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Müllverbrennungsanlage Canossa

Fi sieht mich verständnislos an.

Canossa

Ich blicke verständnislos zurück, ziehe meine Mütze tiefer ins Gesicht, will gehen. Sie legt ihre Hände in mein Gesicht, drückt meine Mundwinkel nach oben, so dass ich lächele.
Ich muss an diese Party denken, auf die ich eigentlich nicht gehen wollte, weil ich mal wieder zu müde war. Auch da hat eine Person meine Mundwinkel nach oben gezogen, so dass es aussah, als würde ich lächeln. Danach hatte ich tatsächlich noch etwas Spaß auf der Tanzfläche. Als der DJ dann „Nein Mann“ spielte, sind wir gegangen. Oder vielmehr: Ich bin gegangen. Diesen verheerenden Nachhauseweg, den ich schon viel zu oft alleine gegangen bin. Das mit dem Abschleppen kann ich nämlich überhaupt nicht. Vielleicht bin ich auch zu blöd, mich abschleppen zu lassen.

Ich verlasse die Wohnung, ziehe abermals an meiner Mütze, die mir gut steht und von der ich immer das Gefühl habe, sie würde falsch sitzen. Ich stapfe durch den Schnee, der erst nächste Woche fallen wird. Zur Bushaltestelle. In meinem Mund eine Zigarette, obwohl ich eigentlich überhaupt nicht … Krampfhaft halte ich mich an ihr fest. Wie an einem Rettungsring.
Ich bin auf dem Weg zu Ruth. Ruth, die ich eigentlich schon vergessen hatte. In letzter Zeit war sie nicht mehr als ein Name auf meinem Handydisplay gewesen. Ohne Gesicht, ohne Stimme, nur Buchstaben in einem flüchtigen digitalen Speicher. Und nun bin ich auf dem Weg zu ihr, schaffe es kaum, meine Füße zu heben.

Der Bus lässt auf sich warten. Der Bus lässt immer auf sich warten. Manche Busse haben Spitznamen, werden „die rote Rakete“ genannt. Dieser Bus lässt nur auf sich warten. Als ich nach kaum vier Stationen wieder aussteige, wähne ich mich in einer anderen Welt, mindestens aber in einem anderem Land. Das hier könnte genauso gut ein kleines Dorf im unbekannten Osten Luxemburgs sein. Die Straßenschilder sprechen eine andere Sprache.

Ich war schon einmal hier. Eigentlich war ich schon viel zu oft hier. Ich kenne die Straßen, als sei ich sie eine Zeit meines Lebens jeden Tag gegangen. Dort haben wir damals Y. getroffen, dort hat Ruth mal Menschen den Weg erklärt, nicht ohne unabsichtlich einen Fehler dabei zu begehen. Unwillkürlich muss ich grinsen, obwohl mir gar nicht zum Grinsen zu Mute ist. Ich schleppe mich den Hügel hoch, von dem aus man über die ganze verdammte Stadt sieht. Wenn nicht gerade dicker Nebel die Sicht versperrt. Die Müllverbrennungsanlage (oder das Fernwärmekraftwerk, je nach Betrachtungsweise) Spittelau stößt bedrohlich ihre (oder seine, je nach Betrachtungsweise) ungefährlichen Dämpfe aus.

Ruth also.
Einen kurzen Moment erfasst mich eine Woge der Einsamkeit. Das Meer der Verdammnis umspült mich mit seinen eiskalten, harten Wellen, als ich in der Brandung stehe. Am Horizont das große Seelenzeppelin.
Ich lächele. Ganz ohne fremde Hilfe.

photo: Some rights reserved by sayimsorry

Hoffnung.

Regen tropft beständig auf mein Fenster. Ich habe ein Dachfenster, aber das habe ich sicherlich schon hundert Mal erwähnt. Ich höre immer und immer wieder »Von« von Sigur Rós‚ CD »Heim«. Es ist ein wunderbar ruhiges, melancholisches Lied. Ich erahne Landschaften, die ich noch nie gesehen habe.

