnete, trat sie in eine andere Welt. Das Zimmer war komplett abgedunkelt. Düstere Technomusik wummerte laut aus zwei Boxen. Ein halb umgeklappter Esstisch fungierte als DJ-Pult. Es war die einzige Lichtquelle – abgesehen von einem nervös blitzenden Stroboskoplicht, das jede halbe Sekunde aufblitzte. Alles lief in Zeitlupe ab. Und gleichzeitig lief auch nichts in Zeitlupe ab.
Das überforderte ihre Wahrnehmung. Viel zu nervös. Sie wollte sich hinsetzen. Reden. Oder auch nur zuhören. Gemütlich ein Bier trinken.
“Wow, was für ein Unterschied zwischen den Räumen!”, brachte sie verwirrt vor, als sie in dem schumrig beleuchteten Zimmer angekommen war. Es gab keinen Kuchen mehr. Die fragenden Gesichter der Anwesenden erwiderte sie mit aufklärenden Worten über den abgedunkelten Tanzraum nebenan. Ein Fehler, wie sich herausstellen sollte.
Alle sprangen von den Sofas auf und stürmten auf die improvisierte Tanzfläche.
Wieder bemerkte Zoë, dass sie einige Zeit gedankenlos ins Leere gestarrt hatte.
“Na los, gib dir deinen Ruck!”, sagte sie laut. Ihre Stimme klang trocken. Vielleicht würde es nebenan wenigstens Getränke geben?
Zwei Minuten später trank sie eisgekühlten Wodka aus der Flasche und tanzte zu der elektronischen Musik. Jedes Hämmern des Basses eine Körperbewegung, jedes Stroboskopaufblitzen ein neuer Denkzettel gegen Stillstand.
Obwohl sich viele Menschen in dem kleinen Raum aufhielten, waren alle seltsam stumm. Hier und da ein Lachen jener, die ihre verzögerten Bewegungen im Spiegel betrachteten, aber sonst redete niemand. Die Musik zwang zum Schweigen.
Zoë hatte das merkwürdige Gefühl, in einem stillen, gar lautlosen Raum zu sein. Natürlich nahm sie die Musik wahr. Unterschwellig. Es war mehr ein Fühlen als ein Hören. Und sie tanzte auch, so schien es ihr, unterbewusst. Ihre Gedanken hallten in ihrem Kopf, als sei ihr Schädel eine Kathedrale.
Wieder reichte ihr jemand die Wodkaflasche. Sie nahm gleich einen großen Schluck, um sich dann bei der Person zu bedanken. Lächelnd nickte das Mädchen ihr zu, nur um dann die Augen zu schließen und weiter zu tanzen. Eine schlanke, fast schon dürre Gestalt, die so tanzte, als würde sie keine andere Art der Bewegung kennen. Sie hatte lange Dreads, die ihr bis unter die Schulterblätter reichten. Obwohl sie in einen Zopf zusammen gehalten waren, flogen sie beim Tanzen wild herum. Zoë faszinierte der Anblick unter dem Zeitlupeneffekt des Strobos. Und das entspannte Gesicht des Mädchens, das sie beim Tanzen an den Tag legte.
Zoë zog ihren Pullover aus. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass ihr warm würde und trug ein weißes Top drunter. Immerhin war es sauber.
Langsam versuchte sie sich ihr zu nähern. Zentimeterweise schob sie sich in ihre Richtung, um unmerklich zu wandern, während ihres Tanzes. Sie wusste nicht, ob sie das Mädchen antanzen wollte. Immerhin war sie hier nicht in einer Disko oder einem versifften Club, in dem es jedem egal war, was um ihn herum passierte, sondern in einem kleinen Zimmer mit wenigen Leuten, die einander alle mehr oder weniger gut kannten. Und auch wenn sie unter den Leuten hier keine Homophobie vermutete, so waren direkte Anmachen doch schwieriger, wenn sie nicht einfach 20 Meter in eine andere Richtung verschwinden und dort weitertanzen konnte.
