Jetzt dauert es bereits ungefähr einen Monat. Ich weiß nicht, wie ich damit umgehen will, denn ich merke es ja doch nur, wenn ich alleine bin, wenn ich darüber nachdenke, wenn ich meine Gedanken nicht auf anderes lenke. Ich komme mir immer noch unglaublich lächerlich vor damit, ich möchte immer noch jede Menge Ausreden erfinden. „Es ist auch ein Monat her, dass wir nicht mehr gesprochen haben.“
Unter
Beobachtung schreiben ist immer merkwürdig. Meistens können die
Menschen gar nicht auf mein Display sehen, oder nicht in mein
Notizbuch. Das ist gut, denn mit Schreiben verhält es sich wie mit
dieser merkwürdigen Theorie aus der Physik, dass sich Dinge
verändern, sobald sie beobachtet werden. Ich weiß nicht, ob das
nicht einfach auf alles zutrifft, was beobachtet wird. Verändere ich
mein Verhalten, wenn ich mich selbst beobachte? Ich beobachte mich
seit 96 Tagen selbst. In einer Form, die ich so noch nie praktiziert
habe. Es ist ein Experiment.
Das ist alles überhaupt nicht verwirrend. „Wer kommt überhaupt auf so eine Idee?“, fragt die Person, die ich einst Ruth nannte. „Ich“, antworte ich, „weil es nie genug Möglichkeiten gibt, sich vor der ganzen Welt (okay, es schauen vielleicht zwei Leute zu und die Kamera-Einstellung ist sowieso nicht sehr vorteilhaft) lächerlich zu machen.“ Die Person, die ich einst Ruth nannte, schüttelt den Kopf, als sei das überhaupt nicht klar, als könne sie meine Gedanken nicht nachvollziehen, wie sie es sonst kann.
„This
Adventure-Ready Hoodie Is Made From Coffee Grounds!“ begeistert
sich mein Facebook-Feed, während ich wie automatisch dadurch
scrolle. Mein Daumen kann die Bewegung auch machen, ohne dass ich
hinschaue, muscle memory genügt, ich bin ausnahmsweise nicht stolz
darauf. Mechanisch starre ich die Anzeige an, während die Person,
die ich einst Ruth nannte, mich mustert. Immer noch isst sie einen
Pfirsich, obwohl überhaupt keine Saison für Pfirsiche ist. Aber in
ihrer Hand wirken sie so saftig, so überaus reif und zuckrig, dass
ich auch einen Bissen will, obwohl ich gar nicht so genau weiß, ob
ich Pfirsichgeschmack eigentlich wirklich mag.
Ausgerechnet ein Pfirsich. Ich denke das nicht laut, aber das macht für die Person, die ich einst Ruth nannte, ja keinen Unterschied. Sie hört alles, was ich denke, sie kennt mich in- und auswendig, ich kann mich vor ihr nicht verstecken. Vielleicht will ich das auch nicht.
Meine Gedanken
rasen. Ich versuche, eine gute Replik auf jene Worte zu finden, die
die Person, die ich einst Ruth nannte, mir eben entgegengeschleudert
hat. Ihre Stimme war ruhig, beinahe sanft, aber jede Silbe fühlte
sich an wie ein Tennisball, der mit voller Wucht geschlagen den
falschen Weg findet und mir im Gesicht landete.
„Das klingt viel zu einfach. Es muss doch komplizierter sein!“ Meine Stimme klingt erregter, als ich möchte dass sie klingt.
Ich war immer schon
schlecht darin, meine Gefühle zu verstecken, mir ist immer alles ins
Gesicht geschrieben. Was ironisch ist, denn im Alter von zehn Jahren
hatte ich eine mysteriöse Krankheit, ausgelöst durch einen
Zeckenbiss (oder auch nicht), die mit einer partiellen
Gesichtslähmung einherging. Was dazu führte, dass ich in der
Folgezeit große Probleme damit hatte, meine Mimik zu kontrollieren.
Die logische Konsequenz davon sollte eigentlich ein resting
irgendetwas face sein, nicht ein genaues Abbild all meiner
Gefühlsregungen. Und dazu habe ich noch das Gefühl, überhaupt
nicht richtig auf Dinge reagieren zu können. Vielleicht hätte ich
doch Schauspieler werden sollen.
Als die Person, die ich einst Ruth nannte, mir Tee anbot.
„Möchtest du Tee?“ Die Person, die ich einst Ruth nannte, sitzt auf einem sterilen Designermöbel. Sitzen ist das falsche Wort. „Lümmeln“ wäre vermutlich angebrachter. Diese Betrachtung hält mich davon ab, mich zu wundern. Der Porzellanladen, er ist verschwunden. Oder vielmehr: Wir sind aus dem Porzellanladen verschwunden. Alles steht wieder gerade herum, die Schwerkraft beträgt exakt 9,807 m/s² und alles wirkt ruhig, vertraut, nicht bedrohlich. Vor dem Designermöbel steht ein ähnlich abstraktes Beistelltischchen, auf dem eine Kanne Tee und zwei Tassen stehen. Das Getränk hat eine einladende, rötliche Farbe. Wie ein Sonnenuntergang nach einem anstrengenden Tag Nichtstun am Strand.
„Und wieder bin
ich versucht, noch ein Ende dranzuhängen, noch eine dramatischere
Wendung als die vorige einzubauen. Wieder fällt mir nur dies ein:
eine Atombombe zu zünden.“
Die Person, die ich
einst Ruth nannte, grinst wieder. Die Erschrockenheit ist dennoch
nicht auf ihrem Gesicht gewichen. Ich halte das, angesichts der
gestaltswandlerischen Fähigkeiten, die diese Person besitzt – ich
bin mir sicher über das, was ich gesehen habe – für
bemerkenswert. Sie könnte sich das selbstgefälligste aller
möglichen Gesichter geben, aber sie bleibt beim Abbild roher
Emotion.
„Aber dieser Brunnen ist überhaupt kein Brunnen!“ Die Stimme der Person, die ich einst Ruth nannte, klingt ungewohnt. Wüsste ich es nicht besser, würde ich ihr Panik unterstellen. „Und wenn das hier nicht der Maschinenraum des Großen Seelenzeppelins ist? Warum sollte ich mir einbilden, in die Tiefe zu fahren, durch Wasser zu waten, um schlussendlich irgendwo zu landen, mit ich mehr als vertraut bin? Ich hätte diesen Ort doch gleich erkennen müssen!“ Meine Stimme hingegen zittert nicht mehr. Ich fühle mich sicher. Als wüsste ich, was ich tue.
Fun fact: Ich weiß
so gut wie nie, was ich tue. Also, natürlich weiß ich in den
meisten Fällen so halbwegs, was ich tun muss, um so zu wirken, als
wüsste ich ungefähr, was ich tue. Ich glaube auch, dass es den
allermeisten Leuten so geht. „Fake it till you make it“ halt. Das
ist vermutlich die größte Erkenntnis des Erwachsenwerdens: Niemand
weiß, wie die Dinge eigentlich gehen, alle tun nur so als ob und in
Wirklichkeit ist alles nur Theater. Ein Grund, weshalb ich mich so
weit wie möglich aus dem motorisierten Individualverkehr heraus
halte.