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Was ich beim progress gelernt habe (III): social media

Ich stehe am Klo der ÖH-Bundesvertretung, es ist der letzte Tag des letztens Produktionswochenendes. Trotz der Erschöpfung finde ich, dass ich irgendwie gut aussehe. Oder habe das Gefühl, dass ich mich in diesem Zustand der müden Melancholie dokumentieren will. Ich mache also Fotos. Vielleicht kann ich ja eins der Selfies später auf Instagram stellen.

Joël steht auf einem Klo und macht ein Selfie, skeptischer Blick

Die letzten beiden Jahre beim progress war ich eigentlich in der Online-Redaktion. Ich hatte nach zwei Jahren Printmagazin nicht mehr so wirklich Lust auf den Produktionsstress, der vor allem mit der Aufopferung nicht weniger Wochenenden einherging. Das hat im Endeffekt nicht so hingehauen, wie ich es mir vorgestellt habe, was aber vor allem an der „Personalpolitik“ der ÖH lag (darauf komme ich in meinem vierten und letzten Beitrag über meine Zeit beim progress nochmal zu sprechen). Auf jeden Fall: Ich war auch für die Vermarktung auf social media verantwortlich. Social media heißt beim progress vor allem: Facebook und Twitter. Gerne würde ich behaupten, ich könnte hier Weisheiten teilen, aber ich habe das Gefühl, immer noch genauso ratlos zu sein wie am Anfang.

Wahrscheinlich war das vor allem jugendliche Selbstüberschätzung, aber irgendwann Mitte der 2000er hatte ich das Gefühl, „das Internet“ verstanden zu haben und zu wissen, wie diese Dinge funktionieren. Es folgte die Welle des „Mainstreams“ ins Internet (und vor allem nach Facebook) und dann waren die Dinge auf einmal ganz anders, Clickbait und „lustige“ Sprüche (als jpgs! Text als Bild!) regierten. Gegen letzteres wehrte ich mich sehr lange, weil das ein No-Go ist. Hatte ich damalsTM so gelernt. Mit Facebook (der Plattform) kannst du halt nicht diskutieren, auch wenn die Argumente (z.B. Barrierefreiheit) noch so gut wären.

Joël steht auf einem Klo und macht ein Selfie, nicht ganz so skeptischer Blick

Das progress ist nicht die Neon oder die Vice und will (und kann) das auch nicht sein. Auch wenn die stilistische und inhaltliche Bandbreite enorm groß war, die Clickbait-Artikel über Sex und Drogen gab es eher nicht. Wir (oder meistens: ich) begnügten uns also damit, knackige Teaser zu schreiben und mit unseren Inhalten zu punkten. Spannenderweise war es oft der Bildungsbereich, der viele Shares/Likes erhielt, obwohl die Autor_innen sich für das Ressort eher zierten. Irgendwie auch logisch, dass das Zielpublikum eines Studierendenmagazins sich für Hochschulthemen interessiert – besonders dann, wenn es „Aufreger“ wie „Warum haben Arbeitsaufwand und ECTS eigentlich selten was miteinander zu tun?“ geht. Die Drogen-Wochen, bei denen wir uns mit vielfältigen Aspekten des Themas, vor allem angesichts der zunehmenden Repression gegen (meist schwarze) Dealer_innen an der Wiener U6 auseinandergesetzt haben, liefen hingegen nur so mittel. Vielleicht zieht das Thema nur dann, wenn auch die Redakteur_innen dies tun.

