[Der Autor sitzt vor dem Bildschirm, löscht das Licht. Alles um den Text herum ist dunkel. Die Musik, god is an astronaut, vielleicht noch ein wenig lauter. Und dann lehnt sich der Autor zurück, ist mit den Gedanken wieder in der Badewanne. Der Text schreibt sich selbst.]
Wieso hatte sie ihn das alles gefragt? Wieso war sie freundlich, wieso stellte sie ihm solche Fragen? Sollte sie sich nicht bedroht fühlen und eifersüchtig ob seiner bloßen Anwesenheit hier sein? Er wusste, dass er so reagieren würde.
Er mied ihren Blick, schaute stattdessen auf den Grund seiner Teetasse. Ina mochte schwarzen Tee, sie trank nur diesen, in der kalten Jahreszeit oft literweise, hatte sie immer gesagt. Aber auch im Sommer hatte sie ihre Morgen so begonnen, noch vor der Morgentoilette.
Schritte im Treppenhaus. Nackte Füße auf Holzfußboden. Er sah Inas Füße wie in einem Film vor seinem inneren Auge, erinnerte sich genau daran, wie sie aussahen, wenn sie sie über diese Treppe, die er auch kannte, bewegten und wie sie, die hier jeden Quadratmillimeter kannte, alleine durch die Art ihrer Bewegungen die Herrschaft über dieses Haus bewies.
Er wusste, dass er die Konfrontation jetzt nicht mehr herauszögern konnte. Aber wieso war er jetzt noch hier? Wieso saß er mit seiner »Nachfolgerin« an einem Tisch und trank schweigend Tee? Er hätte schreien, toben, fluchen sollen, eine Szene machen, die Ina aus ihren sicherlich wohligen Träumen gerissen hätte – nur um dann wieder zu verschwinden, diesmal mit einer Flasche Tequila auf dem Beifahrersitz.
Das blutige Bild seiner eigenen Leiche in einem Autounfall zuckte für einen Moment vor seinem geistigen Auge. Er schüttelte sich wie nach einem zu großen Schluck hochprozentigem Alkohol.
Inas Freundin sah unschlüssig zu der geöffneten Küchentür. Sie überlegte wohl, ob sie die Überraschung ankündigen sollte oder nicht. Allem Anschein nach entschied sie sich für dagegen. Vielleicht wollte sie, dass Ina ihm eine Szene machte. Ihre Motive waren wie von Nebel umhüllt. Vielleicht hatte sie ihm deshalb Tee gekocht und ihm Fragen gestellt, um selbst wie im Wasserdampfnebel zu verschwinden, vor seinen Fragen zu flüchten. Er hatte ja nicht mal Gelegenheit gefunden, sich nach ihrem Namen zu erkundigen, so sehr hatte sie ihn überrannt.
Das Knarren der zweitletzten Stufe. Oder die zweite, wenn man hochstieg. Die Treppe zum Himmel knarrt auf der zweiten Stufe, hatte Ina ihm einmal während einer seiner ersten Besuche ins Ohr geflüstert. Es muss mitten in der Nacht gewesen sein. Einen Moment lang fragte er sich, was mehr schmerzte: Die Erinnerung oder das langsame Vergessen, bei dem alles neblig wurde, zu einem Brei aus Sätzen, Bildern, Sinneseindrücken, auf die man sich keinen Reim mehr machen konnte, die irgendwann keinen chronologischen Sinn mehr ergaben und schlussendlich zerbröckeltes wie uraltes, vergilbtes Pergament.

Ina übersprang die erste Stufe nicht, wie sie es in Momenten der Euphorie oft getan hatte. Dann war das Klatschen ihrer nackten Fußsohlen auf den glatten Dielen des Flures deutlich zu hören gewesen. Sie musste noch müde sein. Eine lange Liebesnacht? Wieso war ihre Freundin denn schon auf? Gleich nach diesem Gedanken tat er ihn wieder als dumm weg. Als müsse man als Liebespaar immer gleichlang schlafen.
Er hielt die Luft an. Zählte die Schritte.
»Guten Morgen, Maus!«
Und dann stand sie da, im Türrahmen, mit dem Blick, mit den er so oft in ihrem Gesicht gesehen hatte, den er so geliebt hatte. Es war Hingebung und Verliebtheit, vielleicht sogar ein wenig Libido in diesem Blick.
[Der Autor zündet ein Räucherstäbchen an, löscht wieder das Licht und nimmt sich vor, wie ein Irrer zu tippen. Ob es er schafft, auch den bereits geschriebenen Text zu überarbeiten? Außerdem Husten und ein wenig Halsweh.]
»Wir haben Besuch, Ina.«, antwortete die Angesprochene in einem ziemlich schroffen Tonfall.
Inas Blick änderte sich ziemlich schnell. Es war nicht Wut, sondern eher Trauer, die sich zeigte. Sie sah nicht glücklich aus.
»Was machst du denn hier?«, fragte sie, emotionslos, geradezu kalt, während ihre Freundin ihr Tee ausschenkte und sie sich setzte. Sie trug ein übergroßes T-Shirt und Boxershorts.
Was sollte er antworten? Er wusste ja selbst nicht einmal mehr, wieso er überhaupt noch hier war. Wahrscheinlich, um seine Liebe zu ihr zu gestehen – aber was für eine Liebe war das, und welche Ina liebte er? Denn er wusste, dass sie nicht mehr jene Person war, die in seinen schlaflosen Nächten in seinem Kopf herumgespuckt war, dieser mystifizierte Engel, der nichts mit der Realität zu tun hatte, sondern ein normaler Mensch aus Fleisch und Blut, mit seinen Schwächen und Stärken.
