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Wanderungen

Das einstige Belgien. Eine abgebrannte Steppe, Ödnis, deren Untergrund sich nicht definieren lässt. Die Bodenkunde hat keinen Buchstaben, um die Horizonte, aus denen sie besteht, zu beschreiben. Vielleicht, weil es in diesem abgebrannten Land keine Menschen mehr gibt, die sich gut genug mit Bodenkunde auskennen. Ohne Vegetation erreicht der Wind ungeahnte Spitzen. Er ist, wie das Meer, von dem er kommt, giftig.

Eine einsame Figur kämpft sich durch diese Wüste, einst ein stolzes Königreich. Sie trägt eine dicke Gasmaske, das Sichtfenster schwarz verspiegelt. Die Schutzkleidung, wovor auch immer sie schützt, ist ganz in schwarz gehalten. Genau wie der wehende Stoffumhang, der nicht so recht zu dem sterilen Rest passen will.

Es ist der Baron von Luxemburg.
Er hat unglaubliche Lust auf eine Zigarette. Und in dieser lebensfeindlichen Umgebung wäre der Tabakrauch wohl gesünder als die Atemluft. Seine Wanderung durch diese wahrhaft postapokalyptische Landschaft sieht von außen aus wie reiner Wahnsinn, zumindest aber ist sie lebensgefährlich. Seine Gedanken sind hell wie tausend Atombombenexplosionen. Er allein weiß, wohin er muss und was er dort zu tun hat. Er trägt keine Krone, der Umhang muss genügen, um seine Noblesse auszudrücken.

Das einzige Lebewesen, das ohne technische Hilfe in diesem Landstrich noch neben kann, ist der Shai Hulud, der gemeine Sandwurm. Die Tiere sind nicht gefährlich, aber unglaublich robust. Eine ungeübte Wandererin kann sich leicht durch den Anblick der meterlangen Chaetognatha aus der Fassung bringen lassen. Der Baron ist nicht ungeübt. Nicht mehr. Niemand, der die belgische Wüste durchquert hat, ist ungeübt.

Domein Raversijde steht auf einem Schild, das nur wenige Zentimeter aus der Asche rausragt. Die Schrift ist nur schwer zu erkennen. Aber dies ist die Gewissheit, die er brauchte. Dies war die Stelle. Der ehemalige „internationale“ Flughafen liegt hier ganz in der Nähe. Wahrscheinlich wird er hier finden, was er braucht.

Drei Tränen laufen dem Baron über die Wange. Kurz durchzuckt ihn die Angst, der Filter der Gasmaske könnte beschädigt oder voll sein. Erleichtert bemerkt er, dass er weint.
Von dem blutroten Meer trennt ihn nur eine hohe Düne.

photo: U.S. Office of War Information

Müllverbrennungsanlage Canossa

Fi sieht mich verständnislos an.

Canossa

Ich blicke verständnislos zurück, ziehe meine Mütze tiefer ins Gesicht, will gehen. Sie legt ihre Hände in mein Gesicht, drückt meine Mundwinkel nach oben, so dass ich lächele.
Ich muss an diese Party denken, auf die ich eigentlich nicht gehen wollte, weil ich mal wieder zu müde war. Auch da hat eine Person meine Mundwinkel nach oben gezogen, so dass es aussah, als würde ich lächeln. Danach hatte ich tatsächlich noch etwas Spaß auf der Tanzfläche. Als der DJ dann „Nein Mann“ spielte, sind wir gegangen. Oder vielmehr: Ich bin gegangen. Diesen verheerenden Nachhauseweg, den ich schon viel zu oft alleine gegangen bin. Das mit dem Abschleppen kann ich nämlich überhaupt nicht. Vielleicht bin ich auch zu blöd, mich abschleppen zu lassen.

Ich verlasse die Wohnung, ziehe abermals an meiner Mütze, die mir gut steht und von der ich immer das Gefühl habe, sie würde falsch sitzen. Ich stapfe durch den Schnee, der erst nächste Woche fallen wird. Zur Bushaltestelle. In meinem Mund eine Zigarette, obwohl ich eigentlich überhaupt nicht … Krampfhaft halte ich mich an ihr fest. Wie an einem Rettungsring.
Ich bin auf dem Weg zu Ruth. Ruth, die ich eigentlich schon vergessen hatte. In letzter Zeit war sie nicht mehr als ein Name auf meinem Handydisplay gewesen. Ohne Gesicht, ohne Stimme, nur Buchstaben in einem flüchtigen digitalen Speicher. Und nun bin ich auf dem Weg zu ihr, schaffe es kaum, meine Füße zu heben.