À propos Redakteur_innen: Selfies der Redaktion am Dach des Büros liefen meistens ziemlich gut – das kann aber auch einfach der Effekt sein, dass mit getaggten Menschen halt einfach der ganze Freundes- und Familienkreis das Bild in der Timeline hat und auch die nicht-progress-lesende Oma das Foto liked (Disclaimer: Eine meiner Omas hat Facebook, ich hab aber jetzt nicht nachgesehen, ob sie das Foto geliked hat). Also doch mehr Selbstdarstellung? Ich bin der Überzeugung, dass ein guter Text auch dann überzeugen kann, wenn der_die Autor_in nicht im Rampenlicht steht oder gar ein Pseudonym ist – und ich denke, dass es wichtig ist, die Möglichkeit zum anonymen/pseudonymen Veröffentlichen zu geben, gerade bei Themen wie Antifaschismus. Anderseits haben viele freie Journalist_innen gar keine andere Wahl, als sich (und zu einem gewissen Teil auch ihre Texte) selbst zu vermarkten – wer sich eine treue Fanbasis aufgebaut hat, kann neben vielen Likes für Selfies auf Instagram vielleicht sogar darauf hoffen, dass die eigenen Texte gelesen werden.

Der Artikel, der wohl die meisten Klicks und Shares hatte, war – und ich liebe diesen Fakt von ganzem Herzen – eine Kinderbuchrezension. Die hatte den Titel „Zwei mal ‚Wo kommen Kinder her?‘, ohne heteronormative Kackscheiße“ und widmete sich zwei Kinderbüchern, die auf queere Eltern eingehen. Eigentlich – bis auf den etwas provokanten Titel – eine unspektakuläre Sache. Zumindest so lange, bis die FPÖ-nahe rechtsextreme Webseite „unzensuriert.at“ drauf kam und einen Artikel über die Rezension schrieb und damit natürlich einen rechten Mob auf unsere Seite brachte. So einen Shitstorm lässt sich weder steuern, noch wirklich heraufbeschwören – dass es eine derartige Provokation sein könnte, ein Kinderbuch zu rezensieren, in dem ein Vater schwanger wird (Männer mit Uterus sind jetzt nicht sooo die Seltenheit), hätte ich mir auf jeden Fall nicht gedacht. Einen Teil des Shitstorms haben wir hier dokumentiert.

Joël steht auf einem Klo und macht ein Selfie, eher freundlicher Blick

Es gibt auch die Möglichkeit, Facebook Geld in den Rachen zu werfen und Posts hervorheben zu lassen. Das haben wir nicht sonderlich oft gemacht und lief stets in Zusammenarbeit mit dem Öffentlichkeitsreferat der ÖH-Bundesvertretung. Wir haben die Artikel meistens ziemlich genau ausgewählt und haben wohl auch deswegen (für unsere Verhältnisse) hohe View-Zahlen erreicht.

Riesige Unterschiede zwischen Facebook und twitter habe ich nicht feststellen können, obwohl ich das Gefühl habe, dass Texte (bzw. die Links dorthin) grundsätzlich andere bubbles erreichen: Auf Facebook halt die österreichischen Studierenden, auf twitter die deutschsprachige linke Bubble. Ob Tweets retweetet werden, hängt dann viel mehr am Thema des Artikels als an einer Bindung an das Medium. Gefühlt ist es auf twitter weniger „schlimm“, Artikel öfters zu bewerben oder auch mal nach Hinweisen für einen Artikel zu fragen, während Facebook alles, was nicht innerhalb der ersten paar Stunden viele Likes bringt, untergehen lässt.

Social Media ist – wenn es gut gemacht werden soll – enorm aufwändig, vor allem wenn dann noch Community-Management dazu kommt. Mit ein Grund, warum wir beim progress nicht mehr Netzwerke bespielt haben. Ich bedauere ein wenig, dass wir nicht auch einen Instagram-Kanal mit Inhalt gefüllt haben, wobei die Story-Funktion (die in meinen Augen für Medien am sinnvollsten ist) ja auch noch nicht so lange existiert. Ich würde auch davon abraten, die Plattformen als reine Vermarktungskanäle zu sehen – die Grenzen verschwimmen immer mehr, gerade auch weil der Aufwand, beispielsweise einen Livestream einzurichten, z.B. mit Facebook enorm gesunken ist. Die Gefahr ist natürlich (wie so oft), dass die Netzwerke den eigenen Account abdrehen können (weil auf Fotos irgendwer zu viel Haut zeigt, weil die Seite massenhaft gemeldet wurde oder einfach „aus Versehen“) und damit dann auch die Berichterstattung verschwindet. Ich weiß aber nicht, was die Konsequenz daraus ist – es gibt wohl kein Medium mehr, das es sich leisten kann, nicht auf den großen sozialen Netzwerken (bzw. vor allem Facebook) präsent zu sein. Auch nicht das Internet, das ich Mitte der 2000er Jahre kennengelernt habe.

