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Kälteeinbruch

„Ich habe unglaubliche Lust auf Kamillentee.“, sagt sie.
Zum Glück versteckt sich in meinem Schrank eine Tüte mit getrockneten Bio-Kamillenblüten, die einen wirklich wunderbaren Tee ergeben. Ich setze Wasser auf, putze meine Brille, während der schäbige Wasserkocher vor sich hin brodelt.

Kamillentee

„Eigentlich wäre es schön“, meine ich, „wirklich Wasser aufzusetzen. In einer Teekanne, die auf den Herd kommt und lustig pfeift, wenn das Wasser fertig ist.“
Sie nickt, sagt nichts. Leider ist das energetisch wohl ziemlich ineffizient. Ich bin nicht der Meinung, dass alles immer möglichst effizient sein sollte, aber Energie sparen ist mir wichtig.

Die Katastrophe, in die wir uns und unseren Planeten stürzen, mag nicht so plötzlich kommen wie beispielsweise ein Atomkrieg, und wahrscheinlich ist genau das ihr Problem – sehenden Auges laufen wir in den Abgrund, weil er gar nicht so tief aussieht – aber verheerend wird sie trotzdem sein. Vielleicht hätte sie sogar das Potential, den eben genannten atomaren Konflikt auszulösen. Ich erzähle ihr das. Nein, ich halte eher eine Rede. Meine eigenen Worte regen mich auf, während dem Sprechen stellen sich mir die Nackenhaare auf, mein Rücken eine einzige Gänsehaut. Zu viel Pathos in meiner Stimme.
Sie hat Gänsehaut auf den Armen und schaut mich schockiert an. Vielleicht ist das einer dieser Momente, die das Leben verändern. Vielleicht ändert sich ihre Sicht auf alles im Leben, weil ich so gefangen von meinen eigenen Worten war, als ich meinen Monolog gehalten habe.
Der atomare Winter, die Gänsehaut: Ironie des Schicksals.

Nachdem sie am Tee genippt hat, öffnet sie den Mund, als ob sie was sagen wollte, schließt ihn wieder.
Dann, endlich: „Ich fühle mich manchmal unglaublich einsam.“
Ihre Stimme ist eiskalt.
Ich frage sie, ob sie darüber reden will.
„Irgendwann ist der Punkt erreicht, an dem es sich nicht mehr lohnt, darüber zu reden, weil es nichts mehr zu reden gibt.“
Ob es ihr helfe, wenn ich sie umarmte. Ich bin so. Ich stelle solche Fragen genau so dumm und gerade heraus, weil ich Angst habe, etwas Falsches zu tun. Magie des Augenblicks: esoterischer Humbug.
„Irgendwann bringt auch jede noch so freundschaftlich gemeinte Umarmung nichts mehr, weil sie nur den Schmerz aus einem heraus presst. Diese Momente kommen und gehen. Sie tun weh, aber sie sind nicht dauerhaft. Die Frage ist nur, wann diese Momente keine Löcher mehr sind, aus denen ich raus krabbeln kann, sondern ein Abgrund.“
Wieder ein Monolog, diesmal von ihr. Mich fröstelt es überall.

Die Probleme im Großen und im Kleinen ähneln sich.

photo CC BY 2.0 derya

Was bleibt.


Was bleibt am Ende des Tages? Am Endes des Gespräches? Viele Worte, Witze, Sorgen, sinnvolles, sinnloses, unsinniges. Die Sorgen bleiben hängen. Als wären sie noch nass und müssten zum Trocknen aufgehängt werden. Ich hab nicht umsonst so viel Hoffnung in den Keller geschaufelt, als dass ich sie jetzt zum Heizen verwenden könnte. Ich habe nicht umsonst so viel Tee eingelagert, da kann der Winter nicht einfach ausbleiben. Alles wird gut werden. Ich glaube daran. Mir bleibt nichts anderes übrig. Ich kann nicht davon ausgehen, dass die Welt in Zukunft ein Trümmerhaufen sein wird und ich im Epizentrum einer Wasserstoffbombenexplosion stehen werde, wenn ich dort ankomme, dann kann ich mich auch von meinem sicherlich zu niedrigen Balkon schmeißen. Ich muss optimistisch bleiben. Und selbst wenn alles in Trümmern aufgeht, so werde ich mir beim Wiederaufbau halt die Hände aufreißen und Narben davontragen. Aber letzten Endes wird es gut ausgehen. Drei kleine Vögel werden singen, und wenn sie die letzten auf Erden sind.

