Ich mache einen
Schritt. Und noch einen. Langsam, mit Bedacht, vorsichtig, um nicht
versehentlich auf eins der zerbrechlichen Gefäße zu treten, die ich
vor wenigen Minuten noch zertrümmern wollte. Ich gehe auf die Person
zu, die ich einst Ruth nannte. Genauer: Auf ihr wortwörtlich
strahlendes Antlitz, zu den gleißenden Augen, die mich anziehen,
obwohl sie mich verblenden. Ich weiß nicht einmal mehr, ob ich die
Person noch als Person erkenne oder ob sie für mich nur noch das
Licht ist, in das es mich – nunmehr vollständig Motte – zieht.
Immer noch starren
die Person, die ich einst Ruth nannte und ich uns an. Ich sehe ihr
Gesicht mittlerweile wieder, aber es ist viel zu hell, strahlend, als
hätte sie keine Löcher als Pupillen, sondern kleine
Neutronensterne, die mich verblenden. Ich bin wieder nicht im Stande,
von ihnen abzusehen. Ich fühle, wie mein Körper auf einmal merkt,
dass ich auf der Decke stehe, oder der Boden sich gedreht hat –
irgendetwas ist mit den Himmelsrichtungen und der Schwerkraft nicht
ganz in Ordnung. Mein Magen es hat jetzt auch gemerkt, und er fühlt
sich flau an. Oder ist flau geworden. Was ist das für ein Adjektiv,
was soll ich damit tun?
Als ich über alle möglichen Wirklichkeiten nachdachte
Ich habe das Gefühl,
der Raum müsste sich bald wieder verändern, ich und die Person, die
ich einst Ruth nannte, wir, wenn ich es denn wagen kann, von einem
„wir“ zu sprechen, müssten jeden Moment wieder woanders stehen.
Zurück in der Betonkathedrale oder dem Maschinenraum oder was ich
halt dafür hielt, zum Beispiel. Mir kommt das so lange vor, so fern,
dabei kann es sich nur um Stunden handeln. (In Wirklichkeit sind es
etwas mehr als zwei Wochen, aber wen interessiert schon die
Wirklichkeit?)
„Und was soll es dann bringen, unbelebte und unschuldige Objekte zu zerschlagen?“ „Du wolltest doch genau das gleiche tun. Du hattest doch auch einen Baseballschläger in der Hand! Du hattest doch genau den gleichen Plan?“ Meine letzte Anschuldigung klingt mehr nach einer Frage. Ich weiß nicht, ob ich wirklich Recht mit meiner Vermutung habe. Vielleicht wollte die Person, die ich einst Ruth nannte, auch einfach mich schlagen. Oder sich vor mir verteidigen. Es wäre ihr nicht einmal wirklich übelzunehmen.
„Wieso schweben da
zwei Baseballschläger in der Mitte des Raumes?“, fragt die Person,
die ich einst Ruth nannte. In einem Tonfall, der mir
unmissverständlich klar macht, dass es vor allem darum geht, sich
mit der Art der Frage über mich lustig zu machen.
„Ich weiß es auch
nicht. Ich weiß nicht einmal, warum du einen Baseballschläger dabei
hast. Du bist ja nicht die Person, die wütend ist. Das sollte doch
ich sein.“
Mein Gegenüber
grinst, das Grinsen friert auf ihrem Gesicht, dann entspannt sie ihre
Mimik und blickt mich wieder mit dem gleichen ernsten Blick an, den
sie spätestens seit wir im Porzellanladen sind, aufgesetzt hat.
„Oh,
ich sollte nicht wütend sein? Ich sollte nicht auf Porzellan
eindreschen wollen, bis nur noch Staub übrig ist? Als hätte ich
nicht gute Gründe, um genau so wütend so zu sein!“
Der
Tonfall ist aber nicht wütend. Die Person, die ich einst Ruth
nannte, spricht in einer ruhigen, salbungsvollen Stimme, die mich
umso mehr trifft. Natürlich hätte auch sie allen Grund, wütend zu
sein, so wie …
Der Raum dreht sich. Der Porzellanladen, wie ich ihn für mich
genannt habe, in Ermangelung eines besseren Namens, steht auf dem
Kopf. Ich falle nicht. Die Person, die ich einst Ruth nannte, fällt
nicht. Die Vasen und anderen zerbrechlichen Gefäße fallen nicht.
Nicht einmal die Flüssigkeit, die in manchen von ihnen steckt,
tropft heraus. Aber ich spüre, dass der Raum sich einmal um 180 Grad
gedreht hat, mein Vestibularapparat sendet das Signal an mein Hirn,
dass wir uns auf dem Kopf befinden. Und ein wenig habe ich das
Gefühl, dass mir das Blut aus den Füßen in den Kopf fließt, wo es
sich unangenehm ansammelt.