»Ich weiß es eigentlich selbst nicht.«
Seine Stimme zitterte.
»Ich bin die ganze Nacht gefahren, um dich zu sehen. Ich wusste nicht, dass du mittlerweile eine Freundin hast. Tut mir Leid. Ich hätte das nicht tun sollen, ich hätte nicht einfach so hier auftauchen sollen.«
Ina trank Tee, setzte ihre Tasse nieder. Ein Geräusch in der Stille der Küche, beinahe schon erlösend. Mit jeder Sekunde ihres Schweigens verhallten seine Wörter weiter, so, als ob er nie gesprochen hätte.
Schweigen. Zwischen ihm und Ina hatte es manchmal Situationen gegeben, in denen Schweigen wie ein Heilmittel gewirkt hatte. In den seltenen Fällen, in denen sie an das Ende eines Gespräches gelangt waren, alle möglichen Gedankenfäden abgesponnen hatten und alle Diskussionen geführt hatten – das war meistens nur am Ende einer langer Nacht der Fall gewesen, hatten sie sich angeschwiegen. Es war ein durchaus behagliches Schweigen gewesen, ganz anders als das, was jetzt herrschte.
Er erinnerte sich an eine Autofahrt, die mit viel Gespräch begonnen hatte, und dann, als jedes Wort zu schwer und jeder Satz zu lang erschienen hatte, war das Schweigen ihre Medizin gewesen. Sie hatte mitten im Satz aufgehört zu sprechen, als sie gemerkt hatte, dass sie sich nur noch wiederholten, und er hatte nichts mehr gesagt. Nicht einmal mehr Musik war gelaufen. Das Ende der Kassette, das Ende der Wörter, nur noch Stille und Motorenlärm.
Ina hatte später gesagt, sie brauche das Schweigen manchmal, einfach nur, um nicht das Gefühl zu bekommen, reden zu müssen. Und sie wäre glücklich darüber gewesen auch einfach einmal die Stille genießen zu können. Anfangs hatte er das Gefühl nicht uneingeschränkt geteilt, vor allem da ihr Abbrechen mitten im Satz ihn im ersten Moment irritiert hatte. Im Nachhinein hatte er das Gespräch mit sich selbst geführt, sich auf seine eigenen Gedankengänge während der Fahrt geantwortet.
Auf die Frage, woran sie dann während dem Schweigen gedacht hatte, hatte sie damals nur mit einem Schulterzucken antworten können. Sie hatte es nicht mehr gewusst. Wie weiße Flecken auf der Landkarte ihrer Erinnerung. Vielleicht hatte sie sich so sehr auf die Landschaft konzentriert, dass sie überhaupt nicht mehr gedacht hatte.
Sie schwiegen noch immer. Die Geräusche des Frühstücks brachten eine merkwürdige Banalität in die Situation, ohne einen von ihnen in die Normalität zurückzuholen. Während eines kurzen Augenblicks blickte er Ina in die Augen. Sie hielt seinem Blick stand.
Fast kam es ihm vor, als zählte sie innerlich die Sekunden.
Eins, Zwei, Drei, Vier, Fünf.
Dann senkte er wieder seinen Kopf und sah in die Tiefen seiner Teetasse.
Sie biss in ein Brötchen, um sich kurz danach einen Rest Haselnusscreme mit der Zunge vom Mundwinkel zu lecken. Fast hatte er grinsen müssen. Manche Dinge änderten sich nie.
»Du spinnst.«
Das war das erste Wort nach diesem langen Schweigen. Sie sprach es nicht wütend aus, sondern fast liebevoll, als würde sie ihn necken wollen.
Er starrte sie an, unfähig, irgendetwas zu antworten. Zuerst einmal, weil er nicht wusste, wie ihre Worte genau gemeint waren, und auch, weil er keine Ahnung hatte, wie er auf solch eine Äußerung, egal, wie sie gemeint war, reagieren sollte.
[Der Autor hat einen bösen Hustenanfall und denkt sich, er sollte aufhören, ständig seinen Zustand zu beschreiben.]
»Ich weiß überhaupt nicht, was ich sagen soll. Du meldest dich über Monate lang überhaupt nicht, wohl auch, weil wir gesagt haben, wir würden das mit dem Kontakt erst mal eine Weile ruhen lassen, und dann stehst du an einem verregneten Morgen hier in meiner Küche und erzählst mir, du seist die ganze Nacht zu mir gefahren und wüsstest selbst nicht, warum. Du spinnst. Aber ich kann dir nicht einmal wütend sein.«
»Du hättest aber guten Grund dazu. Ich bin einfach hierher gekommen, ohne mich anzumelden, störe euch beide beim Frühstück und erwarte auch noch, dass du mir die Antwort lieferst, wieso ich denn zu dir gekommen bin.«
Ina blickte ihn mit großen Augen an. Er mochte ihre Augen, besonders wenn sie irgendwelche Grimassen damit schnitt. Sie hatte eine besondere Art in der Beherrschung ihrer Mimik, was sie immer besonders ausdrucksstark erscheinen ließ.
»Ich kann dir nur sagen, was ich vermute. Ich denke mal, du bist noch nicht wirklich über diese lange Zeit und ihr abruptes, unschönes Ende hinweg. Genauso wenig wie ich. Und du hast wahrscheinlich keine Arme gefunden, in denen du Zuflucht suchen kannst. Und jetzt bist du gekommen, um mich erneut in den Arm nehmen zu können.«
Mit einem Male fühlte er sich sehr behaglich und zugleich merkwürdig unerwünscht auf diesem Stuhl in dieser Küche, die so voller Erinnerungen und Gewürze war. Er fühlte sich durchschaut und unverstanden zugleich.
(Photo cc by van Ort)