Das Klo der ÖH-Bundesvertretung. Zu sehen sit vor allem ein Wasserboiler, ein Spiegel in dem eine Hand mit Handy zu sehen ist, im Hintergrund zwei offene orange Klotüren

Es gibt kein Fazit. Dinge ausprobieren, Zeit investieren, versuchen lustig und auffällig zu sein. Und so sehr es auch schmerzt: Text als Bilder. Aber da hätte ich auch noch nicht wirklich damit gerechnet, mal einen Text aus einem Zug heraus zu bloggen und das nicht über ein Handy, sondern über das Zug-WLAN zu machen. Glaube ich zumindest.

Die Bebilderung ist natürlich superironisch.

Was ich beim progress gelernt habe (II): Redigieren

Im Juli 2013 lernte ich meine erste progress-Kollegin kennen. Wir hatten ein Treffen mit einem Vertreter der Druckerei – ein Thema, das die Redaktion eigentlich nicht sonderlich beschäftigen sollte, weil sich um solche administrative Dinge auf der ÖH-Bundesvertretung andere Menschen kümmern (sollten) – und gingen danach noch auf einen Kaffee, um uns mal beschnuppern zu können. Anna kannte die Abläufe im progress, weil sie schon seit einiger Zeit Lektorin für‘s progress gewesen war. In unserem Gespräch fiel das Wort „Redigieren“ und ich musste erst Mal nachfragen, was das denn überhaupt genau heißt.

„Einen Text für die Veröffentlichung bearbeiten“ ist die gängige Wörterbuch-Definition des Verbs. Natürlich hatte ich das auch für das ÖH_Magazin schon gemacht, es aber eher als „lektorieren“ bezeichnet. Nach vier Jahren bin ich sehr davon überzeugt, dass es sich hier um zwei sehr unterschiedliche Arbeitsschritte handelt und sie auch in Redaktionen getrennt behandelt werden sollten. Redigieren hieß beim progress in vielen Fällen zuerst besorgt nachfragen, wann der Text denn kommen würde. Manchmal auf mehreren Kanälen, selten in der Angst, dass der_die Autor_in in einer Gletscherspalte verschollen sei und sich nie wieder melden würde. Andere – vor allem solche, die regelmäßig für Tageszeitungen schrieben – entschuldigten sich vorab per Mail, dass der Text nicht zu Mittag da sei, sondern erst am Abend. Wir planten immer zwei bei drei Wochen Zeit zwischen Text-Deadline und Druck ein, so dass genug Zeit zum Redigieren und Lektorieren war. Das ist natürlich ein ziemlicher Luxus, den wir uns vor allem deswegen leisten konnten und mussten, weil wir ehrenamtlich arbeiten und die meisten unserer Autor_innen (noch) keine professionellen Journalist_innen waren, sondern in der Mehrzahl Studierende oder Berufsanfänger_innen. Wobei ich hier auch nochmal erwähnen möchte, dass das progress nicht nur Texte von Studierenden aus Österreich abdruckte, sondern immer versucht hat, einen möglichst diversen Autor_innenpool zu haben und Studierenden auch mal mit nicht-akademischen Perspektiven zu konfrontieren. Weiterlesen