Mein
Baseballschläger schwebt schwerelos in der Mitte des Raumes. Ich
muss ihn losgelassen haben, als ich dachte, ich würde fallen, als
sich alles drehte. Ob die Person, die ich einst Ruth nannte, ihren
noch hat, sehe ich nicht.
„Was war
das?“
„Ich weiß es nicht.“
Die Person betont das
„Ich“ in einer Art und Weise, die mir absolut unmissverständlich
klar macht, dass ich es eigentlich wissen müsste, denn, so die
Unterstellung, immerhin spielte sich das hier ja alles in meiner
Vorstellung ab. Ich aber bin mir sicher, dass dies zumindest so etwas
ähnliches wie die Realität ist und mein Gegenüber deswegen auch
ein klein wenig Verantwortung dafür trägt, zu wissen, was zum
Teufel hier eigentlich passiert.
Als ich an eine dramatische Nacht im Januar 2006 dachte.
„Worauf wartest du eigentlich?“, fragt die Person, die ich einst Ruth nannte. Ich weiß es nicht. Aber ich will das nicht laut aussprechen, auch wenn es keinen Unterschied macht, weil sie jeden meiner Gedanken lesen kann, ohne sich auch nur anstrengen zu müssen.
Mit einem Male
erscheint mir meine Wut unglaublich sinnlos. Belanglos all diese
Möglichkeiten, Scherben zu produzieren. Der Raum ist still, und ich
weiß nicht, ob ich das angenehm finde oder mich nach einem
Störgeräusch sehne, das mich ablenkt. Als könnte ich die Leere des
vollgestellten Raumes mit Musik und Geräusch füllen, als würde das
auch nur irgendetwas ändern.
Ich hebe den
Baseballschläger, will mit ihm auf das Porzellan und Glas, das
überall im Raum steht, einschlagen. Ich will Scherben sehen, ich
will es klirren hören, will dass die Flüssigkeit herumspritzt. Und
dann will ich nochmal auf die Scherben einschlagen, als gäbe es
keine andere Tätigkeit auf der Welt, die sie mit Sinn erfüllt. Ich
will den Baseballschläger als Stößel benutzen, um die
Pozellansplittersplitter zu Staub zu zermahlen. Jeder Muskel meines
Körpers ist gespannt, mein Herz pumpt Adrenalin in jede Zelle, ich
hole zu dem ersten Schlag aus, aber ich verharre in der Bewegung.
Vielleicht ist das
der falsche Ausdruck. Ich bewege mich ja gerade nicht mehr, sondern
bin erstarrt, als wäre ich die berühmt-berüchtigte Salzsäule, von
der ich immer noch nicht genau weiß, was sie sein soll.
„Ich bin nicht
Medusa.“, sagt die Person, die ich einst Ruth nannte, mit trockener
Stimme.
Einige der Gefäße,
die in diesem Raum stehen, enthalten eine Flüssigkeit. Ich sehe das
nicht, aber ich rieche es. Der Geruch ist merkwürdig bekannt, obwohl
ich mich nicht erinnern kann, jemals eine Flüssigkeit gerochen zu
haben, die so roch. Ich blicke von der mächtigen, prachtvoll
verzierten Vase auf. Und sehe, dass die Person, die ich einst Ruth
nannte, mir gegenübersteht und mir geradewegs in die Augen schaut.
Ein bohrender, fordernder Blick, dem ich weder standhalten noch
ausweichen kann.
Und mit einem Male
denke ich wieder daran, wie Asphalt im Sommer riecht. Wie wie er in
Sommernächten duftet. Ich glaube, das ist ein Geruch, den nur
Großstädte kennen, oder in den Kleinstädten, Dörfern,
„Ortschaften“, in denen ich sonst lebte, regnet es immer viel zu
sehr, um überhaupt so einen Geruch entfalten zu können. Ein
weiterer Eintrag auf meiner schier unendlich langen Liste mit den
Dingen, die ich vermisse. Seit einigen Tagen denke ich immer wieder
daran, dass der Winter im Grunde genommen das Gegenteil einer
Jahreszeit ist. Wir harren aus, kollektiv, in der Hoffnung auf
bessere Zeiten.
„Und wieder bin
ich versucht, noch ein Ende dranzuhängen, noch eine dramatischere
Wendung als die vorige einzubauen. Wieder fällt mir nur dies ein:
eine Atombombe zu zünden.“
Die Person, die ich
einst Ruth nannte, grinst wieder. Die Erschrockenheit ist dennoch
nicht auf ihrem Gesicht gewichen. Ich halte das, angesichts der
gestaltswandlerischen Fähigkeiten, die diese Person besitzt – ich
bin mir sicher über das, was ich gesehen habe – für
bemerkenswert. Sie könnte sich das selbstgefälligste aller
möglichen Gesichter geben, aber sie bleibt beim Abbild roher
Emotion.
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