Vor meinem inneren Auge bauen sich düstere Visionen auf. Rote Meere, der letzte Mensch im Universum, eingesperrt in eine ewige Maschine. Radioaktivität. Ich kann sie nicht glauben.
Und was bleibt? Der Vorsatz, sich weniger Gedanken zu machen.
Oder mehr?

Der Junge und die Bombe

Es war einfach gewesen, lächerlich einfach sogar. Eine Atombombe in Russland kaufen. Das klang so aberwitzig und unrealistisch, dass er es selbst immer noch nicht glauben konnte. Eigentlich sollte es nur der Test sein, ob sowas wirklich möglich war, aus einer Laune heraus. Immer wurde davon geredet, dass man angeblich alte Atombomben kaufen konnte, von korrupten Generälen oder Aufsehern von beinahe aufgegebenen und damit chronisch unterbesetzten ehemaligen sowjetischen Militärbasen.
Aber die Zeit, als die Bomben chromglänzend Richtung USA gezeigt hatten, waren lange vorbei. Viele der alten Trägerrakten waren mittlerweile verrostet – weil nicht aus Chrom, sondern aus poliertem Stahl. Den Leuten ging es schlecht, so weitab von Moskau, wo sich niemand darum scherte, was aus den alten Basen wurde, die einst der Stolz der Union gewesen waren – auf jeden Fall hatte man das den Menschen damals weisgemacht.

In einem versifften und super hässlichen Plattenbau hatte er den Aufseher in seiner Wohnung besucht. Merkwürdig hatte es gerochen. Nach Kohlsuppe. Obwohl er nicht genau gewusst hatte, wie Kohlsuppe riecht, hatte er den Geruch sofort erkannt. Wieso aßen Menschen Kohlsuppe, wo man doch immer nur von den russischen Kartoffeln hörte? Oder gingen die alle für den Wodka drauf? Das waren die Fragen, die in seinem Kopf herumschwirrten, als er an dem kargen Esstisch aus Kunststoff Platz genommen hatte.
Der Aufseher hatte eine dreistellige Summe genannt. Er wollte Euro, aus welchem Grund auch immer. Währungsumrechnungen und Wechselkurse waren noch immer eine merkwürdige Wissenschaft gewesen, bei der man besser einfach so machte, wie die Leute einem sagten.

Es wirkte immer noch unglaublich, aber wenn es tatsächlich funktionieren würde, wenn man tatsächlich eine alte Atombombe aus Sowjetzeiten einfach so kaufen konnte, dann war das eine so großartig verrückte Sache, dass man sie einfach tun musste. Wie hätte man so eine Gelegenheit nicht ergreifen können?

Nach der Zahlung waren nur noch einige Bestechungsgelder sowie einige Flaschen teuren Wodkas nötig gewesen, um die spärliche Mannschaft der Basis, irgendwo in der bitterkalten Einsamkeit Sibiriens, dazu zu bewegen, ihm die Bombe nicht nur zu verkaufen, sondern auch auf seinen Lastwagen zu laden.

Die Grenzübergänge waren harmlos gewesen. Ein paar Euroscheine und ein ordnungsgemäß ausgefüllter Frachtschein überzeugte die Zöllner, ihn ohne Durchsuchung fahren zu lassen. An der luxemburgischen Grenze hatte er nicht einmal stehen bleiben müssen, Schengen sei Dank.

(wird eventuell fortgesetzt…)

In the shadow of the war propaganda machine

Ich sitze im Schatten der großen Kriegspropagandamachine, sammele leere Patronenhülsen und stelle sie wie russische Puppen ineinander. Ist mein Leben wie diese Schalen? Ineinander verschachtelte Hüllen einer einst tödlichen Mischung? Irgendwo spielt ein schlechter Pianist auf einem ungestimmten Flügel Weihnachtslieder. Ich war schon einmal an diesem Ort. Déja-Vue ohne Déja. Ich überlege, ob es Hitze oder Kälte ist, die mich umbringt. Meine Gefühle kleben an mir wie ein schweißnasses, braunes T-Shirt. Ob es mir besser geht, wenn ich meine Gedärme an einer langen Angelschnur aus mir rausziehe?