Was ich beim progress gelernt habe (I): Redaktion


Ein Sonntagabend, Mitte Juni. Ich sitze mit drei anderen Menschen auf einem Dach im vierten Wiener Gemeindebezirk, mit Blick auf das ORF-Funkhaus und Karlskirche. Wir trinken Gin Tonic und rauchen, während die Sonne sich langsam dem Horizont entgegen bewegt. Es ist das Ende des Produktionswochenendes an dem wir unsere letzte gemeinsame Ausgabe des progress‘ fertiggestellt haben. Wir wissen nicht, ob es nicht vielleicht sogar die letzte Printausgabe überhaupt ist. Für die meisten von uns ist ziemlich klar, dass wir nicht weitermachen werden (dürfen). Ich bin anfangs überhaupt nicht melancholisch, sondern nur erschöpft von dem Wochenende, an denen wir Fahnen korrigiert und die letzten Details geklärt haben. Es gibt immer noch ein Beistrich (Komma), das zu viel oder zu wenig ist, ein Lead, der noch knackiger sein könnte und ein Fotocredit, der irgendwo fehlt. Außerdem müssen Editorial, Inhaltsverzeichnis, Anreißertexte und ähnliches Kleinzeug geschrieben werden (am Besten am Freitag, damit sie am Samstag und Sonntag schon auf den Fahnen lektoriert werden können). Der Sonnenuntergang am Dach ist wunderschön, wir staunen alle. Ich sage trotzdem so etwas wie: „Ich mag nicht, dass die Sonne untergeht, denn das ist dieser Tag vorbei, und dann ist das mit dem progress und uns vorbei.“ Weiterlesen

Cyberpunk-Schnitzeljagd

Schriftzug: READ ONLY MEMORIES A NEW CYBERPUNK ADVENTURE

Dieser Post erschien zuerst in der März-Ausgabe (01/2016) des progress.

Neo-San-Francisco, wenige Tage vor Weihnachten 2064. Ich schreibe ein lange aufgeschobenes Review über besonders intelligente Kopfhörer. Danach genieße ich endlich den gerechten Schlaf freischaffender Journalist_ innen. Aber nur kurz: Ein kleiner Roboter namens Turing ist in meine Wohnung eingedrungen. Schlaftrunken höre ich seine Erklärungen: Mein Wohnungsschloss ist unsicher, er ist die erste künstliche Intelligenz mit richtigem Bewusstsein und Emotionen, und außerdem ist mein Bekannter Hayden Webber, der Turing gebaut hat, entführt worden. Weiterlesen

Politik, die wirkt?

Dieser Post erschien zuerst in der Mai-Ausgabe (03/2015) des progress und wurde im März 2016 rückdatierend auf dieses Blog gepostet.

Im ÖH-Wahlkampf wird viel versprochen und gefordert – doch nur wenige Forderungen wird die ÖH selbst umsetzen können. Wie viel Einfluss hat die ÖH und wo sind ihre Grenzen?

OEH-Wahl_2015

Leistbares Wohnen, günstige Mobilitätsangebote, mehr Freiräume für Studierende – die Forderungen der Fraktionen, die zur ÖH-Wahl antreten, beschränken sich nicht nur auf das unmittelbare Umfeld der Hochschule, sondern beziehen sich oft gleich auf das ganze Studierendenleben. Die Österreichische Hochschüler_ innenschaft (ÖH) hat ein allgemeinpolitisches Mandat, was grundsätzlich auch nicht-bildungspolitische Forderungen absolut legitim macht. Das ist in anderen Ländern oft anders, so zum Beispiel in Deutschland, wo es Studierendenvertretungen teilweise sogar gesetzlich verboten ist, solche Interessen zu artikulieren. Die ÖH wird dennoch auch nach dem 21. Mai nicht im Alleingang Mieten senken oder billige Öffis anbieten können.

ÖH GEGEN TUBERKULOSE. Als die ÖH 1945 gegründet wurde, waren Wohnungsnot und die soziale und gesundheitliche Lage von Studierenden die brennendsten Themen. So wurden in den 1940ern und 1950ern ein Heim gebaut und eine Tuberkulose- Vorsorge eingerichtet, die später zu einer allgemeinen Krankenversicherung ausgebaut wurde. Obwohl die ÖH damals unter konservativer Führung war, organisierte sie Demonstrationen, zum Beispiel gegen Erhöhungen der Studien- und Prüfungsgebühren. „Einmal sollten ja die Gebühren empfindlich erhöht werden – und zwar um 30 Prozent. Wir sind dann rebellisch geworden und haben 1952 einen Sitzstreik am Ring organisiert. Mit Erfolg: Die Gebühren wurden nur geringfügig erhöht. Wenn es uns zu dumm geworden ist, haben wir immer gesagt, dann gehen wir wieder auf den Ring“, erzählte Günther Wiesinger, von 1952 bis 1954 Vorsitzender des Zentralausschusses (so hieß damals die ÖH-Bundesvertretung), in der Broschüre zum 60. Geburtstag der Österreichischen Hochschüler_innenschaft. Weiterlesen

