„Ich vermisse höchstens das Gefühl, das ich damit verbunden habe. Die Welt als neuen, aufregenden Ort, zu dem mir alle Türen offenstehen, auf dem noch Nebel und Raureif klebt wie kühles Geschenkpapier.“ Die Person, die ich einst Ruth nannte, zieht eine Augenbraue hoch. Bewundernswert, dass sie so sehr Kontrolle über ihre Mimik hat, wie ich sie einfach nie haben könnte, so sehr ich mir es auch wünschen würde. Sie mustert mich mit interessiertem Blick, als habe ich etwas komplett abwegiges gesagt.
„Hallöchen!“ Ich weiß sofort, wer da spricht. Vielleicht, weil es vergleichsweise selten passiert, dass der Raum um mich herum kippt, ich aber sitzen bleibe und nach einer 281 Grad-Drehung nicht zweimal mit dem Rücken auf dem Boden liege. Und dieser stattdessen unangenehm angenehm in eine Chaise-Lounge gedrückt wird, auf der ich nunmehr sitze und diese schreckliche Begrüßung höre.
Unter
Beobachtung schreiben ist immer merkwürdig. Meistens können die
Menschen gar nicht auf mein Display sehen, oder nicht in mein
Notizbuch. Das ist gut, denn mit Schreiben verhält es sich wie mit
dieser merkwürdigen Theorie aus der Physik, dass sich Dinge
verändern, sobald sie beobachtet werden. Ich weiß nicht, ob das
nicht einfach auf alles zutrifft, was beobachtet wird. Verändere ich
mein Verhalten, wenn ich mich selbst beobachte? Ich beobachte mich
seit 96 Tagen selbst. In einer Form, die ich so noch nie praktiziert
habe. Es ist ein Experiment.
„Das klingt viel zu einfach. Es muss doch komplizierter sein!“ Meine Stimme klingt erregter, als ich möchte dass sie klingt.
Ich war immer schon
schlecht darin, meine Gefühle zu verstecken, mir ist immer alles ins
Gesicht geschrieben. Was ironisch ist, denn im Alter von zehn Jahren
hatte ich eine mysteriöse Krankheit, ausgelöst durch einen
Zeckenbiss (oder auch nicht), die mit einer partiellen
Gesichtslähmung einherging. Was dazu führte, dass ich in der
Folgezeit große Probleme damit hatte, meine Mimik zu kontrollieren.
Die logische Konsequenz davon sollte eigentlich ein resting
irgendetwas face sein, nicht ein genaues Abbild all meiner
Gefühlsregungen. Und dazu habe ich noch das Gefühl, überhaupt
nicht richtig auf Dinge reagieren zu können. Vielleicht hätte ich
doch Schauspieler werden sollen.
Als die Person, die ich einst Ruth nannte, mir Tee anbot.
„Möchtest du Tee?“ Die Person, die ich einst Ruth nannte, sitzt auf einem sterilen Designermöbel. Sitzen ist das falsche Wort. „Lümmeln“ wäre vermutlich angebrachter. Diese Betrachtung hält mich davon ab, mich zu wundern. Der Porzellanladen, er ist verschwunden. Oder vielmehr: Wir sind aus dem Porzellanladen verschwunden. Alles steht wieder gerade herum, die Schwerkraft beträgt exakt 9,807 m/s² und alles wirkt ruhig, vertraut, nicht bedrohlich. Vor dem Designermöbel steht ein ähnlich abstraktes Beistelltischchen, auf dem eine Kanne Tee und zwei Tassen stehen. Das Getränk hat eine einladende, rötliche Farbe. Wie ein Sonnenuntergang nach einem anstrengenden Tag Nichtstun am Strand.
Ich mache einen
Schritt. Und noch einen. Langsam, mit Bedacht, vorsichtig, um nicht
versehentlich auf eins der zerbrechlichen Gefäße zu treten, die ich
vor wenigen Minuten noch zertrümmern wollte. Ich gehe auf die Person
zu, die ich einst Ruth nannte. Genauer: Auf ihr wortwörtlich
strahlendes Antlitz, zu den gleißenden Augen, die mich anziehen,
obwohl sie mich verblenden. Ich weiß nicht einmal mehr, ob ich die
Person noch als Person erkenne oder ob sie für mich nur noch das
Licht ist, in das es mich – nunmehr vollständig Motte – zieht.
Immer noch starren
die Person, die ich einst Ruth nannte und ich uns an. Ich sehe ihr
Gesicht mittlerweile wieder, aber es ist viel zu hell, strahlend, als
hätte sie keine Löcher als Pupillen, sondern kleine
Neutronensterne, die mich verblenden. Ich bin wieder nicht im Stande,
von ihnen abzusehen. Ich fühle, wie mein Körper auf einmal merkt,
dass ich auf der Decke stehe, oder der Boden sich gedreht hat –
irgendetwas ist mit den Himmelsrichtungen und der Schwerkraft nicht
ganz in Ordnung. Mein Magen es hat jetzt auch gemerkt, und er fühlt
sich flau an. Oder ist flau geworden. Was ist das für ein Adjektiv,
was soll ich damit tun?
Als ich über alle möglichen Wirklichkeiten nachdachte
Ich habe das Gefühl,
der Raum müsste sich bald wieder verändern, ich und die Person, die
ich einst Ruth nannte, wir, wenn ich es denn wagen kann, von einem
„wir“ zu sprechen, müssten jeden Moment wieder woanders stehen.
Zurück in der Betonkathedrale oder dem Maschinenraum oder was ich
halt dafür hielt, zum Beispiel. Mir kommt das so lange vor, so fern,
dabei kann es sich nur um Stunden handeln. (In Wirklichkeit sind es
etwas mehr als zwei Wochen, aber wen interessiert schon die
Wirklichkeit?)
„Und was soll es dann bringen, unbelebte und unschuldige Objekte zu zerschlagen?“ „Du wolltest doch genau das gleiche tun. Du hattest doch auch einen Baseballschläger in der Hand! Du hattest doch genau den gleichen Plan?“ Meine letzte Anschuldigung klingt mehr nach einer Frage. Ich weiß nicht, ob ich wirklich Recht mit meiner Vermutung habe. Vielleicht wollte die Person, die ich einst Ruth nannte, auch einfach mich schlagen. Oder sich vor mir verteidigen. Es wäre ihr nicht einmal wirklich übelzunehmen.
„Wieso schweben da
zwei Baseballschläger in der Mitte des Raumes?“, fragt die Person,
die ich einst Ruth nannte. In einem Tonfall, der mir
unmissverständlich klar macht, dass es vor allem darum geht, sich
mit der Art der Frage über mich lustig zu machen.
„Ich weiß es auch
nicht. Ich weiß nicht einmal, warum du einen Baseballschläger dabei
hast. Du bist ja nicht die Person, die wütend ist. Das sollte doch
ich sein.“
Mein Gegenüber
grinst, das Grinsen friert auf ihrem Gesicht, dann entspannt sie ihre
Mimik und blickt mich wieder mit dem gleichen ernsten Blick an, den
sie spätestens seit wir im Porzellanladen sind, aufgesetzt hat.
„Oh,
ich sollte nicht wütend sein? Ich sollte nicht auf Porzellan
eindreschen wollen, bis nur noch Staub übrig ist? Als hätte ich
nicht gute Gründe, um genau so wütend so zu sein!“
Der
Tonfall ist aber nicht wütend. Die Person, die ich einst Ruth
nannte, spricht in einer ruhigen, salbungsvollen Stimme, die mich
umso mehr trifft. Natürlich hätte auch sie allen Grund, wütend zu
sein, so wie …