Der leichte Regen störte seine Sicht nicht. Er mochte diese Landstraßen in der Nacht, er hätte ewig auf ihnen entlangfahren können. Und er hatte auch noch eine ganz schön weite Strecke vor sich. Die Musik, die das Radio spielte, entführte ihn in eine andere Wirklichkeit. Alles schien so real und gleichzeitig so künstlich, wie in einem hochauflösenden Film. Die Regentropfen. Er hatte noch nie so schöne Regentropfen gesehen. Ihr Trommeln schien mit der Musik zu harmonieren, ein Ganzes zu bilden. Trotzdem hatte er keine Mühe, sich auf die Straße zu konzentrieren. Am Rand tauchten hin und wieder Bäume auf, ansonsten war das Land leicht hügelig und die einzige Abwechslung von den Viehweiden waren die abgeernteten, stoppeligen Felder, die sich allenthalben abwechselten. Einmal ein einzelner Bauernhof, aber das war vor einer Viertelstunde gewesen, ansonsten keine Häuser.

Was hatte ihn dazu gebracht, mitten in der Nacht wie ein Irrer durch diese gottverlassene Gegend zu fahren?
Ein Mädchen natürlich. Sie. Der Regen trommelte weiter. Es gab hier keine Beleuchtung, die Straße und Umgebung war nur im fahlen Licht der Scheinwerfer zu sehen. Er hatte nicht schlafen können. Sein Körper hatte sich angefühlt wie auf Entzug. Noch immer spürte er die feinen kleinen Stiche auf dem Rücken, die er in solchen Situationen immer verspürte, seit seine Haut einmal nach dem Essen bei einem Italiener eine allergische Reaktion gezeigt hatte. Er hatte nie herausgefunden worauf er eigentlich allergisch war, denn der Arzt hatte ihm abgeraten, einen Test machen zu lassen.
cc by Ahmed Rabea

Seine Zigarette glimmte mit jedem Zug in der Dunkelheit auf. Er erinnerte sich daran, wie sie einmal ein Foto davon gemacht hatte. Das war letzten Sommer gewesen. Nur ein paar Monate her. Damals hatte die Welt ganz anders ausgesehen. Die Nächte waren längst nicht so dunkel, nass und kalt gewesen, sondern voller Blütenduft, Grillenzirpen und Poesie, erleuchtet von den Sternen. Er hatte das Foto noch irgendwo, wahrscheinlich bloß auf dem PC, denn er soweit er sich erinnern konnte, hatte er nur ihr ein Exemplar ausgedruckt. Man sah nicht viel auf dem Bild, nur das orangerote Glimmen seiner Zigarette und seine dunkle Silhouette, aber für sie war es die Erinnerung an eine dieser vielen Nächte gewesen, in denen sie durch diese gottverlassene Gegend gefahren waren, oft bis zum Morgengrauen, um sich gemeinsam den Sonnenaufgang anzusehen.

Er war hier nahe an der Grenze. Nicht nur geographisch, sondern auch in seinem Kopf. Eigentlich hatte er schon »ihr« Gebiet betreten, aber dennoch war die Landschaft hier so uniform, dass er nicht wirklich eine Erinnerung daran hatte, wann und wieso er schon mit ihr hier gewesen war. Er fuhr auch manchmal absichtlich Umwege, um dem Unausweichlichen noch ein wenig zu entgehen. Bald würde er so nahe bei ihr sein, dass die Erinnerungen sich nicht mehr verdrängen lassen würden.
Mit einer schnellen Handbewegung schmiss er die noch glühende Zigarette aus dem Fenster. Während dieses kurzes Augenblicks kam spürte er die Kälte dieser nassen Novembernacht, wie sie nur der Wetter in dieser Gegend hervorbringen konnte. Die Nadelstiche auf seiner Haut wurden deutlicher, als er erkannte, dass er gerade an einer Baumgruppe vorbeigefahren war, die den Eingang zu »ihrem Land« markierte.
Sein Atmen ging für einen Moment schneller, dann beruhigte er sich, stellte das Radio lauter, atmete tief ein und konzentrierte sich wieder auf die Straße.

Für einen Moment war sein Herz voller Hoffnung.

(Image cc by Ahmed Rabea)