force, power and violence

Dieser Post erschien zuerst in der März-Ausgabe (02/2015) des progress und wurde im März 2016 rückdatierend auf dieses Blog gepostet. Der Artikel war die Einleitung in das Dossier zum Thema Gewalt. Die Illustration ist von Janina Kepczynski, deren Webseite ihr hier und deren Facebookseite ihr hier findet.

stark sein
Der Begriff Gewalt kommt von dem althochdeutschen Wort „waltan“, was so viel wie „stark sein“ oder „beherrschen“ bedeutet. Im Allgemeinen werden damit Vorgänge, Handlungen, aber auch soziale Zusammenhänge bezeichnet, mit denen auf Menschen, Tiere und – der besorgte österreichische Umgang mit Fensterscheiben und Mistkübeln lässt es schon erahnen – Gegenstände eingewirkt werden kann. Und zwar so, dass diese beeinflusst, verändert oder geschädigt werden. Je nach Kontext kann mit Gewalt ein direkter Einfluss oder auch nur eine Machtquelle, wie beim Begriff „Gewaltentrennung“, gemeint sein. Im Englischen gibt es für diese unterschiedlichen Bedeutungen eigene Wörter: Wer mit Gewalt einen Nagel einschlägt, benutzt force, die Gewalt als Machtquelle wird power genannt.

Zwei Hände, die wie kämpfende Hunde geformt sind
(Illustration: Janina Kepczynski)

unterhaltsame Gewalt
Diskussionen über Gewaltdarstellungen in Filmen und Videospielen beherrschen regelmäßig Schlagzeilen, oft in Zusammenhang mit angeblich davon inspirierten nicht-virtuellen Gewalttaten. In Österreich hat jedes Bundesland sein eigenes Jugendschutzgesetz, was prinzipiell neun verschiedene Zulassungen von Filmen bedeuten könnte. In der Praxis prüft jedoch die Jugendmedienkommission des Bundesministeriums für Unterricht, Kunst und Kultur Filme und spricht eine Altersempfehlung aus, die von allen Bundesländern mit der Ausnahme Wiens übernommen wird. In der Hauptstadt sieht sich ein eigener Filmbeirat die Werke vor der Veröffentlichung an und gibt eine Altersempfehlung aus. Verpflichtend sind diese Empfehlungen jedoch weder bei Filmen noch bei Computerspielen. Anders sieht es in Deutschland aus: Dort wird von der Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle (USK) jedes Computerspiel durchgespielt, von unabhängigen Expert_innen geprüft und mit einer verbindlichen Altersfreigabe versehen. Weiterlesen

Einstürzende Neubauten

Dieser Post erschien zuerst in der Ausgabe 01/2015 des progress und wurde im März 2016 rückdatierend auf dieses Blog gepostet. Den Text habe ich gemeinsam mit Anne Schinko geschrieben, die Fotos sind von Mafalda Rakoš.