Der Bus lässt auf sich warten. Der Bus lässt immer auf sich warten. Manche Busse haben Spitznamen, werden „die rote Rakete“ genannt. Dieser Bus lässt nur auf sich warten. Als ich nach kaum vier Stationen wieder aussteige, wähne ich mich in einer anderen Welt, mindestens aber in einem anderem Land. Das hier könnte genauso gut ein kleines Dorf im unbekannten Osten Luxemburgs sein. Die Straßenschilder sprechen eine andere Sprache.

Ich war schon einmal hier. Eigentlich war ich schon viel zu oft hier. Ich kenne die Straßen, als sei ich sie eine Zeit meines Lebens jeden Tag gegangen. Dort haben wir damals Y. getroffen, dort hat Ruth mal Menschen den Weg erklärt, nicht ohne unabsichtlich einen Fehler dabei zu begehen. Unwillkürlich muss ich grinsen, obwohl mir gar nicht zum Grinsen zu Mute ist. Ich schleppe mich den Hügel hoch, von dem aus man über die ganze verdammte Stadt sieht. Wenn nicht gerade dicker Nebel die Sicht versperrt. Die Müllverbrennungsanlage (oder das Fernwärmekraftwerk, je nach Betrachtungsweise) Spittelau stößt bedrohlich ihre (oder seine, je nach Betrachtungsweise) ungefährlichen Dämpfe aus.

Ruth also.
Einen kurzen Moment erfasst mich eine Woge der Einsamkeit. Das Meer der Verdammnis umspült mich mit seinen eiskalten, harten Wellen, als ich in der Brandung stehe. Am Horizont das große Seelenzeppelin.
Ich lächele. Ganz ohne fremde Hilfe.

photo: Some rights reserved by sayimsorry

Yogaübung


Auf meiner Teepackung ist die Anleitung zu einer Yogaübung aufgedruckt. Man sitzt dabei im Schneidersitz und steckt sich abwechselnd Finger in die Nasenlöcher. Klein und kursiv gedruckt steht am Rand der Packung, ich solle seinen Arzt fragen, ob die Übung für mich geeignet sei. Ich gehe also mit der Teepackung zu meinem Arzt und frage ihn, ob ich im Schneidersitz sitzen und mir abwechselnd Finger in die Nasenlöcher stecken darf. Er sieht mich nur irritiert an und antwortet nicht, bis ich aus lauter Verlegenheit fluchtartig seine Praxis verlasse und beschließe, nie wieder zu diesem Arzt zu gehen. Im Treppenhaus bedauere ich dies kurz, denn der Arzt war stets freundlich und wirkt kompetent.

Ich werde nie wieder zu ihm gehen können. Nicht nur aus Scham, sondern vielmehr, weil das Haus, in dem sich seine Praxis befindet, einstürzt, als ich es verlasse. Vor mir versinkt ein ganzer Häuserblock in den Boden. Ich ziehe meine Thermokanne aus meiner Tasche. Der Teebeutel schwimmt noch drin. Ein grauer, mit Kräutern gefüllter Schwamm. An der kleinen Papierfahne ist kein Logo zu sehen, sondern es steht ein Spruch drauf. Der Tee ist nämlich, wie bei Tees auf deren Packungen Yogaübungen drauf gedruckt sind zu erwarten, ein ausgesprochener Hippietee. Drauf steht: „Liebe ist ohne Schmerzen. Sie ist Blühen. Sie ist Segen.“