Diese Maschine macht mich verrückt. Irgendwo liegt ein automatisches Gewehr.
Es ist entsichert, nur für den Fall, wo.
Wenn alle Stifte versagen, muss ich mit meinem Blut weiterschreiben. Aber oxidiert das Eisen darin nicht sofort? Die Türen schliessen zwei Minuten früher, luftdicht. Dann werden die Passagiere mit dem Geruch von billigem Essen betäubt, bis sie ihre Sünden gestehen und sich in neun Klassen (nach Dante) setzen. Es wäre wirklich schade um das Papier, wenn das Blut oxidieren würde. Braunes Geschmiere, ohne wirklichen Sinn und Zweck, und das alles, weil der Autor einen an der Waffel hat/sich keine Tinte leisten kann/das für ein nettes Motiv hält.
Die Iraner haben waffenfähiges Plutonium aus Zigaretten angereichert. Wie schlimm kann das sein, wenn wir nicht einmal Türen auf und zu machen können? In einem Radius von 2 Metern vom Epizentrum, Ground Zero, schmilzt alles zu Gold, meldet das Radio mit stoischer Beharrlichkeit. (Gibt es zu, du wirst „stoisch“ nachschlagen müssen, ehe du publizierst!) Die Ketten der Maschine sind ruhig, aber sie wird weiterfahren. KA-BOOM, mein einziger Glaube. 92: die heilige Zahl. Alle Generäle sind Priester, der Gott ist kein rachsüchtiger, sondern bloß totbringend.

Ein Lichterfaden in der Dunkelheit. Sie testen neue Flugzeuge. Diesmal werden sie mich erwischen. ich muss mich meiner Därme entledigen. Ohne Verdauung riechen mich ihre Sensoren nicht. Die Idee für zukünftige Dikatoren: den Chip in sensibles Nevengewebe einpflanzen. Da helfen auch keine langen Nägel mehr.
Zurück zu mir. Ich spiele weiter mit den Patronenhülsen, wie ein kleiner Junge. Alles nur noch Symbole. Jede Begegnung birgt neue Hoffnung. An das Ende des Gespräches kommen. Antarktis. Der strahlenfreie Kontinent. Pinguinfleisch und Schmelzwasser. Das beste Essen der Welt, zubereitet von zwei Roboterhänden in einem Wohnwagen. Winnie Pooh war ein Gin Tonic. Wie, sie haben keinen Kirschsaft? Drecksäcke! Ich fackele die Bude ab!

Mir bröckeln Stücke aus der Nase. Rohes Muskelfleisch quillt aus meinem After. Die Machine hat mich von Innen aufgelöst, wie mit Säure. Ein Mann mit Stock rettet mich im letzten Moment. Es ist Gandalf, der Sänger dieser Popband, der ständig Kaugummi schluckt. oder habe ich ihn mit jemanden verwechselt? Pass auf, dass dir kein Horn as der Stirn wächst, sagt er zum Abschied. Ich prüfe jeden Tag im Spiegel, aber am Morgen ist das Licht so fahl, dass ich lieber nicht zu oft daran kratze. Elektrisches Blitzen. Sie werden die Bombe werfen, ich werde zu Gold schmelzen und ewig davon träumen, zwischen Grabsteinen zu küssen.

Eine Allee aus Obelisken. Gigantische Phalli, voller Symbole der alten Götter und Helden. Ich will einer von ihnen werden. Apotheose. Schmelzen zu Gold. Zwei Engel heben dich empor, formen dich nach dem goldenen Schnitt. Du bist Adonis, du bist Venus, du bist Herakles, du bist Odysseus. Du bist Tim und Yoda. Der Gang über den roten Teppich, dabei Blitzlichtgewitter. Jeder einzelne so hell wie eine Atombombenexplosion. Abbdrücle deiner Hände, Füße und Genitalien in Gips für den Walk of Fame. Er ist geothermiegeheizt. Alle knien vor dir nieder. Du erblickst unter ihnen auch Einstein und Hendrix, beide mit einer Fender Stratocaster. Zeichen und Gesten der Ehrfurcht überall. Zwei pausbäckige, nackte Engel mit kurzen Flügeln krönen dich mit einem Lorbeerkranz aus kristallisiertem Uran.

Als ich erwache, bin ich noch im Vollbesitz meiner Gedärme. Ich sehe nur Schatten. In der Ferne dröhnt ein Dieselmotor.