Das Mädchen war total in die Musik versunken. Sie öffnete die Augen höchstens, wenn das Lied wechselte oder jemand sie berührte. Jedes Mal, wenn sie Zoë wahrnahm, lächelte sie. Einmal legte sie ihre Hand an Zoës Hals und schaute ihr in die Augen. Dann begann das nächste Lied und sie war wieder von einem Panzer aus Musik und Bewegung umgeben, den Zoë nicht durchdringen konnte. Oder nicht durchdringen wollte.
Irgendwann tippte das Geburtstagskind sie wieder auf die Schulter. Ein Blick und sie wusste, was gemeint war. Sie folgte ihm durch den schmalen Gang in sein Zimmer. In der Küche saß eine kleine Gruppe um eine Flasche Wein. Ein abschätziger Blick traf Zoë. Ob es wegen der Musik, zu der sie offensichtlich getanzt hatte, oder wegen dem Joint, den sie weniger offensichtlich jetzt rauchen würde, konnte sie nicht beurteilen. Vielleicht hatte der Person auch einfach nur ihre Kleidung oder Frisur nicht gefallen.
Zoë ließ sich in ein tiefes Sofa sinken. Sie wusste, dass sie wohl für einige Zeit nur schwerlich aufstehen können würde. Das Gras hatte außer ihr und dem Gastgeber vier Personen angelockt. Auch das Mädchen mit den Dreads war ihnen gefolgt. Der Typ, der neben ihr auf dem Boden saß, ein kleiner, rundlicher Student mit merkwürdigem Akzent redete die ganze Zeit davon, dass man jetzt “einen Ofen”bauen würde. Was war das wieder für eine merkwürdige Konsumform? Oder war das nur einer der vielen seltsamen Ausdrücke für einen Joint?
Das Mädchen blickte sie an. Und das nicht nur, als sie inhalierte, sondern auch, als der “Ofen”wieder weiter gewandert war. Zoë lächelte, als ihre Blicke sich trafen. Sie lächelte zurück. Was bedeutete dieses Lächeln? Sie spürte weiterhin die Blicke des Dreadmädchens auf ihr, aber was für Absichten hatte sie? Zoë fand es schwer, ihre eigenen Absichten zu kommunizieren. Was mit Sprache schon schwierig war, war nonverbal fast unmöglich, wenn man nicht zu platt rüberkommen oder gar übergriffig werden wollte. Sie wusste auch nicht, wie sie das sonst gemacht hatte. Wahrscheinlich waren die Menschen einfach auf sie zugegangen. Oder sie hatte eindeutigere Zeichen gehabt. Aber war dieses Lächeln nicht schon eindeutig genug? Musste sie darauf warten, eine Hand auf ihren Schenkeln zu spüren, um sich wirklich „sicher“ sein zu können, dass sie es riskieren konnte, mehr als nur Blickkontakt zu wagen?
Nachdem der „Ofen“ zu Ende geraucht war, entschieden einige der wenigen noch verbliebenen Gäste, dass es jetzt an der Zeit sei, ein Videospiel zu spielen. Laut flimmerte der Bildschirm und bunte Comicfiguren plärrten Unverständliches. Zoë schloss kurz die Augen. Ihr war das zu viel. Für einen kurzen Moment konnte sie den flackernden Fernseher ausblenden. Trotz der lauten Geräusche hatte sie das Gefühl, vollkommen ruhig zu werden. Sie versank im Sessel.
Sie riss die Augen auf. Eine warme Berührung hatte sie aus ihrem merkwürdigen, tranceähnlichen Zustand geholt. Sie blickte auf ihren Unterarm, auf dem eine zierliche Hand lag. Giftgrün lackierte Fingernägel. Ihr Blick schweifte an der Hand entlang, den Arm, zu der sie gehörte, hoch, bis sie dem lächelnden Dreadmädchen in die Augen sah.
„Mir ist das hier drinnen zu anstrengend. Ich geh ins Bad. Kommst du mit?“
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