Wie gut, dass ich niemanden liebe und mich nur unglücklich, voller schmerzen und weder sehr segens- noch blütenreich durch die Weltgeschichte ficke. Während der Häuserblock vor mir einstürzt und/oder im Boden versinkt, das kann ich durch meine beschlagene Brille nicht erkennen, trinke ich meinen esoterischen Hippietee und höre James Blunt auf meinem iPod. Und ich habe nur noch so wenig Schamgefühl, dass einfach nicht mehr genug davon da ist, um mich dafür zu schämen. Nicht für den iPod, der von suizidgefährdeten chinesischen Arbeitern in lagerähnlichen Montagewerken zusammengeschraubt wurde und schon gar nicht für James Blunt, der schmalzig von Kindern im Kosovo plärrt. Zumindest scheint sein Schmerz, oder den Schmerz den er von den traurig dreinschauenden Kindern im Kosovo antizipiert hat, größer zu sein als meiner. Denn bei mir ist eigentlich alles Okay. Gut, ich habe mich gerade vor meinem Arzt, zu dem ich jetzt nicht mehr gehen kann, weil sein Haus eingestürzt ist, hochgradig lächerlich gemacht, aber …

„Aber …“ denke ich und weiß nicht mehr weiter. Dort wo der Häuserblock war, ist jetzt der Blick auf ein rotes Meer. Ich kenne dieses Meer. Ich hasse dieses Meer. Nicht wegen dem Sand, der sich an meinen Körper klebt oder sich in alle möglichen und unmöglichen Körperöffnungen presst, sondern weil es halt dieses rote Meer des Verderbens ist, an dem ich schon so oft stand, an dem ich schon viel zu oft stand.

Und ich bin alleine hier. In der Ferne glaube ich Ruth über der See schweben zu sehen. Als sei sie ein mythologisches Wesen, als könne sie schweben! Ich bin alleine mit meinen Gedanken und wäre gerne alleiner.
Die Einsamkeit hingegen halte ich kaum aus. Ich weiß nicht, was ich will.
Ich weiß nicht einmal, ob ich gerne etwas wollen würde. Was würde Kazuyoshi Funaki in dieser Situation tun?

Ich möchte schreien, vor allem Leute an. Ich habe etwas Tee verschüttet. Es ist ziemlich schwer, mit dieser alten Thermokanne so zu schütten, dass der Tee nur in die Tasse kommt. Normalerweise fließt er nämlich überall hin, allem voran natürlich glühend heiß über die Finger, nur nicht in die Tasse. Ich habe übrigens eine Tasse aus Porzellan bei mir. Falls moderne Tassen überhaupt noch aus Porzellan sind. Vielleicht ist das längst irgendein Kunststoff, der sich bloß so anfühlt wie Porzellan. Auf jeden Fall ist sie schwer und lässt sich gut in der Hand halten, während ich vor dem Abgrund stehe, wo vor einigen Minuten ein Häuserblock eingestürzt ist und unter dem sich jetzt ein tosendes, rotes Meer steht. Der heiße Tee auf meiner Hand brennt und versichert mich, nicht zu träumen. Das wäre ja noch schlimmer. So eine tolle Geschichte und dann müsste ich nach der Erzählung immer sagen: „Und dann bin ich aufgewacht.“

Ich will mich in das Meer stürzen und in meiner Verzweiflung ertrinken. Eine Stimme hält mich davon ab. Buchstaben werden zu Menschen, das Meer aber nicht wieder zu einem Häuserblock. Wäre dies hier ein Traum, was wäre das alles für eine wunderbare Metapher! Freud, der alte perverse Sack hätte seine helle Freude daran und würde sich wohl erst die Unterhose wechseln müssen, bevor ich weitererzählen könnte.

Der Tee schmeckt nicht. Oder zumindest nicht so, wie er schmecken sollte. Ich gehe auf und ab, setze mich an den Rand der Klippe, stehe wieder auf, gehe wieder zwei, drei Meter, fühle mich wie an der belgischen Küste, drehe wieder um, setze mich auf den Asphalt, stehe wieder auf, gehe zu meinem Ausgangspunkt zurück. Der Tee schmeckt nicht so wie früher. Ich frage mich, ob das alles real ist, an was ich mich da zu erinnern glaube. Oder ob ich nicht einfach seit Anbeginn der Zeit vor diesem Bildschirm vor der weißen Wand saß und getippt habe. Ich traue mich nicht, nachzuschauen, wie lang der Text schon ist. Auch in meinen Augen würde James Blunt, der übrigens immer noch singt, keinen Mut entdecken.