Ka-BOOM²

Ich habe heut Nacht tatsächlich geträumt, die Atombombe würde fallen. In den Medien hieß es, die drei Meter um den Einschlagsort herum würden zu purem Gold schmelzen.
(edit 11:58)
Der Traum ging ungefähr so. Es war soweit. Wir hatten alle davon gewusst, dass dieser Tag einmal kommen würde, aber nun war er da. Die Atombombe würde fallen. Auf E. Aus irgendeinem merkwürdigen Grund wollte ich zuerst in der Mitte der Explosion sein, die in meinem Kleiderschrank sein würde. (Soweit ich weiß zündet man Atombomben noch über dem Boden, aber das sei mal dahingestellt.) Die Medien teilten jedoch irgendwie mit, dass in einem Radius von 3 Meter um den Einschlagsort alles zu purem Gold schmelzen würde. Da dies nicht unbedingt meinen Wünschen entsprach, flüchtete ich in die Küche, wo ich auf einen der Männer stiess, die dabei sind, unser Badezimmer zu renovieren. Er wollte einen Kaffee, und ich musste ihm unsere Kaffeemaschine erklären, die im Traum eine dieser merkwürdigen Senseodinger war. (In Wirklichkeit besitzt besitzen wir sowas nicht. Trotzdem konnte ich ihm das perfekt erklären.)
Nachdem der Handwerker mir nicht wirklich geholfen hatte und auch die Küche sich nicht wirklich lange »sicher« anfühlte. Irgendwann landete ich in einem kirchlichen Bunker, dessen Wände holzgetäfelt waren. Er war quasi leer. Dadrin gab es noch einiges Geplänkel, wobei ich mich nicht mehr erinnere, worum es dabei ging.

Ja, Thierry, ich will eine Interpreation. Weil, da bin ich ja mal gespannt.

Apotheose der Atombombe

world, my finger, is on the button
push the button
the time has come to…
galvanize!

Atombombe
Es wird Zeit, dass ich endlich schreibe, was ich schon so lange angekündigt habe. Nach meinem Plädoyer für die Postapokalypse dann nun die Apotheose der Atombombe.

Es ist das große Defizit meiner Generation, kulturell genauso wie politisch, dass die Atombombe nicht gefallen ist. Vielleicht ist auch einfach nur ein menschliches Defizit, dass wir uns noch nicht selbst ausgerottet haben. Je mehr ich über die Menschheit nachdenke, je mehr Schrecklichkeiten ich erfahre, umso mehr werde ich zum Misanthropen.
Ich gehe bei dem ganzen Atombombenabgewerfe nicht davon aus, dass es zu einem nuklearen Krieg kommt, bei dem die gesamte Menschheit oder zumindest die westliche Halbkugel ausgerottet wird. Ich nehme einfach mal an, dass es zumindest auf einer Seite noch immer Menschen gibt, die irgendwie überlebt haben. Vielleicht auch bloß, weil die gegnerische Seite Gnade hat walten lassen.
Es gibt, natürlich mehrere Szenarien, was meine Generation angeht. Wenn ich »meine Generation« sage, dann sind das wohl Westeuropäer in den Jahrgängen 85-91, also Menschen, die unter den historischen Umständen nicht mit der Angst vor der Bombe groß geworden sind, den Abwurf aber noch erleben hätten können. Da ich keine andere Generation, weder von den Jahrgängen, noch vom geographisch-kulturellen Einfluss her kenne, muss ich zwangsläufig meine eigene behandeln, und um diese geht es hier auch. Vielleicht ist es auch noch wichtig, dass die genannte Generation bei einem angenommenen Atomkrieg im Laufe der Achtziger Jahre des Zwanzigsten Jahrhunderts »unschuldig« wäre oder sich so sehen würde, weil sie noch nicht alt genug war, um den Lauf der Dinge zu ändern oder den Knopf zu drücken. Ich hebe auch nicht den Anspruch, dass die von mir aufgeführten Szenarien politisch und strategisch korrekt oder logisch sind. Denkbar sind sie, soweit wie ich das beurteilen kann, und zum Rest geht es mir mehr um eine soziologische Betrachtung. Vielleicht teilweise auch mit einem zwinkernden Auge. Ach, und das sind alles nur persönliche Einschätzungen, die man sehr wohl angreifen und wohl kaum belegen kann.