Von maroden Hörsälen bis zu herabfallenden Fassaden – Österreichs Unigebäude sind nicht gerade in Topform. Wer ist hier zuständig und wie viel kostet das Ganze eigentlich?
2. Jänner 2015: Vom „Learning Center“ der neuen WU fällt eine 80 Kilo schwere Betonplatte. Das Gleiche ist ein halbes Jahr zuvor – im Juli 2014 – schon einmal passiert. Der Campus der WU wurde erst im Herbst 2013 eingeweiht, nun sieht der Vorplatz der Bibliothek wieder wie eine Baustelle aus: Ein Gerüst soll vor weiteren herabstürzenden Fassadenelementen schützen, bis die Ursachen endgültig geklärt sind. Herabfallende Fassadenteile sind an Österreichs Universitäten nicht unbedingt eine Seltenheit: Im Herbst 2012 fiel etwa eine Fensterscheibe aus dem zweiten Stock des Türkenwirt-Gebäudes der Universität für Bodenkultur Wien (BOKU). Auch hier steht seitdem ein Gerüst, das die Studierenden vor ihrer eigenen Universität schützen soll. Und auch hier kam durch die fallende Fensterscheibe glücklicherweise niemand zu Schaden.

S_1_Cover_Credit_Mafalda Rakos_blogFoto: Mafalda Rakoš

Diese doch recht dramatischen Beispiele illustrieren, womit Studierende alltäglich konfrontiert sind: Österreichs Universitätsgebäude sind nicht in bestem Zustand. Zwar stürzen nicht ständig Betonplatten von allen Universitäten zu Boden, aber die Liste der Beschwerden ist doch lang: Sie reicht von zu wenig Lern- und Gruppenräumen über inadäquate Toiletten bis hin zu groben baulichen Mängeln, beispielsweise im Fall von Türen, die ständig kaputt gehen, weil sie nicht für die hohe Frequenz an ein- und ausgehenden Studierenden ausgelegt sind. Hinzu kommt, dass viele Universitätsgebäude nicht barrierefrei sind. Der Klassiker ist die Klage über zu kleine Hörsäle, die an manchen Hochschulen schon wenige Jahre nach ihrer Entstehung ertönt. Weiterlesen

Bio-Dinosaurier-Sackerl

Dieser Post erschien zuerst in der Dezember-Ausgabe (04/2014) des progress und wurde im März 2016 rückdatierend auf dieses Blog gepostet.

Naturschutz ist wichtig, da sind sich fast alle einig. Nur: Was genau soll da eigentlich geschützt werden?
Statt Plastiksackerln gibt es in manchen Supermärkten Taschen mit Aufdrucken wie „Umweltschutz ist für mich natürlich!“ zu kaufen. Dieses schlechte Wortspiel zeigt eine Reihe von Problemen auf, die uns begegnen, wenn wir uns näher mit dem Thema Umwelt- oder Naturschutz beschäftigen. Das Sackerl aus Kunststoff sei nicht umweltfreundlich und es sei vor allem nicht natürlich, im Gegensatz zu der Stofftasche oder dem biologisch abbaubaren Ersatzsackerl aus Maisstärke. Dabei besteht das Plastiksackerl genauso aus organischem Material wie das Stärkesackerl, nämlich aus Erdöl, das vor Jahrmillionen noch Dinosaurier und Urzeitpflanze war. Und bis aus der Maisstärke ein Einkaufssackerl werden kann, durchläuft sie viele komplizierte technische Prozesse – ähnlich wie das Erdöl, bevor es ein Plastiksackerl wird.

biodinosackerl(Illustration: Sandra Biondi)

Mit diesem einfachen Beispiel wird klar, dass die Trennung zwischen dem „Natürlichen“ und dem „Künstlichen“ nicht so simpel ist, wie sie auf den ersten Blick scheint. Zwar können wir uns beim Plastiksackerl darauf einigen, dass Erdöl eine endliche Ressource ist, die Herstellung viel Energie verbraucht, das Sackerl nicht verrottet und aus diesen Gründen abzulehnen ist. Aber was ist denn so schlimm daran, wenn in der Natur unzersetzte Plastiksackerl herumliegen? Weiterlesen

Studierendenvertretung à la Luxembourgeoise

Dieser Post erschien zuerst in der Ausgabe 03/2014 des progress und wurde im März 2016 rückdatierend auf dieses Blog gepostet.