Was ich mit diesem Text sagen will? Allgemeine Ratlosigkeit unter Germanist_innen in hundert Jahren. Die Orientierungslosigkeit im anfangenden einundzwanzigsten Jahrhundert. Wie immer! Als habe ich nur ein Thema, über das ich schreiben würde! Jetzt, wo ich mich noch aufregen kann, rege ich mich auf, als Nachhall durch die vierte Wand, die längst abgerissen wurde, genauso untergegangen mit dem Häuserblock, in dem einst mein Arzt wohnte. Ich knie nieder und bete, als mir einfällt, dass es keinen Gott gibt, an den ich glaube.

Ich blicke gen Himmel.


Über mir schwebt ein Zeppelin.

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Kriegsschiff auf rauer See
„Das also ist mein Leben.“, denke ich, „rauchend süßen Kaffee mit viel zu viel Milch zu trinken“. In meinem Kopf rennen Landschaften vor meinem inneren Auge davon. „Will ich mich verlieben? Will ich ein Mann sein? Eine Frau? Was heißt das? Wo ist Ruth in dem Ganzen? Schmeck‘s Krapferl!“ Wie sollte ein Zeppelin in diesen Stürmen Kurs halten können? Wie sollte ich wissen, dass die See über dem hypertheoretischen Dänemark so rau-h ist?

Ich sollte mehr Texte über das Leben in Wien schreiben.

Ein Güterzug fährt durch. Wenn ich geradeaus blicke, flasht mich der Anblick der bunt bedruckten Container total. Werden Container bedruckt? Ich versuche über diese Frage nachzudenken, muss unwillkürlich einen Schritt zurück gehen, merke dabei nicht, dass ich schon gegen dem Betonblock, der glücklicherweise im Weg steht und meinem Rücken ergonomischen Halt bietet, laufe, weil mich der Anblick so in seinen Bann zieht, dass mir schwindlig wird. Wenn ich meinen Blick etwas abwende und schräg auf den schnell fahrenden Zug schaue, kann ich die Werbeaufdrucke lesen und dieses fiese flüssigkeitsgefüllte Organ in meinem Innenohr sendet keine verwirrenden Signale an mein sowieso schon verwirrtes Gehirn. Vestibularapparat. Allein das Wort schon. Vestibularapparat. Ist es überhaupt ein richtiger Apparat?
Gegen den Betonblock gepresst blicke ich wieder nach vorne und lasse den brachialen Eindruck auf mich einwirken. In diesem Moment scheint es das visuelle Äquivalent zu „Vom Zug überfahren werden“ zu sein. (Das stimmt nicht. Der Gedanke ist mir jetzt, beim Schreiben gekommen. Aber was heißt denn „in diesem Moment?„, frage ich euch, durch die vierte Wand hindurch!)

Ich suche auf Amateurvideopornoseiten nach bekannten Gesichtern. Ungute Vorahnungen, im Nachhinein betrachtet. Als hätten verwackelte Handyvideos irgendetwas mit der Realität zu tun. Die Realität ist, wie wir alle wissen, völlig haarlos, schönheitsoperiert, mit glänzendem Öl gefettet und von der ersten Berührung an laut stöhnend in HD gefilmt. (Zu viel Porno? Fickt euch, hahaha!) Ich kann nichts dafür, aber es ist meine Schuld.

Zeppelin über Bergen

Das Zeppelin droht, abzustürzen. Zum Glück ist das Steuer kein Rad, sondern eine goldene Schreibmaschine mit tausend goldenen Hebeln. Ich sitze – nicht unbedingt vor Fachkenntnis strotzend – vor dieser Apparatur, aber der Quecksilberstreif am Horizont leuchtet schon golden in einer sich öffnenden Wolkengasse.