Szenario 1: Die totale Zerstörung
Westeuropa wird bei einem Atomkrieg in Schutt und Asche gelegt, es gibt kein oder nur noch vereinzelt Leben hier, das es durch die sich ausbreitende Strahlung auch immer schwerer hat. Dieses Szenario wird vor allem den Misanthropen gefallen, da meine Generation hier nie existiert hat. Die Überlebenden flüchten, sofern das möglich ist. Die Sterblichkeitsrate ist wegen strahlungbedingten Erkrankungen enorm hoch. Meine Generation ist die erste der Mutanten, falls sie überhaupt je geboren wird. Was wohl vor allem vom Grad der Zerstörung abhängt, aber wir gehen hier davon aus, dass Westeuropa unbewohnbar ist. Politisch denke ich, dass sich die Überlebenden in der Idealvorstellung in basisdemokratisch organisierten Gruppen zusammenschließen und so lange und gut wie möglich zu überleben versuchen. Vorstellbar sind auch patri- oder matriarchalisch organisierte Familienbanden, wobei in Westeuropa ob der kulturellen Prägung das Patriarchat wohl wahrscheinlicher wäre. Regierungen auf Basis von Staaten gibt es nicht mehr, da wohl vor allem die Hauptstädte das Ziel der Bomben waren und ohne intakte Kommunikation und Transportwege die Anarchie unumgänglich ist.
Kultur? Ich gehe davon aus, dass die meisten Dinge zerstört sind, die kulturell irgendeine Bedeutung haben. Mit den Erzählungen der Überlebenden werden aber wohl nicht nur die neuen Geschichtsbücher, sondern auch die neue Nachkriegsliteratur geschrieben.

Szenario 2: Brandflecken
Der Krieg hat nicht lange gedauert. Irgendwann hat einer eingesehen, dass das ganze Atombombenwerfen zu nichts außer Tod führt und aufgehört. Zumindest in Westeuropa. Die großen Städte und Militärbasen sind zerstört, es sind viele Toten zu beklagen und nuklearer Fallout bringt Krankheit und noch mehr Tote. Aber viele haben überlebt und gebären neue Kinder, auf denen das Laster der Hoffnung liegt. Diese Generation ist die erste, die Mutanten hervorbringt, mit denen wohl wie mit jeder Randgruppe und/oder wie mit Behinderten (was sie teilweise wohl auch sind) verfahren wird. Oder auch nicht, das hängt wohl wieder von der Schwere der Mutation und/oder der Zerstörung liegt. Ich gehe einfach mal davon aus, dass eine reduzierte Population, der es schlechter geht, freundlicher mit Mutanten und Kranken umgeht als eine wenig geschwächte, wohlhabendere Gesellschaft.
Die Politik ist also mit den Aufgaben des Wiederaufbaus, der Sperrung der verstrahlten und verseuchten Gebiete und letztendlich auch einer Beilegung der internationalen Streitigkeiten vertraut. Hier kann sich der Hurra-Wachstum-Kapitalismus kaum bewähren, da die Weltmärkte zusammengebrochen sein dürften und die Konsumgüterproduktion wenig Erfolg bei der Nachkriegsgesellschaft hat. Die führenden Parteien werden wohl pazifistische sein, denn wer will nach einem Krieg noch einmal Krieg? Ich könnte mir auch vorstellen, dass nach einer derartigen Katastrophe die noch relativ jungen Grünen einen starken Aufwind kriegen. Meine Generation wächst also auf mit Mutanten, dem Wiederaufbau und der häufigen Existenz von verstrahlten Zonen, die niemals wieder betreten werden dürfen. International wird man wohl irgendwie versuchen müssen, die Ideologien zu besänftigen. Vielleicht passiert das mit einer Annäherung beider, vielleicht gibt es aber auch eine friedliche Koexistenz mit Abrüstung. Eine utopische Vorstellung wäre, dass durch den Krieg die UNO neuen Aufwind bekommt und nach und nach Aufgaben einer Weltregierung übernimmt, die eventuell auch sogar eine gerechte Verteilungspolitik durchsetzt. Gibt es jetzt mehr Perspektive als Hurra-Wachstum-Kapitalismus? Da dieser genauso wie der Kommunismus versagt hat, indem er die Menschheit an den Rande der Vernichtung gedrängt hat, wird wohl Platz für neues entstehen. Protestbewegungen meiner Generation sind stärker, da eine allgemeine Auflehnung gegenüber jenen, die für den Abwurf »verantwortlich« waren, vorhanden ist. Allgemein könnte man sich vorstellen, dass der Mensch mehr Respekt gegenüber der Natur hat, da schon viele Landstriche verseucht sind und da nicht noch mehr hinzukommen müssen.
Kulturelle Veränderungen kommen eine ganze Menge. Ich gehe stark davon aus, dass die Medien noch immer eine starken Einfluss auf die Menschheit haben, jedoch die Massenware Kultur, wie sie heutzutage existiert, keine Überlebenschance hat, da nicht genug Geld da ist um ständig neue CDs, DVDs, Romane von Dan Brown, usw. zu kaufen. Gleichzeitig kommt mit dem Internet, das ja auch schon vor dem Wurf der Atombombe existiert hat, die Chance, Kultur ohne Beschränkungen zu verteilen, was dieser trostlosen Welt eine neue Perspektive bringt. Auch hier entsteht eine Art Nachkriegsliteratur, die sich mit dem Schicksal der Toten des Krieges und vor allem mit den Schuldgefühlen der Überlebenden beschäftigt. Die Fiktion beschäftigt sich wohl mehr mit Heile-Welt-Szenarien als mit der Realität der Postapokalypse. Musikalisch wird die Depression des Grunge wohl länger andauern, Stile wie Industrial, Gothic bleiben länger aktuell.