Sie hat nur wenige aktive Mitglieder und die sind dazu noch über den Globus verstreut. Dennoch gelingt es der UNEL, tausende Studierende für Demonstrationen zu mobilisieren. Wir werfen einen Blick auf die luxemburgische Studierendenvertretung.
In einer Artikelserie wollen wir verschiedene Studierendenvertretungen, die neben der ÖH in der gemeinsamen europäischen Studierendenorganisation European Student‘s Union (ESU) vertreten sind, vorstellen. Wir fangen mit einem Land an, das bis vor zehn Jahren noch überhaupt keine Uni hatte: Luxemburg. Die Studierendenvertretung Union Nationale des Étudiant-e-s du Luxembourg (UNEL) ist dennoch schon beinahe ein Jahrhundert alt.

unel01_blog

25. April 2014, Luxemburg-Stadt. 17.000 Studierende und Schüler_innen demonstrieren gegen die geplanten Kürzungen der Studienbeihilfe. Innerhalb weniger Wochen wurde in sozialen Netzwerken und in Schulen für den „Streik“ mobilisiert. Die Demonstration ist ein voller Erfolg, die pittoreske Altstadt Luxemburgs platzt aus allen Nähten. Aus dem ganzen Land sind Schüler_innen und Studierende angereist, um ihren Unmut gegen die Reform der Studienbeihilfen, die im Gesetz mit der Nummer 6670 beschlossen werden sollen, kundzutun. Sprüche wie „Dir soot kierzen, mir soe stierzen“ (Ihr sagt kürzen, wir sagen stürzen) oder „Wem seng Bildung? – Eis Bildung!“ (Wessen Bildung – Unsere Bildung!) lassen erkennen, dass die Demonstrierenden von den -Protesten inspiriert wurden. Die ehemals großzügige Beihilfe, die fast alle Studierenden beziehen konnten, soll von der neuen sozialdemokratisch- liberal-grünen Regierung massiv gekürzt und in ein bürokratisches Ungetüm verwandelt werden. Es ist die erste Sparmaßnahme der Regierung, sie findet ausgerechnet im Bildungsbereich statt. Hinter den Protesten steht das „Streikkomitee 6670“, ein Zusammenschluss aus verschiedenen Studierenden- und Schüler_innenorganisationen. Eine der wichtigsten Organisationen in diesem Bündnis ist die UNEL, die nationale Union der luxemburgischen Studierenden. Weiterlesen

Ein Leben (fast) ohne Supermarkt

Dieser Post erschien zuerst in der Ausgabe 02/2014 des progress und wurde im März 2016 rückdatierend auf dieses Blog gepostet. Foto von Johanna Rauch.

Auf der Suche nach nachhaltigen und regionalen Lebensmitteln schließen sich immer mehr Menschen zu Foodcoops zusammen. progress hat sich angesehen, wie ein Leben fast ohne Supermarkt funktionieren kann.
Dienstagabend in einem Kellergeschoss im 15. Wiener Gemeindebezirk. In den Räumen des PerpetuuMobile 2.3 stapeln sich Kisten mit Gemüse, Getreide, Nudeln und Sojaprodukten. Dazwischen wuseln Menschen umher, vergleichen den Inhalt der Kisten mit Listen und wiegen Erdäpfel, Frühlingszwiebeln, Salat, Rüben und Pastinaken ab. Es ist Abholtag in der vegan food coop, einer von über 20 Foodcoops in Österreich. Gerade ist eine Lieferung eingetroffen, frisch vom Bauernhof.

foodcoop5_blog (Foto: © Johanna Rauch)

„Ich hatte sehr lange Zeit eine Biokiste, aber ich wollte dann noch einen Schritt weiter gehen. Ich wollte wissen, wo mein Essen herkommt“, erzählt Christina. Sie studiert an der BOKU und ist seit anderthalb Jahren Mitglied der vegan food coop. Der Kontakt zu Produzent_innen ist ihr besonders wichtig: „Ich kann hier wirklich sehen und nachprüfen, wie meine Lebensmittel angebaut werden. Wir organisieren öfters Reisen zu Bauernhöfen und können uns anschauen, wie die wirtschaften.“ Weiterlesen