Mit einem Male stehe ich wieder am Strand des Meeres der Verzweiflung. Ein trauriger, unheimlicher Ort, den ich nicht selbst erfunden habe und dessen Existenz ich beinahe vergessen hätte. Ein zufällig gelesener Kommentar bringt mich darauf, dass eine geheime Botschaft hinter diesen Filmen stecken könnte, die mich wieder einmal völlig flashen. Ich könnte auch sagen, sie hätte mein Gehirn total gefickt, aber ich schreibe ja zu viel über Sex, wenn ich mich auf die Meinung derjenigen, die es sich trauen, das auszusprechen, vertrauen kann. Die schweigende Mehrheit sagt selbstverständlich naturgemäß nie etwas dazu.
Rotes Meerwasser umspielt meine Knöchel. Ein guter Pirat … Ich versuche, all diese schrecklichen Gedanken mit „Blub“ zu vertreiben. Manchmal schreibe ich auch „BLUB“ auf meinen Notizblock oder sonstiges Papier, wenn ich nicht laut reden kann oder will. Oft funktioniert das. Fragt sich nur, ob die Luftblasen, die ich dazu denke, über die Oberfläche steigen oder ob die Gedanken nur sinken wie leckgeschlagene Erdöltransporter und am Grund verbleiben wie Seeminen, aus denen man später Möbeln bauen wird, falls sie entgegen aller Erwartungen nicht detonieren und mich – zumindest metaphorisch – in Stücke reißen. Oder hässliche Flecken auf Textilien hinterlassen.

Der Baron von Luxemburg

Der Baron von Luxemburg

Vor der Bim-Haltestelle stehen Betrunkene mit fettigen Haaren, singen zuerst, reden dann über Zeitalter, sie das dritte Bier wegen dem dritten Jahrtausend, in dem wir uns befinden, er schon das Zwölfte. Die Zukunft hat schon begonnen. Unnötig zu sagen, dass sie beide betrunken sind, aber wie auf anderen Drogen wirken, oder zumindest wirkt das, was sie sagen, so. Nach dem kurzen Ausflug in die komplizierte Geometrie der vierten Dimension geht das Gespräch über historische Figuren. Ich kann meinen eigenen Gedanken derweil nicht folgen und erzähle wie automatisch von Ruth, die anscheinend mal wieder in der Stadt ist. Iwan der Schreckliche war kein Gläubiger, war Atheist. Ein Perverser war er! Hat dem Groszkni mit dem Florett den Damm aufgeschnitten. „Einmal ließ er einen Fürsten in ein Bärenfell einnähen und auf das Eis bringen. Als seine großen Hunde den vermeintlichen Bären in Stücke rissen, belustigte der Zar sich so sehr, dass er vor Freude nicht wusste, auf welchem Bein er stehen sollte!“ Katherina die Große war da ganz anders, die war gottesfürchtig und steht heute noch im Ruf, sexbesessen und machtgierig gewesen zu sein. Sie lallen, aber ich, ich will auf die Bank springen, mit wehendem Umhang, will schreien:“ICH BIN DER BARON VON LUXEMBURG! ICH WOHNE DORT OBEN AUF DEM BERG UND SPIELE MERKWÜRDIGE SPIELE MIT PENDELN! SUPERDOPE! NIEMAND SOLL MICH DARAN HINDERN ZU SCHREIBEN, DENN FÜRWAHR ICH BIN DER ADELIGE, DEN MAN DEN BARON VON LUXEMBURG NENNT!
Ruth würde darüber nur lachen. Mein Basilikum ist verdorrt. Und mein neuer Freund, Persea gratissima, voll mit hoch-giftigem Persin, versucht mir zu entwachsen. Das an meinem Daumen scheint nur Farbe zu sein.

Ich überlege schon länger, mir Tee zu kochen. Beschließe immer wieder, es zu tun, vergesse es aber dann direkt wieder. Wenn es mir wieder einfällt, muss ich aufs Klo und vergesse es auf dem Rückweg wieder. Ein Teufelskreis, den zu durchbrechen ich nicht die Kraft habe.

Gänsehaut an meinen Knöcheln. Ich zittere, das rote Wasser ist kalt. Die Zigarette (obwohl ich ja überhaupt nicht rauche!) verformt sich zwischen meinen Fingern. Ruth. Ich spüre ihre Anwesenheit, ich weiß instinktiv, dass sie mein Revier betreten hat. Nur zu gerne würde ich mit ihr treffen und sie zum Duell auf Leben und blaue Flecken mit diesen Versandrollen, in denen man Poster verschickt, auffordern. Aber eigentlich bin ich nicht wegen ihr nervös. „Eigentlich“, sage ich mir, „sollte ich überhaupt nicht nervös sein! Ich sollte aufrecht, mutig und voller Tatendrang sein, ein kraftvoller Bursche in seinen besten Jahren!“.