Szenario 3: Glück gehabt
Westeuropa war nur ein Nebenschauplatz des atomaren Krieges. Während der Ostblock und die USA fast vollständig zerstört, gibt es in Westeuropa nur sehr wenige Tote. Die werden allerdings noch nachkommen, in Form von Mutationen und Krebskranken durch den radioaktiven Niederschlag. Meine Generation wächst auf mit den schrecklichen Bildern von West und Ost, falls überhaupt noch jemand lebt, der Bilder gemacht hat. Die kollektive Schuld derjenigen, die überlebt haben, wirkt natürlich bedrückend auf die Atomsphäre. Politisch ist das große Leitbild Amerika am Ende und auch die Sowjetunion existiert nicht mehr. Wirtschaftlich ist Europa also zu einem stärkeren und wahrscheinlich auch fairerer Handel mit der sogenannten dritten Welt und mit Japan gezwungen. Das große Feindbild ist verschwunden und man muss sich neue Ziele und eine neue Orientierung suchen. Natürlich ist die Bandbreite der Möglichkeiten sehr groß und man kann wohl nur raten, wie es weitergeht. Wahrscheinlich wird man hier am repressivsten mit mutierten Personen umgehen und der Ausbau der Festung Europa wird schneller vonstatten gehen als in der realen Welt, die wichtigste Grenze ist aber diesmal im Osten, da man keine kontaminierten Menschen in Europa möchte. Eine Europäische Föderation ist ebenfalls möglicher.
Kulturell erwarte ich mir die gleichen Auswirkungen wie unter Szenario 2, nur dass sich die Fiktion des davongekommenen Europas sich stärker mit den Geschehnissen in den radioaktiv verseuchten Gebieten beschäftigt und durchaus postapokalyptische Szenarien bereithält. Auch die Nachkriegsliteratur wird hier eine andere sein als unter Szenario 2.

Wäre das jetzt besser?
Natürlich ist es gut, dass die Atombombe nicht gefallen ist, und ich wünsche mir auch nicht, dass sie fällt.
Manchmal habe ich das Gefühl, dass es wohl besser für die Gesundheit des Universums wäre, wenn die Atombombe gefallen wäre, und anderseits denke ich, dass so ein Ende des kalten Krieges aufhorchen gelassen hätte. Ein letztes Mal gut durchschütteln, damit wir uns bewusst werden, was wir eigentlich tagtäglich tun. Ich muss da keine Stichworte nennen.
Ich finde, das ganze wirkt sehr unkomplett, obwohl ich nun wirklich lange genug daran geschrieben habe. Vielleicht kommt man ja durch Kommentare weiter?

(Symbolbild ist übrigens ein Foto des Nuklearwaffentest »Operation Sandstone« vom 14. April 1948 auf dem Eniwetok-Atoll und public domain.)