Mein Bett ist groß und leer. Aber immerhin bequem.

Durch mein Hirn kriechen garstige Insekten aus dem Weltraum, in sauerstoffangereichterter Umgebung hochgezüchtet auf unglaubliche Größen. Ersticken können sie, dank Tracheenatmung, nur schwerlich. Ich suche verzweifelt nach einer Tube Bauschaum. Ich müsste mir einen extra langen, dünnen Aufsatz bauen, den ich in meine Nase, denn durch das Ohr geht es wegen übermäßiger Liebe zu meinem Trommelfell nicht, schieben könnte und mit dem ich den Viechern dann Baumschaum in ihre Atemorgane spritzen könnte, so dass sie ersticken und mich nicht länger belästigen würden!

Schiff im Sturm

Zum Abschluss spielt Mozarts Requiem (KV 626). Das große Finale findet nicht statt.

(Meeres)rauschen.

Dies ist der elfte Teil einer Geschichte um ein Mädchen mit dem Namen Ina, ihren Exfreund und ihre Freundin.
1. Teil: Hoffnung. 2. Teil: Entmut. 3. Teil: Überwindung. 4. Teil: Türschwelle 5. Teil: Ina. 6. Teil: Vergessen. 7. Teil: Mullbinde.
8. Teil: Entscheidungsfindung 9. Teil: Dachboden. 10. Teil: Cercidiphyllum japonicum

Die plötzliche Wärme der Küche stach in seinen Fingerspitzen.
Ina hatte ihm irgendwann mal erzählt, dass ihr Mutter ein spezielles Wort dafür gewusst hatte, aber er konnte sich nicht mehr daran erinnern. Vielleicht war es auch nur ein Ausdruck gewesen, der nur in ihrer Familie entstanden war.

Zoës Gesicht war leicht gerötet und sie grinste Ina und ihn an. Leise, aber mit einem deutlichen Lächeln in der Stimme verkündete sie:
„Ich habe es gefunden. Wollen wir es lesen?“

Das war es jetzt. Der Moment der Wahrheit, sozusagen. Er wusste, dass das Gedicht wahrscheinlich nicht zu den Besten gehörte, die er je geschrieben hatte. Aber war es nur romantisch verklärter Kitsch oder hing mehr daran?
Vor allem aber beschäftigte ihn die Frage, wie das Gedicht wohl auf ihn wirken würde. Und wie auf Ina.
Vielleicht war es ein Fehler gewesen, nach dem Gedicht zu fragen. Aber vielleicht war es auch ein Fehler gewesen, überhaupt zu Ina zu fahren. Aber es war nun einmal so passiert und jetzt konnte er nichts mehr daran ändern.

Zoë schlug den Ordner auf dem Küchentisch auf.
Trotz ihrer offensichtlichen Vorsicht wirbelte eine beachtliche Menge Staub auf. Wie eine Art Nebel versperrte er einen Moment lang die Sicht auf das Papier und kitzelte unangenehm in seiner Nase.

Er beugte sich über den Küchentisch und spürte wie Ina und Zoë das gleiche taten. Es war ihm irgendwie peinlich, zu dritt über dieses Blatt gebeugt zu stehen, aber seine Neugier, sein Durst nach Erinnerungen war stärker. Und so las er:

Sanfter Sommerwind wispert einsame Botschaften der Sterne
in die Ohren engumschlugener Körper, stöhnend und nassgeschwitzt
Sprache nur aus Bassnoten lässt Trommelfelle vibrieren
gemeinsamer Takt verbindet über Körpergrenzen
das, was zusammengehört in dunkler Nacht

an der Küste, Grenze zur Unendlichkeit des Ozeans
an der Küste, Ziel der mystischen Reise
an der Küste, voll der Liebe und des Schweisses
an der Küste, Anfang, nicht Ende der Reise
an der Küste, wo nur Sand ein Bett bildet
an der Küste, Ursprung der gemeinsamen Gedanken

Körper nur aus Zungen und Fingern und Löchern
Alles hier ist Liebe und Zärtlichkeit und Sex und Extase
Alles hier ist Inpiration und Idee
Alles hier ist Schwermut und Euphorie und Melancholie und Sinnlichkeit
Alles hier vibriert im Lied der Sterne

Kein Brunnen, in den man hinabsteigen muss
alles liegt offen, alles Geheimnisse gelüftet
kein Fluss, der die Geschlechter trennt
alle Teile fügen sich nahtlos zusammen
kein Käfig, die Vögel zu bewahren
alle Geister fliegen hoch unter diesem Himmel

Dieser Moment gehört den Verbundenen
auf ewig festgehalten auf Papier und im Geiste
Geheimniss für alle Uneingeweihten
verschlossen im Herzen des vereinten Körpers

Alles zerfliesst in Sinneseindrücken
Geist und Körper zu oranger Masse
lieblicher Stoff der Extase
erstarrt zum Denkmal für diesen Moment

Eine Zeit lang sagte niemand was und er hatte das Gefühl, als würden beide Mädchen seinen Blicken ausweichen.

„Also es ist ja schon ein wenig kitschig, wenn man das so als Außenstehende liest.“, meinte Zoë und schaute fragend in die Runde.
Ina lächelte. Sie hatte ein Knie angewinkelt und strich mit ihrem Kinn darüber, während das andere ausgestreckt unter dem Küchentisch lag.
„Ich mag verschiedene Zeilen. Klar ist es romantisch und verklärt, aber ist das nicht auch normal in der Situation? Ich finde, man sollte das Recht haben, auch manchmal kitschig sein zu dürfen!“

Ina erinnerte sich jetzt wieder ganz genau.
Sie sah die kleine Bucht vor ihrem inneren Auge. Jene Bucht, in der sie das Gedicht zusammen geschrieben hatten.

small bay cc by Will Palmer

Sie waren den ganzen Tag unterwegs gewesen und hatten gegen Abend, als es eigentlich schon fast zu spät gewesen war, um noch irgendwo stehen zu bleiben, das Auto an einer einsamen Bucht geparkt.
Keine Menschenseele war an diesem Ort gewesen, was Ina wie ein Wunder erschienen war und die ohnehin schon mystische Aura der Bucht noch verstärkt hatte.

Wenn aus dem nahe gelegenen Wald Einhörner galoppiert wären, so hätte das Ina bei diesem nicht gestört, im Gegenteil, es wäre ihr völlig logisch und stimmig vorgekommen, sie hatte es sich schon fast erwartet.
Ein niedriger Rasen, der nach Kräutern geduftet hatte war über gegangen in einen schmalen Strand aus weißlichem Sand, an der das tiefblaue Meer gebrandet hatte. Scharfe, grauweiße Felsen, mit rotbraunen Flechten bewachsen, hatten die Bucht, die nur etwa 100 Meter breit gewesen war, abgetrennt. Hinter der Grasfläche, die wohl manchmal als Liegewiese benutzt worden war, hatte ein junger Birkenwald gestanden, durch den sie gefahren waren.

Die Sonne hatte schon ziemlich tief am Himmel gestanden, aber trotzdem hatten sie der Versuchung, in dieser Bucht auszusteigen, nicht widerstehen können.

Sie wusste nicht mehr, wer von ihnen Beiden das Wort „Nacktbaden“ zuerst gesagt hatte, dieses Konzept, das irgendetwas Verbotenes, Verruchtes hatte. Natürlich hatten sie Beide Badesachen dabei gehabt, aber das war egal gewesen, nachdem diese Idee ausgesprochen gewesen war, durch die Wortwerdung beinahe schon verstofflicht.

Und so waren sie nackt in das doch schon ziemlich kalte Wasser gestiegen – und das Eine hatte zum Anderem geführt.
Merkwürdig wie hell und klar die Erinnerungen an diese eine Nacht wieder waren, wie dieses Gedicht dies alles zurückgebracht hatte. Ina war, als könnte sie sich an jedes Detail erinnern, an den Sex, an die schier endlosen Streicheleinheiten, an die Decke, in der sie beide ihre nackten Körper eingewickelt und dann gedichtet hatten, an das Gespräch, das erst ein Ende gefunden hatte, als sie eingeschlafen war.

Sie fragte sich, ob es ihm genauso ging, ob er die gleichen Bilder vor seinem geistigen Auge hatte und vor allem wie sie sich für ihn anfühlten.

Sie selbst sah die Sache zwiespältig: Einerseits hatte er ihr weh getan – und sie ihm wahrscheinlich auch, und sie wollte nicht unbedingt viel an diese Zeit denken, auch wegen Zoë nicht. Anderseits waren die Bilder in ihrem Kopf schön, fühlten sich gut an und jagten ihr einen wohligen Schauer über den Rücken.

Sie brauchte einen Moment, um ihren Blick zu fixieren, sie hatte in die weiße Leere außerhalb des Küchenfensters gestarrt, ohne Fokus.
Zoë sah ihr direkt in die Augen, hob dabei eine Braue, als sie bemerkte, dass Ina den Mund öffnete, sich leiste räusperte und dann mit trockener Kehle in den Raum warf:
„Ich sehe diese Nacht wieder genau vor mir, obwohl ich das eigentlich vergessen hatte. Vielleicht ist das eins der schönsten Dinge, die Poesie mit uns anstellt: Sie zaubert uns Bilder in den Kopf und wenn wir selbst geschrieben haben, sind es sogar Erinnerungen, so klar wie nur selten.“

„Ich sehe sie auch“, meinte er mit belegter Stimme, „und ich weiß nicht, welches Gefühl überwiegt. Vielleicht ist es tatsächlich der Schmerz.“

Ina bemerkte wie seine Hand leicht zitterte.

(Picture cc by Will Palmer)

Podcast: Angscht a Schrecken an der Calanque de Sugiton bei Marseille

Wenn man in einer Mittelmeerstadt wie Marseille verweilt, kann man fast gar nichts anders, als manchmal ans Meer zu gehen und später jedem zu erzählen, man habe den ganzen Tag am Strand gelegen und sich die Sonne auf den Bauch scheinen gelassen.
Aber auch das geht nicht ohne Angst und Schrecken…

[audio:http://media.switchpod.com//users/angschtaschrecken2008/angschtaschrecken73.mp3]
MP3-Download Angscht a Schrecken an der Calanque de Sugiton bei Marseille

Die Musik stammt von Revolution Void und steht unter einer cc-Lizenz.

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On the sea again

Ich lese nur einen kleinen Satz, und schon bin ich wieder auf dem Meer und Pirat.
Als wäre dies meine Bestimmung, falls es sowas wie Bestimmung überhaupt geben sollte. Ich glaube ja weder an das Schicksal noch an den Zufall. Ich habe mir letztens eine 15-minütige Sendung über „Kausalität“ angesehen. Also, das war eine Folge von „Alpha Centauri“, eine Serie, die mich sehr an „Schulfernsehen“ errinnert hat und hauptsächlich über das All geht. Über das All bzw. dunkle Materie und „schwarze Energie“ ging es auch in einem „BBC Spezial“, der irgendwann letzte Woche auf Vox lief und den ich mir auch noch angesehen habe. Ich glaube, das war am Freitag, der Tag, an dem ich krank war und mir so etwas ohne mit der Wimper zu zucken angesehen habe.
Der Weltraum hat mich ja schon immer gefesselt. Ich bin auch schon mal eine Stunde länger in die Schule gegangen, um mir den Astronomiekurs eines Physiklehrers anzusehen. Der hat freiwillig, ohne Bezahlung sehr ansehliche Powerpointpräsentationen gebastelt und die mit noch mehr ansehlichen Erklärungen erklärt. Dagegen war „alpha centauri“ nichts.

Pirat. Piratensender. War auch Radio ARA in seinem Ursprung, aber seit 14 Jahren gibt es den einzigen freien Sender in Luxemburg auch offiziell. Und so lange gibt es auch schon die Jugendsendungen Graffiti. Und seit 2 Jahren, auf den Tag genau, gibt es „meine“ Sendung mit dem Namen Crumble. Nur, um mal zu betonen, dass heute nicht nur Nikolaustag ist. Aber immerhin werde ich jetzt nicht mehr morgens auf Schokolade treten, die ein alter Mann da hingelegt hat.